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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Räuber! In Besorgnis um den Vater hatte sie Licht gemacht und war trotz ihrer
Furcht in sein Schlafzimmer und von dort in das Kabinett gelaufen, wo sie ihn
taumelnd fand.

Die Magd wurde nun gerufen. Sie kam mit verbundenem Kopfe, und
während sie erzählte, mußte der Zehntner (Djessjatnik) den Soldaten und
dessen Sohn hereinholen.

Sie konnte nicht viel erzählen. Sie hatte nicht geschlafen, hatte gehört, daß
ein Wagen anhielt und Schritte über das Brückchen sich der Tür näherten, wo
leises Geräusch entstand, als ob Hände nach der Klingel suchten. Sie war auf¬
gestanden und zur Tür gegangen, und in demselben Augenblick war fürchterliches
Krachen erfolgt. Die Tür war aufgeflogen. Sie hatte im Licht einer Laterne
mehrere Köpfe gesehen.

"Wie viele?" fragte der Bezirksaufseher.

Sie wußte die Zahl nicht anzugeben.

"Aber doch ungefähr. Waren es fünf, sechs, vielleicht sieben?"

"Vielleicht dürften es so viele gewesen sein," meinte sie.

"Oder waren es nur zwei oder drei?"

Sie zögerte mit der Antwort.

Sie könne auch das nicht genau bestimmen, sagte sie zuletzt.

Der Bezirksaufseher lächelte und nickte mit dem Kopfe. Er hatte sich schon
Hunderte von Malen überzeugt, ,daß man sich bei Zeugenverhören auf die Zahl¬
angabe unentwickelter Menschen gar nicht verlassen kann.

Die Magd wurde aufgefordert, weiter zu erzählen.

Als sie das Licht und die Leute erblickte, hatte sie gerufen:

"Was wollt ihr?"

"Was wir nötig haben," hatte ein langer Kerl mit grober Stimme geantwortet
und mit einem Knüttel oder einem ähnlichen Gegenstande einen Hieb gegen sie
geführt.

Sie wußte weiter nichts. Sie glaubte, sie hätte nicht einmal die Zeit gehabt
zu schreien. Dann halte sie auf ihrem Bett gesessen, wo der junge Herr Okolitsch,
dein Gott Gesundheit schenken möchte, ihr ein Handtuch mit kalten: Wasser an die
Schläfe hielt.

"Es war noch gut," fügte sie hinzu, "daß ich am Abend ein reines Handtuch
hingehängt hatte. Sonst hätte der junge Herr denken können, ich sei ein Schwein."

Okolitsch gab zu Protokoll, was er wußte. Beiden Polizeibeamten schien
seine bestimmte, entschiedene Allsdrucksweise nicht recht zu gefallen.

"Woher wissen Sie, daß es ein kleiner und ziemlich alter Mann war, den
Sie gepackt hatten?" fragte der Bezirksaufseher in trockenem Ton.

"Weil ich fühlte, daß seine Schultern niedriger standen als meine, und ich
bin doch auch kein Riese, und Weiler sich niederdrücken ließ, ohne unnütze
Bewegungen zu machen, ohne sich zu drehen, zu winden, wie es jungen Leuten
eigen ist."

"Sie scheinen mit der Art der Leute beim Raufen genau bekannt zu sein?"
schaltete Wolski ein.

"Ich habe hier im Flecken, wo das Raufen und Balgen nicht allein unter
Knaben, sondern auch unter Erwachsenen leider oft genug vorkommt, zum Beispiel,


Im Flecken

Räuber! In Besorgnis um den Vater hatte sie Licht gemacht und war trotz ihrer
Furcht in sein Schlafzimmer und von dort in das Kabinett gelaufen, wo sie ihn
taumelnd fand.

Die Magd wurde nun gerufen. Sie kam mit verbundenem Kopfe, und
während sie erzählte, mußte der Zehntner (Djessjatnik) den Soldaten und
dessen Sohn hereinholen.

Sie konnte nicht viel erzählen. Sie hatte nicht geschlafen, hatte gehört, daß
ein Wagen anhielt und Schritte über das Brückchen sich der Tür näherten, wo
leises Geräusch entstand, als ob Hände nach der Klingel suchten. Sie war auf¬
gestanden und zur Tür gegangen, und in demselben Augenblick war fürchterliches
Krachen erfolgt. Die Tür war aufgeflogen. Sie hatte im Licht einer Laterne
mehrere Köpfe gesehen.

„Wie viele?" fragte der Bezirksaufseher.

Sie wußte die Zahl nicht anzugeben.

„Aber doch ungefähr. Waren es fünf, sechs, vielleicht sieben?"

„Vielleicht dürften es so viele gewesen sein," meinte sie.

„Oder waren es nur zwei oder drei?"

Sie zögerte mit der Antwort.

Sie könne auch das nicht genau bestimmen, sagte sie zuletzt.

Der Bezirksaufseher lächelte und nickte mit dem Kopfe. Er hatte sich schon
Hunderte von Malen überzeugt, ,daß man sich bei Zeugenverhören auf die Zahl¬
angabe unentwickelter Menschen gar nicht verlassen kann.

Die Magd wurde aufgefordert, weiter zu erzählen.

Als sie das Licht und die Leute erblickte, hatte sie gerufen:

„Was wollt ihr?"

„Was wir nötig haben," hatte ein langer Kerl mit grober Stimme geantwortet
und mit einem Knüttel oder einem ähnlichen Gegenstande einen Hieb gegen sie
geführt.

Sie wußte weiter nichts. Sie glaubte, sie hätte nicht einmal die Zeit gehabt
zu schreien. Dann halte sie auf ihrem Bett gesessen, wo der junge Herr Okolitsch,
dein Gott Gesundheit schenken möchte, ihr ein Handtuch mit kalten: Wasser an die
Schläfe hielt.

„Es war noch gut," fügte sie hinzu, „daß ich am Abend ein reines Handtuch
hingehängt hatte. Sonst hätte der junge Herr denken können, ich sei ein Schwein."

Okolitsch gab zu Protokoll, was er wußte. Beiden Polizeibeamten schien
seine bestimmte, entschiedene Allsdrucksweise nicht recht zu gefallen.

„Woher wissen Sie, daß es ein kleiner und ziemlich alter Mann war, den
Sie gepackt hatten?" fragte der Bezirksaufseher in trockenem Ton.

„Weil ich fühlte, daß seine Schultern niedriger standen als meine, und ich
bin doch auch kein Riese, und Weiler sich niederdrücken ließ, ohne unnütze
Bewegungen zu machen, ohne sich zu drehen, zu winden, wie es jungen Leuten
eigen ist."

„Sie scheinen mit der Art der Leute beim Raufen genau bekannt zu sein?"
schaltete Wolski ein.

„Ich habe hier im Flecken, wo das Raufen und Balgen nicht allein unter
Knaben, sondern auch unter Erwachsenen leider oft genug vorkommt, zum Beispiel,


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[0442] Im Flecken Räuber! In Besorgnis um den Vater hatte sie Licht gemacht und war trotz ihrer Furcht in sein Schlafzimmer und von dort in das Kabinett gelaufen, wo sie ihn taumelnd fand. Die Magd wurde nun gerufen. Sie kam mit verbundenem Kopfe, und während sie erzählte, mußte der Zehntner (Djessjatnik) den Soldaten und dessen Sohn hereinholen. Sie konnte nicht viel erzählen. Sie hatte nicht geschlafen, hatte gehört, daß ein Wagen anhielt und Schritte über das Brückchen sich der Tür näherten, wo leises Geräusch entstand, als ob Hände nach der Klingel suchten. Sie war auf¬ gestanden und zur Tür gegangen, und in demselben Augenblick war fürchterliches Krachen erfolgt. Die Tür war aufgeflogen. Sie hatte im Licht einer Laterne mehrere Köpfe gesehen. „Wie viele?" fragte der Bezirksaufseher. Sie wußte die Zahl nicht anzugeben. „Aber doch ungefähr. Waren es fünf, sechs, vielleicht sieben?" „Vielleicht dürften es so viele gewesen sein," meinte sie. „Oder waren es nur zwei oder drei?" Sie zögerte mit der Antwort. Sie könne auch das nicht genau bestimmen, sagte sie zuletzt. Der Bezirksaufseher lächelte und nickte mit dem Kopfe. Er hatte sich schon Hunderte von Malen überzeugt, ,daß man sich bei Zeugenverhören auf die Zahl¬ angabe unentwickelter Menschen gar nicht verlassen kann. Die Magd wurde aufgefordert, weiter zu erzählen. Als sie das Licht und die Leute erblickte, hatte sie gerufen: „Was wollt ihr?" „Was wir nötig haben," hatte ein langer Kerl mit grober Stimme geantwortet und mit einem Knüttel oder einem ähnlichen Gegenstande einen Hieb gegen sie geführt. Sie wußte weiter nichts. Sie glaubte, sie hätte nicht einmal die Zeit gehabt zu schreien. Dann halte sie auf ihrem Bett gesessen, wo der junge Herr Okolitsch, dein Gott Gesundheit schenken möchte, ihr ein Handtuch mit kalten: Wasser an die Schläfe hielt. „Es war noch gut," fügte sie hinzu, „daß ich am Abend ein reines Handtuch hingehängt hatte. Sonst hätte der junge Herr denken können, ich sei ein Schwein." Okolitsch gab zu Protokoll, was er wußte. Beiden Polizeibeamten schien seine bestimmte, entschiedene Allsdrucksweise nicht recht zu gefallen. „Woher wissen Sie, daß es ein kleiner und ziemlich alter Mann war, den Sie gepackt hatten?" fragte der Bezirksaufseher in trockenem Ton. „Weil ich fühlte, daß seine Schultern niedriger standen als meine, und ich bin doch auch kein Riese, und Weiler sich niederdrücken ließ, ohne unnütze Bewegungen zu machen, ohne sich zu drehen, zu winden, wie es jungen Leuten eigen ist." „Sie scheinen mit der Art der Leute beim Raufen genau bekannt zu sein?" schaltete Wolski ein. „Ich habe hier im Flecken, wo das Raufen und Balgen nicht allein unter Knaben, sondern auch unter Erwachsenen leider oft genug vorkommt, zum Beispiel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/442>, abgerufen am 23.07.2024.