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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Philosophischer Dogmatismus

und damit die dualistische Lehre stützen, so ist doch sehr fraglich', ob wir alle
die in der Körperwelt vorhandenen Kräfte wahrnehmen, ob nicht vielmehr
manche existieren, von denen wir nichts wissen, weil uns die Organe fehlen,
ihre Wirkungen zu erfassen; ein durch solche Unterscheidung gestützter Dualismus
könnte also zur Unterscheidung auch innerhalb der Körperwelt führen, die wir
zwar nicht vollführen können, die aber in Wirklichkeit doch bestände. Wichtiger
aber als dieser Einwand ist der, daß wir nie und nirgends die Kraft selber
wahrnehmen, sondern nur ihre Wirkung. Nicht die Kraft des Magneten ist
wahrnehmbar, sondern die Bewegung des Eisens nach ihm hin ist das, was
wir sehen und woraus wir auf die im Magneten vorhandene Kraft
schließen.

Und sollen wir denn nun andererseits ein Vorhandensein von geistigen
Kräften annehmen, wo wir Wirkungen von ihnen weder sehen noch hören noch
fühlen?

Das dualistische Dogma also läßt sich hiernach als eine wissenschaftlich
gesicherte Lehre nicht bezeichnen.

Dem Dualismus steht zunächst der Monismus gegenüber, das heißt die
philosophische Ansicht, daß Seele und Körper nur zwei verschiedene Erscheinungs¬
weisen eines und desselben Realen seien, indem nämlich dasselbe von außen
oder von innen durch die Sinne oder durch das Selbstbewußtsein aufgefaßt
werde. Danach gibt es also nur eine Substanz, oder besser nur eine Kraft,
die hier als Schwere, Kohäsion, Magnetismus erscheint, dort als Denken,
Fühlen und Wollen. Diese monistische Doktrin ist die älteste und am
klarsten und entschiedensten durch Spinoza vertreten. Ihr gegenüber läßt sich
nicht geltend machen, daß sie in sich Widersprüche, Übereilungen, Unklarheiten
enthält, um so mehr aber, daß sich aus ihr die bunte Vielgestaltigkeit der Welt
nicht verstehen läßt. Woher die Verschiedenheiten der ständig miteinander
ringenden Naturkräfte, der sich durchkreuzenden menschlichen Bestrebungen, die
Fülle unzähliger Gestalten, der Wechsel von Entstehen und Vergehen, Aufblühen
und Verwelken, wenn alles im letzten Grunde eine identische Kraft oder Substanz
ist? So löst auch der Monismus das große Rätsel nicht, ja es ist unklar, wie
von streng monistischer Weltauffassung aus die Lösung je gelingen sollte.

Dieses Bedenken hat schon früh zum Pluralismus geführt, das heißt der
Annahme mehrerer an sich, nicht bloß für unsere Auffassung verschiedener letzter
unveränderlicher Elemente, auf deren mehrfache Verbindung alles Werden und
Geschehen, alles anscheinende Vergehen und Entstehen zurückgeführt wird. Dieser
Pluralis gehört zum Materialismus, wenn die letzten Elemente als Teile der
vorausgesetzten Materie aufgefaßt werden und alle geistige Tätigkeit durch
Bewegungen dieser erklärt wird, er verträgt sich mit dem Dualismus, wenn er
auf die Körperwelt beschränkt wird, er nähert sich dem Monismus, wenn die
letzten Teile entweder als zugleich körperlich und geistig angenommen werden
oder wenigstens die Atomistik auf beide Gebiete gleichmäßig angewendet wird.


Philosophischer Dogmatismus

und damit die dualistische Lehre stützen, so ist doch sehr fraglich', ob wir alle
die in der Körperwelt vorhandenen Kräfte wahrnehmen, ob nicht vielmehr
manche existieren, von denen wir nichts wissen, weil uns die Organe fehlen,
ihre Wirkungen zu erfassen; ein durch solche Unterscheidung gestützter Dualismus
könnte also zur Unterscheidung auch innerhalb der Körperwelt führen, die wir
zwar nicht vollführen können, die aber in Wirklichkeit doch bestände. Wichtiger
aber als dieser Einwand ist der, daß wir nie und nirgends die Kraft selber
wahrnehmen, sondern nur ihre Wirkung. Nicht die Kraft des Magneten ist
wahrnehmbar, sondern die Bewegung des Eisens nach ihm hin ist das, was
wir sehen und woraus wir auf die im Magneten vorhandene Kraft
schließen.

Und sollen wir denn nun andererseits ein Vorhandensein von geistigen
Kräften annehmen, wo wir Wirkungen von ihnen weder sehen noch hören noch
fühlen?

Das dualistische Dogma also läßt sich hiernach als eine wissenschaftlich
gesicherte Lehre nicht bezeichnen.

Dem Dualismus steht zunächst der Monismus gegenüber, das heißt die
philosophische Ansicht, daß Seele und Körper nur zwei verschiedene Erscheinungs¬
weisen eines und desselben Realen seien, indem nämlich dasselbe von außen
oder von innen durch die Sinne oder durch das Selbstbewußtsein aufgefaßt
werde. Danach gibt es also nur eine Substanz, oder besser nur eine Kraft,
die hier als Schwere, Kohäsion, Magnetismus erscheint, dort als Denken,
Fühlen und Wollen. Diese monistische Doktrin ist die älteste und am
klarsten und entschiedensten durch Spinoza vertreten. Ihr gegenüber läßt sich
nicht geltend machen, daß sie in sich Widersprüche, Übereilungen, Unklarheiten
enthält, um so mehr aber, daß sich aus ihr die bunte Vielgestaltigkeit der Welt
nicht verstehen läßt. Woher die Verschiedenheiten der ständig miteinander
ringenden Naturkräfte, der sich durchkreuzenden menschlichen Bestrebungen, die
Fülle unzähliger Gestalten, der Wechsel von Entstehen und Vergehen, Aufblühen
und Verwelken, wenn alles im letzten Grunde eine identische Kraft oder Substanz
ist? So löst auch der Monismus das große Rätsel nicht, ja es ist unklar, wie
von streng monistischer Weltauffassung aus die Lösung je gelingen sollte.

Dieses Bedenken hat schon früh zum Pluralismus geführt, das heißt der
Annahme mehrerer an sich, nicht bloß für unsere Auffassung verschiedener letzter
unveränderlicher Elemente, auf deren mehrfache Verbindung alles Werden und
Geschehen, alles anscheinende Vergehen und Entstehen zurückgeführt wird. Dieser
Pluralis gehört zum Materialismus, wenn die letzten Elemente als Teile der
vorausgesetzten Materie aufgefaßt werden und alle geistige Tätigkeit durch
Bewegungen dieser erklärt wird, er verträgt sich mit dem Dualismus, wenn er
auf die Körperwelt beschränkt wird, er nähert sich dem Monismus, wenn die
letzten Teile entweder als zugleich körperlich und geistig angenommen werden
oder wenigstens die Atomistik auf beide Gebiete gleichmäßig angewendet wird.


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[0618] Philosophischer Dogmatismus und damit die dualistische Lehre stützen, so ist doch sehr fraglich', ob wir alle die in der Körperwelt vorhandenen Kräfte wahrnehmen, ob nicht vielmehr manche existieren, von denen wir nichts wissen, weil uns die Organe fehlen, ihre Wirkungen zu erfassen; ein durch solche Unterscheidung gestützter Dualismus könnte also zur Unterscheidung auch innerhalb der Körperwelt führen, die wir zwar nicht vollführen können, die aber in Wirklichkeit doch bestände. Wichtiger aber als dieser Einwand ist der, daß wir nie und nirgends die Kraft selber wahrnehmen, sondern nur ihre Wirkung. Nicht die Kraft des Magneten ist wahrnehmbar, sondern die Bewegung des Eisens nach ihm hin ist das, was wir sehen und woraus wir auf die im Magneten vorhandene Kraft schließen. Und sollen wir denn nun andererseits ein Vorhandensein von geistigen Kräften annehmen, wo wir Wirkungen von ihnen weder sehen noch hören noch fühlen? Das dualistische Dogma also läßt sich hiernach als eine wissenschaftlich gesicherte Lehre nicht bezeichnen. Dem Dualismus steht zunächst der Monismus gegenüber, das heißt die philosophische Ansicht, daß Seele und Körper nur zwei verschiedene Erscheinungs¬ weisen eines und desselben Realen seien, indem nämlich dasselbe von außen oder von innen durch die Sinne oder durch das Selbstbewußtsein aufgefaßt werde. Danach gibt es also nur eine Substanz, oder besser nur eine Kraft, die hier als Schwere, Kohäsion, Magnetismus erscheint, dort als Denken, Fühlen und Wollen. Diese monistische Doktrin ist die älteste und am klarsten und entschiedensten durch Spinoza vertreten. Ihr gegenüber läßt sich nicht geltend machen, daß sie in sich Widersprüche, Übereilungen, Unklarheiten enthält, um so mehr aber, daß sich aus ihr die bunte Vielgestaltigkeit der Welt nicht verstehen läßt. Woher die Verschiedenheiten der ständig miteinander ringenden Naturkräfte, der sich durchkreuzenden menschlichen Bestrebungen, die Fülle unzähliger Gestalten, der Wechsel von Entstehen und Vergehen, Aufblühen und Verwelken, wenn alles im letzten Grunde eine identische Kraft oder Substanz ist? So löst auch der Monismus das große Rätsel nicht, ja es ist unklar, wie von streng monistischer Weltauffassung aus die Lösung je gelingen sollte. Dieses Bedenken hat schon früh zum Pluralismus geführt, das heißt der Annahme mehrerer an sich, nicht bloß für unsere Auffassung verschiedener letzter unveränderlicher Elemente, auf deren mehrfache Verbindung alles Werden und Geschehen, alles anscheinende Vergehen und Entstehen zurückgeführt wird. Dieser Pluralis gehört zum Materialismus, wenn die letzten Elemente als Teile der vorausgesetzten Materie aufgefaßt werden und alle geistige Tätigkeit durch Bewegungen dieser erklärt wird, er verträgt sich mit dem Dualismus, wenn er auf die Körperwelt beschränkt wird, er nähert sich dem Monismus, wenn die letzten Teile entweder als zugleich körperlich und geistig angenommen werden oder wenigstens die Atomistik auf beide Gebiete gleichmäßig angewendet wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/618>, abgerufen am 03.07.2024.