Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Philosophischer Dogmatismus

Diese Frage ist ihrer Natur nach vermutlich nie zu beantworten, jedenfalls
ist sie bis heute, wenn man nicht Redensarten als Erkenntnisse gelten lassen
will, unbeantwortet; und aus diesem Grunde ist der Dogmatismus der Mate¬
rialisten nicht annehmbar. Die geistigen Vorgänge sind nicht erklärt und ver¬
mutlich nie zu erklären aus anderen in der Sinnenwelt uns bekannten oder
noch zu erforschenden.

Mit der Verwerfung des Materialismus ist aber keineswegs der Dualismus
gerechtfertigt, das heißt die Annahme, daß die Welt aus zwei ganz heterogenen
Bestandteilen, dem körperlichen und dem geistigen, bestehe. Daß wir weder
körperliche noch geistige Substanzen gelten lassen können, ist schon erörtert und
auch bewiesen. Nennt man nun körperliche Dinge Komplexe von Kräften,
welche einen Raum ausfüllen, und soll das Geistige dazu einen scharfen Gegensatz
bilden, so wird der Gegensatz nicht durch Negierung des Begriffes "Kraft", die
ja sicherlich auch vom Geistigen ausgesagt werden muß, sondern nur durch
Negierung des Begriffes "Raumerfüllung" gefunden werden. Die Menschen¬
seele freilich ließe sich so fassen und ist so gefaßt worden von Cartesius, von
Leibniz, von der Herbartschen Schule, nämlich als unausgedehnte, als punktuelle
Kraft an einen bestimmten Raum im lebenden Menschen zwar unleugbar
gebunden, aber selber unräumlich, unausgedehnt, wobei freilich die Schwierigkeit
ungelöst bleibt, wie in dem Unausgedehnten Vorstellungen des Ausgedehnten
entstehen können. Man mag für die Menschenseele diese Form der Existenz
zugeben; wie verhält man sich aber auf diesem dualistischen Standpunkt dem,
wie man sich ihn doch vorstellen muß, allen Raum erfüllenden und durch¬
dringenden, allgegenwärtigen Gottesgeiste gegenüber? Soll man auch hier das
Merkmal der Raumerfüllung wegdenken? Welche Denknotwendigkeit oder welche
Erfahrung treibt überhaupt dazu, von der geistigen Kraft das Merkmal der
Raumerfüllung auszuschließen und ihr Punktualität u. tgi. in. zuzuschreiben?
Und wie. wenn nun Philosophen wie Fechner recht behalten, die alles Körper¬
liche aus Atomen, als raumlose und punktuelle Wesen gedacht, erklären wollen,
und die Seele nicht auf ein Atom einschränken, wo bliebe dann der metaphysische
Unterschied zwischen Körperlichem und Geistigen? Daß wie in der Körperwelt
große Unterschiede in der Art der Wirkung, in dem Wert des Gewirktem
zwischen den einzelnen Kräften sind, so der Vorzug der geistigen Kraft vor
allen übrigen Kräften ein unbeschreiblich großer ist, haben selbst die Materialisten
nie geleugnet. Und wenn der Naturforscher noch nicht imstande ist, alle Kräfte,
deren Wirkungen er beobachtet und berechnet, auf eine zurückzuführen, und
dennoch an der Einheit der ganzen Natur festhält, warum soll der Philosoph
außer der großen Verschiedenheit der Wirkungen, die sich im Geistigen zeigen,
noch eine solche Verschiedenheit annehmen, durch welche das Universum in zwei
disparate Teile auseinander fällt? Warum soll Raum erfüllend es nicht denken
können, warum muß das Denkende etwas Punktuelles sein? Will man aber
unterscheiden zwischen sinnlich wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Kräften


Philosophischer Dogmatismus

Diese Frage ist ihrer Natur nach vermutlich nie zu beantworten, jedenfalls
ist sie bis heute, wenn man nicht Redensarten als Erkenntnisse gelten lassen
will, unbeantwortet; und aus diesem Grunde ist der Dogmatismus der Mate¬
rialisten nicht annehmbar. Die geistigen Vorgänge sind nicht erklärt und ver¬
mutlich nie zu erklären aus anderen in der Sinnenwelt uns bekannten oder
noch zu erforschenden.

Mit der Verwerfung des Materialismus ist aber keineswegs der Dualismus
gerechtfertigt, das heißt die Annahme, daß die Welt aus zwei ganz heterogenen
Bestandteilen, dem körperlichen und dem geistigen, bestehe. Daß wir weder
körperliche noch geistige Substanzen gelten lassen können, ist schon erörtert und
auch bewiesen. Nennt man nun körperliche Dinge Komplexe von Kräften,
welche einen Raum ausfüllen, und soll das Geistige dazu einen scharfen Gegensatz
bilden, so wird der Gegensatz nicht durch Negierung des Begriffes „Kraft", die
ja sicherlich auch vom Geistigen ausgesagt werden muß, sondern nur durch
Negierung des Begriffes „Raumerfüllung" gefunden werden. Die Menschen¬
seele freilich ließe sich so fassen und ist so gefaßt worden von Cartesius, von
Leibniz, von der Herbartschen Schule, nämlich als unausgedehnte, als punktuelle
Kraft an einen bestimmten Raum im lebenden Menschen zwar unleugbar
gebunden, aber selber unräumlich, unausgedehnt, wobei freilich die Schwierigkeit
ungelöst bleibt, wie in dem Unausgedehnten Vorstellungen des Ausgedehnten
entstehen können. Man mag für die Menschenseele diese Form der Existenz
zugeben; wie verhält man sich aber auf diesem dualistischen Standpunkt dem,
wie man sich ihn doch vorstellen muß, allen Raum erfüllenden und durch¬
dringenden, allgegenwärtigen Gottesgeiste gegenüber? Soll man auch hier das
Merkmal der Raumerfüllung wegdenken? Welche Denknotwendigkeit oder welche
Erfahrung treibt überhaupt dazu, von der geistigen Kraft das Merkmal der
Raumerfüllung auszuschließen und ihr Punktualität u. tgi. in. zuzuschreiben?
Und wie. wenn nun Philosophen wie Fechner recht behalten, die alles Körper¬
liche aus Atomen, als raumlose und punktuelle Wesen gedacht, erklären wollen,
und die Seele nicht auf ein Atom einschränken, wo bliebe dann der metaphysische
Unterschied zwischen Körperlichem und Geistigen? Daß wie in der Körperwelt
große Unterschiede in der Art der Wirkung, in dem Wert des Gewirktem
zwischen den einzelnen Kräften sind, so der Vorzug der geistigen Kraft vor
allen übrigen Kräften ein unbeschreiblich großer ist, haben selbst die Materialisten
nie geleugnet. Und wenn der Naturforscher noch nicht imstande ist, alle Kräfte,
deren Wirkungen er beobachtet und berechnet, auf eine zurückzuführen, und
dennoch an der Einheit der ganzen Natur festhält, warum soll der Philosoph
außer der großen Verschiedenheit der Wirkungen, die sich im Geistigen zeigen,
noch eine solche Verschiedenheit annehmen, durch welche das Universum in zwei
disparate Teile auseinander fällt? Warum soll Raum erfüllend es nicht denken
können, warum muß das Denkende etwas Punktuelles sein? Will man aber
unterscheiden zwischen sinnlich wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Kräften


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0617" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317568"/>
          <fw type="header" place="top"> Philosophischer Dogmatismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2963"> Diese Frage ist ihrer Natur nach vermutlich nie zu beantworten, jedenfalls<lb/>
ist sie bis heute, wenn man nicht Redensarten als Erkenntnisse gelten lassen<lb/>
will, unbeantwortet; und aus diesem Grunde ist der Dogmatismus der Mate¬<lb/>
rialisten nicht annehmbar. Die geistigen Vorgänge sind nicht erklärt und ver¬<lb/>
mutlich nie zu erklären aus anderen in der Sinnenwelt uns bekannten oder<lb/>
noch zu erforschenden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2964" next="#ID_2965"> Mit der Verwerfung des Materialismus ist aber keineswegs der Dualismus<lb/>
gerechtfertigt, das heißt die Annahme, daß die Welt aus zwei ganz heterogenen<lb/>
Bestandteilen, dem körperlichen und dem geistigen, bestehe.  Daß wir weder<lb/>
körperliche noch geistige Substanzen gelten lassen können, ist schon erörtert und<lb/>
auch bewiesen.  Nennt man nun körperliche Dinge Komplexe von Kräften,<lb/>
welche einen Raum ausfüllen, und soll das Geistige dazu einen scharfen Gegensatz<lb/>
bilden, so wird der Gegensatz nicht durch Negierung des Begriffes &#x201E;Kraft", die<lb/>
ja sicherlich auch vom Geistigen ausgesagt werden muß, sondern nur durch<lb/>
Negierung des Begriffes &#x201E;Raumerfüllung" gefunden werden.  Die Menschen¬<lb/>
seele freilich ließe sich so fassen und ist so gefaßt worden von Cartesius, von<lb/>
Leibniz, von der Herbartschen Schule, nämlich als unausgedehnte, als punktuelle<lb/>
Kraft an einen bestimmten Raum im lebenden Menschen zwar unleugbar<lb/>
gebunden, aber selber unräumlich, unausgedehnt, wobei freilich die Schwierigkeit<lb/>
ungelöst bleibt, wie in dem Unausgedehnten Vorstellungen des Ausgedehnten<lb/>
entstehen können. Man mag für die Menschenseele diese Form der Existenz<lb/>
zugeben; wie verhält man sich aber auf diesem dualistischen Standpunkt dem,<lb/>
wie man sich ihn doch vorstellen muß, allen Raum erfüllenden und durch¬<lb/>
dringenden, allgegenwärtigen Gottesgeiste gegenüber? Soll man auch hier das<lb/>
Merkmal der Raumerfüllung wegdenken? Welche Denknotwendigkeit oder welche<lb/>
Erfahrung treibt überhaupt dazu, von der geistigen Kraft das Merkmal der<lb/>
Raumerfüllung auszuschließen und ihr Punktualität u. tgi. in. zuzuschreiben?<lb/>
Und wie. wenn nun Philosophen wie Fechner recht behalten, die alles Körper¬<lb/>
liche aus Atomen, als raumlose und punktuelle Wesen gedacht, erklären wollen,<lb/>
und die Seele nicht auf ein Atom einschränken, wo bliebe dann der metaphysische<lb/>
Unterschied zwischen Körperlichem und Geistigen? Daß wie in der Körperwelt<lb/>
große Unterschiede in der Art der Wirkung, in dem Wert des Gewirktem<lb/>
zwischen den einzelnen Kräften sind, so der Vorzug der geistigen Kraft vor<lb/>
allen übrigen Kräften ein unbeschreiblich großer ist, haben selbst die Materialisten<lb/>
nie geleugnet. Und wenn der Naturforscher noch nicht imstande ist, alle Kräfte,<lb/>
deren Wirkungen er beobachtet und berechnet, auf eine zurückzuführen, und<lb/>
dennoch an der Einheit der ganzen Natur festhält, warum soll der Philosoph<lb/>
außer der großen Verschiedenheit der Wirkungen, die sich im Geistigen zeigen,<lb/>
noch eine solche Verschiedenheit annehmen, durch welche das Universum in zwei<lb/>
disparate Teile auseinander fällt?  Warum soll Raum erfüllend es nicht denken<lb/>
können, warum muß das Denkende etwas Punktuelles sein? Will man aber<lb/>
unterscheiden zwischen sinnlich wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Kräften</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0617] Philosophischer Dogmatismus Diese Frage ist ihrer Natur nach vermutlich nie zu beantworten, jedenfalls ist sie bis heute, wenn man nicht Redensarten als Erkenntnisse gelten lassen will, unbeantwortet; und aus diesem Grunde ist der Dogmatismus der Mate¬ rialisten nicht annehmbar. Die geistigen Vorgänge sind nicht erklärt und ver¬ mutlich nie zu erklären aus anderen in der Sinnenwelt uns bekannten oder noch zu erforschenden. Mit der Verwerfung des Materialismus ist aber keineswegs der Dualismus gerechtfertigt, das heißt die Annahme, daß die Welt aus zwei ganz heterogenen Bestandteilen, dem körperlichen und dem geistigen, bestehe. Daß wir weder körperliche noch geistige Substanzen gelten lassen können, ist schon erörtert und auch bewiesen. Nennt man nun körperliche Dinge Komplexe von Kräften, welche einen Raum ausfüllen, und soll das Geistige dazu einen scharfen Gegensatz bilden, so wird der Gegensatz nicht durch Negierung des Begriffes „Kraft", die ja sicherlich auch vom Geistigen ausgesagt werden muß, sondern nur durch Negierung des Begriffes „Raumerfüllung" gefunden werden. Die Menschen¬ seele freilich ließe sich so fassen und ist so gefaßt worden von Cartesius, von Leibniz, von der Herbartschen Schule, nämlich als unausgedehnte, als punktuelle Kraft an einen bestimmten Raum im lebenden Menschen zwar unleugbar gebunden, aber selber unräumlich, unausgedehnt, wobei freilich die Schwierigkeit ungelöst bleibt, wie in dem Unausgedehnten Vorstellungen des Ausgedehnten entstehen können. Man mag für die Menschenseele diese Form der Existenz zugeben; wie verhält man sich aber auf diesem dualistischen Standpunkt dem, wie man sich ihn doch vorstellen muß, allen Raum erfüllenden und durch¬ dringenden, allgegenwärtigen Gottesgeiste gegenüber? Soll man auch hier das Merkmal der Raumerfüllung wegdenken? Welche Denknotwendigkeit oder welche Erfahrung treibt überhaupt dazu, von der geistigen Kraft das Merkmal der Raumerfüllung auszuschließen und ihr Punktualität u. tgi. in. zuzuschreiben? Und wie. wenn nun Philosophen wie Fechner recht behalten, die alles Körper¬ liche aus Atomen, als raumlose und punktuelle Wesen gedacht, erklären wollen, und die Seele nicht auf ein Atom einschränken, wo bliebe dann der metaphysische Unterschied zwischen Körperlichem und Geistigen? Daß wie in der Körperwelt große Unterschiede in der Art der Wirkung, in dem Wert des Gewirktem zwischen den einzelnen Kräften sind, so der Vorzug der geistigen Kraft vor allen übrigen Kräften ein unbeschreiblich großer ist, haben selbst die Materialisten nie geleugnet. Und wenn der Naturforscher noch nicht imstande ist, alle Kräfte, deren Wirkungen er beobachtet und berechnet, auf eine zurückzuführen, und dennoch an der Einheit der ganzen Natur festhält, warum soll der Philosoph außer der großen Verschiedenheit der Wirkungen, die sich im Geistigen zeigen, noch eine solche Verschiedenheit annehmen, durch welche das Universum in zwei disparate Teile auseinander fällt? Warum soll Raum erfüllend es nicht denken können, warum muß das Denkende etwas Punktuelles sein? Will man aber unterscheiden zwischen sinnlich wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren Kräften

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/617
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/617>, abgerufen am 01.07.2024.