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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Philosophischer Dogmatismus

Kraft sei, nur daß Schopenhauer das hier allein Klarheit bringende Merkmal
der Raum- und Zeiterfüllung wegdenken möchte; oder wenn die Bezeichnung
"zum Leben" etwas Neues bringen soll, so kann sie nur auf einen Zweck hin¬
weisen, und diese teleologische Annahme gehört an: wenigsten hinein in eine
Philosophie, die nicht einmal die Kausalität als etwas objektiv Vorhandenes
gelten läßt. Also auch die idealistische Theorie führt weder in ihrer Reinheit,
noch mit einem erzwungenen Realismus verbunden, wie bei Schopenhauer, zu
einem die Welt erklärenden, widerspruchsfreien Dogma und zu einer Lösung
der uns beschäftigenden Fragen.

Nimmt man nun noch die Schwierigkeit hinzu, die in der räumlich un¬
endlich aufgefaßten Welt nicht minder liegt wie in der endlich gedachten, weil
in einem Falle Körperliches als unbegrenzt, im anderen die große unermeßliche
Welt doch als verschwindend dem unendlichen Raum gegenüber angenommen
werden muß, nimmt man in die kosmologische Frage auch noch diese Schwierigkeit
hinein, so scheint skeptisches Verhalten gegen alle bisherigen dogmatischen Lösungen
der Standpunkt zu sein, den philosophische Besonnenheit gebietet. Solches Verhalten
ist keine Überhebung all diesen scharfsinnigen Lösungsversuchen gegenüber.

Das besprochene kosmologische Problem aber, so sehr es auch den Menschen¬
geist anzieht, ist nicht derart, daß wir bei der Erwartung seiner etwaigen Lösung
mit allen Kräften unserer Seele beteiligt wären. Mag es ungelöst bleiben,
mag eine spätere, das Denken völlig befriedigende Antwort ausfallen, wie sie
wolle: der Friede der Menschenseele, ihre religiöse Empfindung würde voraus¬
sichtlich davon unberührt bleiben. Aber es gibt andere philosophische Fragen,
die entweder ebenso ungelöst wie diese oder in einer mit unserem innersten
Wesen im Widerspruche stehenden Weise beantwortet, unsere Seele auf das
tiefste bewegen. Zu der ersten Klasse gehört die Frage nach dem letzten Grunde
und nach der Lenkung aller Weltbegebenheiten, zur zweiten die nach der Freiheit
des menschlichen Willens. Die Existenz Gottes ist bisher noch von keinem
Philosophen bewiesen, von keinem ist anderseits der Beweis gebracht, daß Gott
nicht existiere. Dagegen ist die Unfreiheit des menschlichen Willens als einzige
mit dem Kausalgesetz im Einklang stehende Tatsache mit so vollwichtigen Gründen
dargetan, daß ein Zweifel nicht mehr möglich ist. Dort besteht also eine Lücke in der
Gedankenwelt, hier eine scheinbar unumstößliche Wahrheit, die alle Moral aufhebt.

Demgegenüber hat sich stets und bei allen Philosophen das Gefühl pro¬
testierend und ergänzend verhalten. Das Gefühl protestiert gegen den Atheismus;
wir fühlen die Unwahrheit einer Weltanschauung, nach der die geordnete
Bewegung der Himmelskörper, der kunstreiche Bau der Organismen, die genialsten
Schöpfungen des Menschengeistes ihre letzte Erklärung finden sollen in zweckloser
Gruppierung von Atomen. Dagegen erhebt das Gefühl Protest und spornt das
Denken immer wieder an, es möge ihm eine befriedigende teleologische Welt¬
anschauung suchen. Der erste Philosoph, von dem wir wissen, hat den Satz
gesprochen: "Alles ist voll von Göttern". Soll der letzte damit aufhören, daß


Philosophischer Dogmatismus

Kraft sei, nur daß Schopenhauer das hier allein Klarheit bringende Merkmal
der Raum- und Zeiterfüllung wegdenken möchte; oder wenn die Bezeichnung
„zum Leben" etwas Neues bringen soll, so kann sie nur auf einen Zweck hin¬
weisen, und diese teleologische Annahme gehört an: wenigsten hinein in eine
Philosophie, die nicht einmal die Kausalität als etwas objektiv Vorhandenes
gelten läßt. Also auch die idealistische Theorie führt weder in ihrer Reinheit,
noch mit einem erzwungenen Realismus verbunden, wie bei Schopenhauer, zu
einem die Welt erklärenden, widerspruchsfreien Dogma und zu einer Lösung
der uns beschäftigenden Fragen.

Nimmt man nun noch die Schwierigkeit hinzu, die in der räumlich un¬
endlich aufgefaßten Welt nicht minder liegt wie in der endlich gedachten, weil
in einem Falle Körperliches als unbegrenzt, im anderen die große unermeßliche
Welt doch als verschwindend dem unendlichen Raum gegenüber angenommen
werden muß, nimmt man in die kosmologische Frage auch noch diese Schwierigkeit
hinein, so scheint skeptisches Verhalten gegen alle bisherigen dogmatischen Lösungen
der Standpunkt zu sein, den philosophische Besonnenheit gebietet. Solches Verhalten
ist keine Überhebung all diesen scharfsinnigen Lösungsversuchen gegenüber.

Das besprochene kosmologische Problem aber, so sehr es auch den Menschen¬
geist anzieht, ist nicht derart, daß wir bei der Erwartung seiner etwaigen Lösung
mit allen Kräften unserer Seele beteiligt wären. Mag es ungelöst bleiben,
mag eine spätere, das Denken völlig befriedigende Antwort ausfallen, wie sie
wolle: der Friede der Menschenseele, ihre religiöse Empfindung würde voraus¬
sichtlich davon unberührt bleiben. Aber es gibt andere philosophische Fragen,
die entweder ebenso ungelöst wie diese oder in einer mit unserem innersten
Wesen im Widerspruche stehenden Weise beantwortet, unsere Seele auf das
tiefste bewegen. Zu der ersten Klasse gehört die Frage nach dem letzten Grunde
und nach der Lenkung aller Weltbegebenheiten, zur zweiten die nach der Freiheit
des menschlichen Willens. Die Existenz Gottes ist bisher noch von keinem
Philosophen bewiesen, von keinem ist anderseits der Beweis gebracht, daß Gott
nicht existiere. Dagegen ist die Unfreiheit des menschlichen Willens als einzige
mit dem Kausalgesetz im Einklang stehende Tatsache mit so vollwichtigen Gründen
dargetan, daß ein Zweifel nicht mehr möglich ist. Dort besteht also eine Lücke in der
Gedankenwelt, hier eine scheinbar unumstößliche Wahrheit, die alle Moral aufhebt.

Demgegenüber hat sich stets und bei allen Philosophen das Gefühl pro¬
testierend und ergänzend verhalten. Das Gefühl protestiert gegen den Atheismus;
wir fühlen die Unwahrheit einer Weltanschauung, nach der die geordnete
Bewegung der Himmelskörper, der kunstreiche Bau der Organismen, die genialsten
Schöpfungen des Menschengeistes ihre letzte Erklärung finden sollen in zweckloser
Gruppierung von Atomen. Dagegen erhebt das Gefühl Protest und spornt das
Denken immer wieder an, es möge ihm eine befriedigende teleologische Welt¬
anschauung suchen. Der erste Philosoph, von dem wir wissen, hat den Satz
gesprochen: „Alles ist voll von Göttern". Soll der letzte damit aufhören, daß


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[0620] Philosophischer Dogmatismus Kraft sei, nur daß Schopenhauer das hier allein Klarheit bringende Merkmal der Raum- und Zeiterfüllung wegdenken möchte; oder wenn die Bezeichnung „zum Leben" etwas Neues bringen soll, so kann sie nur auf einen Zweck hin¬ weisen, und diese teleologische Annahme gehört an: wenigsten hinein in eine Philosophie, die nicht einmal die Kausalität als etwas objektiv Vorhandenes gelten läßt. Also auch die idealistische Theorie führt weder in ihrer Reinheit, noch mit einem erzwungenen Realismus verbunden, wie bei Schopenhauer, zu einem die Welt erklärenden, widerspruchsfreien Dogma und zu einer Lösung der uns beschäftigenden Fragen. Nimmt man nun noch die Schwierigkeit hinzu, die in der räumlich un¬ endlich aufgefaßten Welt nicht minder liegt wie in der endlich gedachten, weil in einem Falle Körperliches als unbegrenzt, im anderen die große unermeßliche Welt doch als verschwindend dem unendlichen Raum gegenüber angenommen werden muß, nimmt man in die kosmologische Frage auch noch diese Schwierigkeit hinein, so scheint skeptisches Verhalten gegen alle bisherigen dogmatischen Lösungen der Standpunkt zu sein, den philosophische Besonnenheit gebietet. Solches Verhalten ist keine Überhebung all diesen scharfsinnigen Lösungsversuchen gegenüber. Das besprochene kosmologische Problem aber, so sehr es auch den Menschen¬ geist anzieht, ist nicht derart, daß wir bei der Erwartung seiner etwaigen Lösung mit allen Kräften unserer Seele beteiligt wären. Mag es ungelöst bleiben, mag eine spätere, das Denken völlig befriedigende Antwort ausfallen, wie sie wolle: der Friede der Menschenseele, ihre religiöse Empfindung würde voraus¬ sichtlich davon unberührt bleiben. Aber es gibt andere philosophische Fragen, die entweder ebenso ungelöst wie diese oder in einer mit unserem innersten Wesen im Widerspruche stehenden Weise beantwortet, unsere Seele auf das tiefste bewegen. Zu der ersten Klasse gehört die Frage nach dem letzten Grunde und nach der Lenkung aller Weltbegebenheiten, zur zweiten die nach der Freiheit des menschlichen Willens. Die Existenz Gottes ist bisher noch von keinem Philosophen bewiesen, von keinem ist anderseits der Beweis gebracht, daß Gott nicht existiere. Dagegen ist die Unfreiheit des menschlichen Willens als einzige mit dem Kausalgesetz im Einklang stehende Tatsache mit so vollwichtigen Gründen dargetan, daß ein Zweifel nicht mehr möglich ist. Dort besteht also eine Lücke in der Gedankenwelt, hier eine scheinbar unumstößliche Wahrheit, die alle Moral aufhebt. Demgegenüber hat sich stets und bei allen Philosophen das Gefühl pro¬ testierend und ergänzend verhalten. Das Gefühl protestiert gegen den Atheismus; wir fühlen die Unwahrheit einer Weltanschauung, nach der die geordnete Bewegung der Himmelskörper, der kunstreiche Bau der Organismen, die genialsten Schöpfungen des Menschengeistes ihre letzte Erklärung finden sollen in zweckloser Gruppierung von Atomen. Dagegen erhebt das Gefühl Protest und spornt das Denken immer wieder an, es möge ihm eine befriedigende teleologische Welt¬ anschauung suchen. Der erste Philosoph, von dem wir wissen, hat den Satz gesprochen: „Alles ist voll von Göttern". Soll der letzte damit aufhören, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/620>, abgerufen am 22.07.2024.