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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage in England

zumal da die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre die Chamberlainschen
Theorien einmal über das andere offenkundig widerlegte.

Die Konservativen hatten die Wahlen im letzten Januar ganz vorwiegend
unter der Parole der Tarifreform ausgefochten. Aber mit so großer Anstrengung
und Begeisterung sie auch kämpften, das Ergebnis zeigte, daß die schutzzöllnerische
Propaganda hauptsächlich doch nur in den landwirtschaftlichen, aber nicht in
den industriellen Bezirken Zugkraft besaß. Zwar konnten die Konservativen
mit den Wahlresultateu in den Midlands zufrieden sein, und auch in den
Industriebezirken des Nordens haben sie Fortschritte gemacht; aber diese Fort¬
schritte gehen zu langsam vorwärts, als daß in absehbarer Zeit eine schutzzöllnerische
Mehrheit zu erwarten wäre. Allgemein gesprochen, hat sich dieJndustrie in England,
Schottland und Wales in nicht mißzuverstehender Weise gegen eine grundlegende
Änderung der Zollpolitik erklärt. Und die Tarifreform gegen den Willen der
industriellen Bevölkerung ist, wie Mr. Balfour nach den Wahlen anerkannte, eine
Unmöglichkeit. Es war schon vorher aufgefallen, daß die Publikationen der
Tarifreformliga keinen rechten Fortgang nahmen, daß sie namentlich die Veröffent¬
lichung ihrer detaillierten Zollsätze für die einzelnen Industrien und Gewerbe
nicht fortgesetzt hat. Ihre Gegner zogen daraus den Schluß, für den auch
andere Anzeichen sprachen, daß die Tarifreformer untereinander über die Höhe
der Zollsätze und über die Warengruppeu, deren Einfuhr frei bleibe:: sollte,
nicht einig werden konnten. Außerdem wußte jedermann, daß der Führer der
Partei, Mr. Balfour, nichts weniger als ein überzeugter Tarifreformer ist.
Seit der Veröffentlichung des Chamberlainschen Programms im Mai 1903 hat
er zwischen den Freihändlern und Schutzzöllnern in der konservativen Partei
mit großem Geschick hin und her laviert, und seitdem Josef Chamberlain von
der politischen Bühne abgetreten ist, ist ihm seine Zauderpolitik gegenüber den
schntzzöllnerischen Heißspornen wesentlich erleichtert worden. Zwar konnte er
nicht verhindern, daß die Tarifreformer die Freihändler mit ganz geringen
Ausnahmen aus den: Parlament verdrängten, aber die politische Führung der
Partei hat er sich nicht entreißen lassen. Wie es bis zu der schweren Erkrankung
Chamberlains sein Hauptziel war, eine Spaltung der Partei zu verhindern, so
ist jetzt sein Augenmerk wesentlich darauf gerichtet, daß die Unionisten nicht
aufhörten, regierungsfähig zu bleiben. Regierungsfähig ist aber eine Partei
nicht mehr, wenn sie sich auf Programm festgerannt hat, von dem die Wähler
mindestens zurzeit nichts wissen wollen. Jedoch es fehlt ihm wie seiner Partei
an einen: alternativen Progran::::, mit dem sie an die Massen appellieren
könnten. So hat während der letzten Wahlen und auch jetzt wieder die Flotteu-
frage herhalten müssen. Das ist die einzige Parole des unionistischen Leaders,
die ein einstimmiges Echo der Begeisterung in der Partei hervorgerufen hat.
Mr. Balfours Lauheit in der Schutzzollfrage hat ihn: seitens der extremen
Tarifreformer die bittersten Angriffe eingetragen, und wenn diese einen Führer
hätten, der Mr. Balfour nur einigermaßen gewachsen wäre, so wäre dessen


Die politische Lage in England

zumal da die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre die Chamberlainschen
Theorien einmal über das andere offenkundig widerlegte.

Die Konservativen hatten die Wahlen im letzten Januar ganz vorwiegend
unter der Parole der Tarifreform ausgefochten. Aber mit so großer Anstrengung
und Begeisterung sie auch kämpften, das Ergebnis zeigte, daß die schutzzöllnerische
Propaganda hauptsächlich doch nur in den landwirtschaftlichen, aber nicht in
den industriellen Bezirken Zugkraft besaß. Zwar konnten die Konservativen
mit den Wahlresultateu in den Midlands zufrieden sein, und auch in den
Industriebezirken des Nordens haben sie Fortschritte gemacht; aber diese Fort¬
schritte gehen zu langsam vorwärts, als daß in absehbarer Zeit eine schutzzöllnerische
Mehrheit zu erwarten wäre. Allgemein gesprochen, hat sich dieJndustrie in England,
Schottland und Wales in nicht mißzuverstehender Weise gegen eine grundlegende
Änderung der Zollpolitik erklärt. Und die Tarifreform gegen den Willen der
industriellen Bevölkerung ist, wie Mr. Balfour nach den Wahlen anerkannte, eine
Unmöglichkeit. Es war schon vorher aufgefallen, daß die Publikationen der
Tarifreformliga keinen rechten Fortgang nahmen, daß sie namentlich die Veröffent¬
lichung ihrer detaillierten Zollsätze für die einzelnen Industrien und Gewerbe
nicht fortgesetzt hat. Ihre Gegner zogen daraus den Schluß, für den auch
andere Anzeichen sprachen, daß die Tarifreformer untereinander über die Höhe
der Zollsätze und über die Warengruppeu, deren Einfuhr frei bleibe:: sollte,
nicht einig werden konnten. Außerdem wußte jedermann, daß der Führer der
Partei, Mr. Balfour, nichts weniger als ein überzeugter Tarifreformer ist.
Seit der Veröffentlichung des Chamberlainschen Programms im Mai 1903 hat
er zwischen den Freihändlern und Schutzzöllnern in der konservativen Partei
mit großem Geschick hin und her laviert, und seitdem Josef Chamberlain von
der politischen Bühne abgetreten ist, ist ihm seine Zauderpolitik gegenüber den
schntzzöllnerischen Heißspornen wesentlich erleichtert worden. Zwar konnte er
nicht verhindern, daß die Tarifreformer die Freihändler mit ganz geringen
Ausnahmen aus den: Parlament verdrängten, aber die politische Führung der
Partei hat er sich nicht entreißen lassen. Wie es bis zu der schweren Erkrankung
Chamberlains sein Hauptziel war, eine Spaltung der Partei zu verhindern, so
ist jetzt sein Augenmerk wesentlich darauf gerichtet, daß die Unionisten nicht
aufhörten, regierungsfähig zu bleiben. Regierungsfähig ist aber eine Partei
nicht mehr, wenn sie sich auf Programm festgerannt hat, von dem die Wähler
mindestens zurzeit nichts wissen wollen. Jedoch es fehlt ihm wie seiner Partei
an einen: alternativen Progran::::, mit dem sie an die Massen appellieren
könnten. So hat während der letzten Wahlen und auch jetzt wieder die Flotteu-
frage herhalten müssen. Das ist die einzige Parole des unionistischen Leaders,
die ein einstimmiges Echo der Begeisterung in der Partei hervorgerufen hat.
Mr. Balfours Lauheit in der Schutzzollfrage hat ihn: seitens der extremen
Tarifreformer die bittersten Angriffe eingetragen, und wenn diese einen Führer
hätten, der Mr. Balfour nur einigermaßen gewachsen wäre, so wäre dessen


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[0371] Die politische Lage in England zumal da die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre die Chamberlainschen Theorien einmal über das andere offenkundig widerlegte. Die Konservativen hatten die Wahlen im letzten Januar ganz vorwiegend unter der Parole der Tarifreform ausgefochten. Aber mit so großer Anstrengung und Begeisterung sie auch kämpften, das Ergebnis zeigte, daß die schutzzöllnerische Propaganda hauptsächlich doch nur in den landwirtschaftlichen, aber nicht in den industriellen Bezirken Zugkraft besaß. Zwar konnten die Konservativen mit den Wahlresultateu in den Midlands zufrieden sein, und auch in den Industriebezirken des Nordens haben sie Fortschritte gemacht; aber diese Fort¬ schritte gehen zu langsam vorwärts, als daß in absehbarer Zeit eine schutzzöllnerische Mehrheit zu erwarten wäre. Allgemein gesprochen, hat sich dieJndustrie in England, Schottland und Wales in nicht mißzuverstehender Weise gegen eine grundlegende Änderung der Zollpolitik erklärt. Und die Tarifreform gegen den Willen der industriellen Bevölkerung ist, wie Mr. Balfour nach den Wahlen anerkannte, eine Unmöglichkeit. Es war schon vorher aufgefallen, daß die Publikationen der Tarifreformliga keinen rechten Fortgang nahmen, daß sie namentlich die Veröffent¬ lichung ihrer detaillierten Zollsätze für die einzelnen Industrien und Gewerbe nicht fortgesetzt hat. Ihre Gegner zogen daraus den Schluß, für den auch andere Anzeichen sprachen, daß die Tarifreformer untereinander über die Höhe der Zollsätze und über die Warengruppeu, deren Einfuhr frei bleibe:: sollte, nicht einig werden konnten. Außerdem wußte jedermann, daß der Führer der Partei, Mr. Balfour, nichts weniger als ein überzeugter Tarifreformer ist. Seit der Veröffentlichung des Chamberlainschen Programms im Mai 1903 hat er zwischen den Freihändlern und Schutzzöllnern in der konservativen Partei mit großem Geschick hin und her laviert, und seitdem Josef Chamberlain von der politischen Bühne abgetreten ist, ist ihm seine Zauderpolitik gegenüber den schntzzöllnerischen Heißspornen wesentlich erleichtert worden. Zwar konnte er nicht verhindern, daß die Tarifreformer die Freihändler mit ganz geringen Ausnahmen aus den: Parlament verdrängten, aber die politische Führung der Partei hat er sich nicht entreißen lassen. Wie es bis zu der schweren Erkrankung Chamberlains sein Hauptziel war, eine Spaltung der Partei zu verhindern, so ist jetzt sein Augenmerk wesentlich darauf gerichtet, daß die Unionisten nicht aufhörten, regierungsfähig zu bleiben. Regierungsfähig ist aber eine Partei nicht mehr, wenn sie sich auf Programm festgerannt hat, von dem die Wähler mindestens zurzeit nichts wissen wollen. Jedoch es fehlt ihm wie seiner Partei an einen: alternativen Progran::::, mit dem sie an die Massen appellieren könnten. So hat während der letzten Wahlen und auch jetzt wieder die Flotteu- frage herhalten müssen. Das ist die einzige Parole des unionistischen Leaders, die ein einstimmiges Echo der Begeisterung in der Partei hervorgerufen hat. Mr. Balfours Lauheit in der Schutzzollfrage hat ihn: seitens der extremen Tarifreformer die bittersten Angriffe eingetragen, und wenn diese einen Führer hätten, der Mr. Balfour nur einigermaßen gewachsen wäre, so wäre dessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/371>, abgerufen am 22.07.2024.