Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Die politische Lage in England Führerschaft gefährdet. Mr. Balfours Stärke liegt durchaus im Parlament. Ein beträchtlicher Teil der Unionisten, die Nichts-als-Tarifreformer sind, Allein die Verfassungsfrage beherrscht die politische Lage jetzt vollständig. Die politische Lage in England Führerschaft gefährdet. Mr. Balfours Stärke liegt durchaus im Parlament. Ein beträchtlicher Teil der Unionisten, die Nichts-als-Tarifreformer sind, Allein die Verfassungsfrage beherrscht die politische Lage jetzt vollständig. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0372" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317323"/> <fw type="header" place="top"> Die politische Lage in England</fw><lb/> <p xml:id="ID_1685" prev="#ID_1684"> Führerschaft gefährdet. Mr. Balfours Stärke liegt durchaus im Parlament.<lb/> Er ist kein Volksmann, wie Chamberlain es war, der mit seinem Feuer die<lb/> Massen mit sich fortriß; aber er ist zurzeit der einzig mögliche konservative<lb/> Führer, und ohne ihn drohte die ganze Partei sich in Atome aufzulösen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1686"> Ein beträchtlicher Teil der Unionisten, die Nichts-als-Tarifreformer sind,<lb/> war nur zu bereit, alle konservativen und unionistischen Prinzipien über Bord<lb/> zu werfen. Sie eigneten sich wahllos liberale Grundsätze und Argumente an,<lb/> deren Popularität sie sich nicht verschließen können. Sie würden die Union mit<lb/> Irland aufgeben und mit den Nationalisten paktieren, die sie als Schutzzöllner<lb/> und demgemäß als Gesinnungsgenossen in Anspruch nehmen — obwohl die Iren,<lb/> wenn sie Schutzzöllner sind, vor allem einen Schutzzoll für Irland und gegen<lb/> England fordern würden. Der ganze Verfassungsstreit war ihnen ein Dorn in:<lb/> Auge, da er einen Aufschub des Kampfes um die Tarifreform bedingte, und da<lb/> sie wohl erkannten, daß im Volk doch nur recht wellig Stimmung für die Lords<lb/> vorhanden war. Bei den letzten Wahlen fiel das bezeichnende Wort: „Mit den<lb/> Peers auf unserm Rücken werden wir niemals den Kampf um den Schutzzoll<lb/> gewinnen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1687" next="#ID_1688"> Allein die Verfassungsfrage beherrscht die politische Lage jetzt vollständig.<lb/> Die Konferenz hat den gordischen Knoten der Oberhausfrage uicht lösen können,<lb/> und so muß er denn zerhauen werden. Der Kampf der Parteien tritt wieder<lb/> in sein Recht. Was letzten Endes einen friedlichen Ausgleich unmöglich gemacht<lb/> hat, ist uicht authentisch bekannt, denn das Geheimnis der Beratungen soll<lb/> gewahrt bleiben. Man weiß daher auch nicht, welche Gründe die konservativen<lb/> Führer bestimmt haben, trotz der prekären Lage ihrer Partei eine Verständigung<lb/> abzulehnen. Aber der Eindruck herrscht vor, daß ihre Politik eine «ununter¬<lb/> brochene Kette von politischen Fehlern gewesen ist. Vor drei Jahren war die<lb/> Popularität der Regierung notorisch im Sinken. Hätte die Opposition ihre Zeit<lb/> abgewartet, hätte sie das Budget, wenn auch unter Protest, das Oberhaus<lb/> passieren lassen, so hätte sich in absehbarer Zeit das Schicksal der liberalen<lb/> Regierung erfüllt, und die Konservativen durften erwarten, daß sich nach dein<lb/> „Gesetz des Pendelschwungs" die öffentliche Meinung bei den nächsten Wahlen<lb/> wieder ihnen zuwenden würde. Aber sie wollten die Früchte pflücken, ehe sie<lb/> reif waren. Die Ablehnung des Budgets war unter allen Umständen ein bedenk¬<lb/> licher Schritt, und den Kampf um die Tarifreform verloren sie. Heute ist die<lb/> Schutzzollparole aussichtsloser als vor einem Jahre, und die berühmten Wert-<lb/> zuwachssteuern des Budgets regen die Wähler um so weniger auf, als das<lb/> Oberhaus das Budget nachträglich genehmigt hat. In der Vetofrage haben die<lb/> Konservativen kein eigenes verfassungspolitisches Programm, das sie dem der<lb/> Regierung gegenüberstellen könnten. Die Oberhausfrage hat lange genug zur<lb/> Diskussion gestanden, aber die Opposition hat versäumt, sich für eine bestimmte<lb/> Politik zu entscheiden und die Wähler damit vertraut zu macheu. Ein großer<lb/> Teil der unionistischen Presse hat sich, sobald das Scheitern der Konferenz</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0372]
Die politische Lage in England
Führerschaft gefährdet. Mr. Balfours Stärke liegt durchaus im Parlament.
Er ist kein Volksmann, wie Chamberlain es war, der mit seinem Feuer die
Massen mit sich fortriß; aber er ist zurzeit der einzig mögliche konservative
Führer, und ohne ihn drohte die ganze Partei sich in Atome aufzulösen.
Ein beträchtlicher Teil der Unionisten, die Nichts-als-Tarifreformer sind,
war nur zu bereit, alle konservativen und unionistischen Prinzipien über Bord
zu werfen. Sie eigneten sich wahllos liberale Grundsätze und Argumente an,
deren Popularität sie sich nicht verschließen können. Sie würden die Union mit
Irland aufgeben und mit den Nationalisten paktieren, die sie als Schutzzöllner
und demgemäß als Gesinnungsgenossen in Anspruch nehmen — obwohl die Iren,
wenn sie Schutzzöllner sind, vor allem einen Schutzzoll für Irland und gegen
England fordern würden. Der ganze Verfassungsstreit war ihnen ein Dorn in:
Auge, da er einen Aufschub des Kampfes um die Tarifreform bedingte, und da
sie wohl erkannten, daß im Volk doch nur recht wellig Stimmung für die Lords
vorhanden war. Bei den letzten Wahlen fiel das bezeichnende Wort: „Mit den
Peers auf unserm Rücken werden wir niemals den Kampf um den Schutzzoll
gewinnen."
Allein die Verfassungsfrage beherrscht die politische Lage jetzt vollständig.
Die Konferenz hat den gordischen Knoten der Oberhausfrage uicht lösen können,
und so muß er denn zerhauen werden. Der Kampf der Parteien tritt wieder
in sein Recht. Was letzten Endes einen friedlichen Ausgleich unmöglich gemacht
hat, ist uicht authentisch bekannt, denn das Geheimnis der Beratungen soll
gewahrt bleiben. Man weiß daher auch nicht, welche Gründe die konservativen
Führer bestimmt haben, trotz der prekären Lage ihrer Partei eine Verständigung
abzulehnen. Aber der Eindruck herrscht vor, daß ihre Politik eine «ununter¬
brochene Kette von politischen Fehlern gewesen ist. Vor drei Jahren war die
Popularität der Regierung notorisch im Sinken. Hätte die Opposition ihre Zeit
abgewartet, hätte sie das Budget, wenn auch unter Protest, das Oberhaus
passieren lassen, so hätte sich in absehbarer Zeit das Schicksal der liberalen
Regierung erfüllt, und die Konservativen durften erwarten, daß sich nach dein
„Gesetz des Pendelschwungs" die öffentliche Meinung bei den nächsten Wahlen
wieder ihnen zuwenden würde. Aber sie wollten die Früchte pflücken, ehe sie
reif waren. Die Ablehnung des Budgets war unter allen Umständen ein bedenk¬
licher Schritt, und den Kampf um die Tarifreform verloren sie. Heute ist die
Schutzzollparole aussichtsloser als vor einem Jahre, und die berühmten Wert-
zuwachssteuern des Budgets regen die Wähler um so weniger auf, als das
Oberhaus das Budget nachträglich genehmigt hat. In der Vetofrage haben die
Konservativen kein eigenes verfassungspolitisches Programm, das sie dem der
Regierung gegenüberstellen könnten. Die Oberhausfrage hat lange genug zur
Diskussion gestanden, aber die Opposition hat versäumt, sich für eine bestimmte
Politik zu entscheiden und die Wähler damit vertraut zu macheu. Ein großer
Teil der unionistischen Presse hat sich, sobald das Scheitern der Konferenz
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