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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Kum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets
An Pepa,
Spät abends, Pepa, lueur ihr Zimmer
Gesucht die Mutter müden Blicks,
Und du, entschnürt, beim Lampenschimmer
Gekniet vor deinem Kruzifix! Wenn du dem Häubchen abgenommen
Und zögernd dich der Nacht bertrant,
Nachdem du furchtsam und beklommen
Noch leuchtend unters Bett geschaut; Wenn alle Träume freigegeben,
Entfesselt alle Wünsche sind '--
Woran gedenkst du dann, mein Leben,
Pepita, du mein reizend Kind? Vielleicht an Helden aus Romanen,
Wie man sie dichtet Tag für Tag?
An alles, was die Sehnsucht ahne",
Die Wirklichkeit verweigern mag? An einen Berg, der tief im Grunde
Ein winzig Mäuschen in sich faßt?
An Naschwerk, an die Trennungsstnnde?
An einen Schatz, den du nicht hast? An ein Geheimnis deiner Schwestern,
Vertraut zur Zeit des Dümmerlichts?
An Kleider, Schmuck, den Ball von gestern?
Vielleicht an mich? Violleicht an nichts?

Ein größeres Gedicht "l.e Laute" (Die Weide), das als Fragment be¬
zeichnet wird, enthält die schöne Ode an den Abendstern, die Ossianscher Poesie
entstammt, aber wahrscheinlich durch Goethes Nachdichtung im "Werther" an¬
geregt wurde:


PZts etoils an soir, msssÄAöre lointaine,
Oort le krönt sort brillant clef volles ein conelaue etc.

(bei Goethe: Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du im Westen usw.)

Im Jahr 1830 war ein einaktiges Lustspiel von Musset "I^g, nuit veni-
tienne" im Odeon-Theater unverdientermaßen durchgefallen; und der junge
Dichter hatte deshalb der Bühne für längere Zeit Lebewohl gesagt. Da er aber
sür die dramatische Form eine große Vorliebe hatte, schrieb er Komödien, die zum
Lesen bestimmt waren, zunächst unter dem Titel "Un spectacle ö^us un
fauteuil", zwei dramatische Gedichte: "I^a coupe et Je8 levres" und "/^ quoi
revent les jeunss Mich". In dem ersteren dürfen wir einen Niederschlag
seiner Lektüre von Goethes "Faust" und Bnronschen Dichtungen erblicken. Faustische
Gedanken treten uns entgegen, die uns im Mund des Helden, des jungen
Tiroler Jägers Frank, seltsam berühren. Gleich Faust und beinahe mit seinen
Worten flucht er den idealen Gütern des Lebens und zieht fort, einem un¬
bekannten Glück entgegen. Enttäuscht von den Genüssen der Welt sehnt er sich
nach der reinen Liebe seiner Jugend, aber im Begriff, die Geliebte in die Arme


Kum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets
An Pepa,
Spät abends, Pepa, lueur ihr Zimmer
Gesucht die Mutter müden Blicks,
Und du, entschnürt, beim Lampenschimmer
Gekniet vor deinem Kruzifix! Wenn du dem Häubchen abgenommen
Und zögernd dich der Nacht bertrant,
Nachdem du furchtsam und beklommen
Noch leuchtend unters Bett geschaut; Wenn alle Träume freigegeben,
Entfesselt alle Wünsche sind '—
Woran gedenkst du dann, mein Leben,
Pepita, du mein reizend Kind? Vielleicht an Helden aus Romanen,
Wie man sie dichtet Tag für Tag?
An alles, was die Sehnsucht ahne»,
Die Wirklichkeit verweigern mag? An einen Berg, der tief im Grunde
Ein winzig Mäuschen in sich faßt?
An Naschwerk, an die Trennungsstnnde?
An einen Schatz, den du nicht hast? An ein Geheimnis deiner Schwestern,
Vertraut zur Zeit des Dümmerlichts?
An Kleider, Schmuck, den Ball von gestern?
Vielleicht an mich? Violleicht an nichts?

Ein größeres Gedicht „l.e Laute" (Die Weide), das als Fragment be¬
zeichnet wird, enthält die schöne Ode an den Abendstern, die Ossianscher Poesie
entstammt, aber wahrscheinlich durch Goethes Nachdichtung im „Werther" an¬
geregt wurde:


PZts etoils an soir, msssÄAöre lointaine,
Oort le krönt sort brillant clef volles ein conelaue etc.

(bei Goethe: Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du im Westen usw.)

Im Jahr 1830 war ein einaktiges Lustspiel von Musset „I^g, nuit veni-
tienne" im Odeon-Theater unverdientermaßen durchgefallen; und der junge
Dichter hatte deshalb der Bühne für längere Zeit Lebewohl gesagt. Da er aber
sür die dramatische Form eine große Vorliebe hatte, schrieb er Komödien, die zum
Lesen bestimmt waren, zunächst unter dem Titel „Un spectacle ö^us un
fauteuil", zwei dramatische Gedichte: „I^a coupe et Je8 levres" und „/^ quoi
revent les jeunss Mich". In dem ersteren dürfen wir einen Niederschlag
seiner Lektüre von Goethes „Faust" und Bnronschen Dichtungen erblicken. Faustische
Gedanken treten uns entgegen, die uns im Mund des Helden, des jungen
Tiroler Jägers Frank, seltsam berühren. Gleich Faust und beinahe mit seinen
Worten flucht er den idealen Gütern des Lebens und zieht fort, einem un¬
bekannten Glück entgegen. Enttäuscht von den Genüssen der Welt sehnt er sich
nach der reinen Liebe seiner Jugend, aber im Begriff, die Geliebte in die Arme


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[0468] Kum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets An Pepa, Spät abends, Pepa, lueur ihr Zimmer Gesucht die Mutter müden Blicks, Und du, entschnürt, beim Lampenschimmer Gekniet vor deinem Kruzifix! Wenn du dem Häubchen abgenommen Und zögernd dich der Nacht bertrant, Nachdem du furchtsam und beklommen Noch leuchtend unters Bett geschaut; Wenn alle Träume freigegeben, Entfesselt alle Wünsche sind '— Woran gedenkst du dann, mein Leben, Pepita, du mein reizend Kind? Vielleicht an Helden aus Romanen, Wie man sie dichtet Tag für Tag? An alles, was die Sehnsucht ahne», Die Wirklichkeit verweigern mag? An einen Berg, der tief im Grunde Ein winzig Mäuschen in sich faßt? An Naschwerk, an die Trennungsstnnde? An einen Schatz, den du nicht hast? An ein Geheimnis deiner Schwestern, Vertraut zur Zeit des Dümmerlichts? An Kleider, Schmuck, den Ball von gestern? Vielleicht an mich? Violleicht an nichts? Ein größeres Gedicht „l.e Laute" (Die Weide), das als Fragment be¬ zeichnet wird, enthält die schöne Ode an den Abendstern, die Ossianscher Poesie entstammt, aber wahrscheinlich durch Goethes Nachdichtung im „Werther" an¬ geregt wurde: PZts etoils an soir, msssÄAöre lointaine, Oort le krönt sort brillant clef volles ein conelaue etc. (bei Goethe: Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du im Westen usw.) Im Jahr 1830 war ein einaktiges Lustspiel von Musset „I^g, nuit veni- tienne" im Odeon-Theater unverdientermaßen durchgefallen; und der junge Dichter hatte deshalb der Bühne für längere Zeit Lebewohl gesagt. Da er aber sür die dramatische Form eine große Vorliebe hatte, schrieb er Komödien, die zum Lesen bestimmt waren, zunächst unter dem Titel „Un spectacle ö^us un fauteuil", zwei dramatische Gedichte: „I^a coupe et Je8 levres" und „/^ quoi revent les jeunss Mich". In dem ersteren dürfen wir einen Niederschlag seiner Lektüre von Goethes „Faust" und Bnronschen Dichtungen erblicken. Faustische Gedanken treten uns entgegen, die uns im Mund des Helden, des jungen Tiroler Jägers Frank, seltsam berühren. Gleich Faust und beinahe mit seinen Worten flucht er den idealen Gütern des Lebens und zieht fort, einem un¬ bekannten Glück entgegen. Enttäuscht von den Genüssen der Welt sehnt er sich nach der reinen Liebe seiner Jugend, aber im Begriff, die Geliebte in die Arme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/468>, abgerufen am 22.07.2024.