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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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philosophischer Dogmatismus

physischen Spekulationen sagt: "Als man zuerst auf den Begriff der Akzidenzien,
als einer Art Dinge, die des AnHängens bedürften, geriet, mußte man das
Wort .Substanz' erfinden, um sie zu tragen. Hätte der arme indische Philosoph
(der da meinte, auch die Erde bedürfe etwas, was sie trage) nur das Wort
.Substanz' gekannt, so hätte er sich mit seinem Elefanten nicht zu bemühen
brauchen, der sie tragen sollte, und nicht mit der Schildkröte, um den Elefanten
zu tragen; das Wort .Substanz' hätte alles allein geleistet. Und der indische
Philosoph hätte auf die Frage, was .Substanz' sei, ganz gut, ohne zu wissen,
was sie sei, antworten können, sie sei das, was die Erde trage, da man es
ja für eine genügende Lehre halte, wenn ein europäischer Philosoph, ohne zu
wissen, was die Substanz ist, sage, sie sei das, was die Akzidenzien trage."

Locke hat ganz recht: die ihre Akzidenzien tragende Substanz ist nichts
Klareres als der Elefant und die Schildkröte, welche die Erde tragen. Woher
kommt nun aber die verwirrte Vorstellung? Offenbar daher, daß, weil man
mit vollen: Recht eine spezielle Kraft des Dinges dem Komplex aller übrigen
Kräfte als eine ihm anhaftende Eigenschaft in Gedanken gegenüberstellen kann,
nun auch für diesen ganzen Komplex, der sich durch sich selber trägt und hält, etwas
suchen und annehmen zu müssen glaubt, das ihn trägt, und so fort ack infinitum.

So wären wir zu dem Schlüsse gelangt, daß Substanz, also auch Materie,
die ja nur eine Art von Substanz, nämlich die einen Raum ausfüllende, sein
soll, lediglich philosopische Fikttonen sind. Es gibt in metaphysischen Sinne
keine Materie, keinen Stoff. Was wirklich ist, ist durch und durch Kraft und
nichts anderes. Sicher hat der Begriff Materie oder Stoff sonst seine gute und
klare Bedeutung, nur aus metaphysischer Untersuchung ist er zu entfernen.
Berechtigung haben die Begriffe Materie und Stoff der Form und auch einer
anderen überlegenen Kraft gegenüber. Im Gegensatz zu der Form der Bild¬
säule nennt man den Komplex von Kräften, der für uns die Erscheinung des
Marmors hervorbringt, ihre Materie, und im Gegensatz zu der bildenden Kraft
des Künstlers nennt man die von ihn: zu überwindenden Kräfte, die im Marmor
enthalten sind, seinen Stoff. Sonst aber haben die Begriffe Materie und Stoff
nirgends weder Klarheit noch Berechtigung.

Der Materialismus also, soweit er für die allein uns gegebenen Kräfte
ein Substrat annehmen zu müssen glaubt, ist schon deshalb eine unhaltbare
Weltanschauung. Viel unhaltbarer aber noch und wegen ihrer Übereilung oft
zurückgewiesen ist die Art, in welcher er die geistigen Prozesse auf andere
bekannte Vorgänge zurückzuführen unternimmt. Denn wären uns wirklich alle
Veränderungen, räumliche und qualitative, die im Gehirn während des Denkens
vor sich gehen, genau bekannt, so bliebe immer noch die Hauptsache völlig
dunkel, nämlich die Antwort auf die Frage:

Wie setzt sich das aus der objektiven Welt uns völlig Bekannte, das heißt
die räumlichen und chemischen Veränderungen, in das von uns immer nur
subjektiv Aufzufassende, nämlich in die Empfindung um?


philosophischer Dogmatismus

physischen Spekulationen sagt: „Als man zuerst auf den Begriff der Akzidenzien,
als einer Art Dinge, die des AnHängens bedürften, geriet, mußte man das
Wort .Substanz' erfinden, um sie zu tragen. Hätte der arme indische Philosoph
(der da meinte, auch die Erde bedürfe etwas, was sie trage) nur das Wort
.Substanz' gekannt, so hätte er sich mit seinem Elefanten nicht zu bemühen
brauchen, der sie tragen sollte, und nicht mit der Schildkröte, um den Elefanten
zu tragen; das Wort .Substanz' hätte alles allein geleistet. Und der indische
Philosoph hätte auf die Frage, was .Substanz' sei, ganz gut, ohne zu wissen,
was sie sei, antworten können, sie sei das, was die Erde trage, da man es
ja für eine genügende Lehre halte, wenn ein europäischer Philosoph, ohne zu
wissen, was die Substanz ist, sage, sie sei das, was die Akzidenzien trage."

Locke hat ganz recht: die ihre Akzidenzien tragende Substanz ist nichts
Klareres als der Elefant und die Schildkröte, welche die Erde tragen. Woher
kommt nun aber die verwirrte Vorstellung? Offenbar daher, daß, weil man
mit vollen: Recht eine spezielle Kraft des Dinges dem Komplex aller übrigen
Kräfte als eine ihm anhaftende Eigenschaft in Gedanken gegenüberstellen kann,
nun auch für diesen ganzen Komplex, der sich durch sich selber trägt und hält, etwas
suchen und annehmen zu müssen glaubt, das ihn trägt, und so fort ack infinitum.

So wären wir zu dem Schlüsse gelangt, daß Substanz, also auch Materie,
die ja nur eine Art von Substanz, nämlich die einen Raum ausfüllende, sein
soll, lediglich philosopische Fikttonen sind. Es gibt in metaphysischen Sinne
keine Materie, keinen Stoff. Was wirklich ist, ist durch und durch Kraft und
nichts anderes. Sicher hat der Begriff Materie oder Stoff sonst seine gute und
klare Bedeutung, nur aus metaphysischer Untersuchung ist er zu entfernen.
Berechtigung haben die Begriffe Materie und Stoff der Form und auch einer
anderen überlegenen Kraft gegenüber. Im Gegensatz zu der Form der Bild¬
säule nennt man den Komplex von Kräften, der für uns die Erscheinung des
Marmors hervorbringt, ihre Materie, und im Gegensatz zu der bildenden Kraft
des Künstlers nennt man die von ihn: zu überwindenden Kräfte, die im Marmor
enthalten sind, seinen Stoff. Sonst aber haben die Begriffe Materie und Stoff
nirgends weder Klarheit noch Berechtigung.

Der Materialismus also, soweit er für die allein uns gegebenen Kräfte
ein Substrat annehmen zu müssen glaubt, ist schon deshalb eine unhaltbare
Weltanschauung. Viel unhaltbarer aber noch und wegen ihrer Übereilung oft
zurückgewiesen ist die Art, in welcher er die geistigen Prozesse auf andere
bekannte Vorgänge zurückzuführen unternimmt. Denn wären uns wirklich alle
Veränderungen, räumliche und qualitative, die im Gehirn während des Denkens
vor sich gehen, genau bekannt, so bliebe immer noch die Hauptsache völlig
dunkel, nämlich die Antwort auf die Frage:

Wie setzt sich das aus der objektiven Welt uns völlig Bekannte, das heißt
die räumlichen und chemischen Veränderungen, in das von uns immer nur
subjektiv Aufzufassende, nämlich in die Empfindung um?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/616>, abgerufen am 29.06.2024.