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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage in Lnglcmd

verzweifelt wenig politisches Talent. Die "Frontbench" der Opposition, d. h.
die vorderste Bank zur Linken des Sprechers, auf der die Minister von gestern
und von übermorgen sitzen, weist nur wenig Männer von politischem Rang auf.
Diese Schwäche der konservativen Führung ist in der Presse der eignen Partei
oft kritisiert worden. Die Chamberlainsche Politik, die die Zwietracht in das
unionistische Lager warf und allmählich zur Ausstoßung der Freihändler führte,
hat der Partei mehrere Führer von anerkannter Kapazität geraubt. Seit 190<;
ruht allzuviel von der Last des Opponieren?' auf Mr. Balfour, der mit seiner
hervorragenden parlamentarischen Taktik, seiner glänzenden, wenn auch etwas
haarspalterischen Dialektik und seiner ungemeinen Versatilität gerettet hat, was
zu retten war. Nimmt man wenige seiner Kollegen aus, so ist der Abstand
zwischen ihm und den übrigen unionistischen Führern geradezu peinlich. Für
junge politische Talente im konservativen Lager war es eine beispiellose
Gelegenheit, sich hervorzutun: aber es fehlte an Nachwuchs. Dagegen besitzen
die Liberalen eine reiche Auswahl von Führern von staatsmännischer Fähigkeit,
rednerischen Talent und -- worauf es unter der demokratisierten Verfassung
auch ankommt -- von politischer Leidenschaft. Ein Vergleich der liberalen
Regierung mit der letzten konservativen Verwaltung von 1900 bis 1905 kann
nicht zum Vorteil der letzten ausfallen. Ohne Unterschied der Partei wird
zugegeben, daß die rein administrative Tätigkeit der Ministerien sich seit dem
Regierungswechsel wesentlich zum Vorteil verändert hat. Daneben können die
Liberalen auf eine Reihe ansehnlicher Erfolge zurückblicken. Mr. Haldcme hat
die Heeresreform, an der mehrere unionistische Minister ruhmlos gescheitert
waren, unter dem Beifall der Konservativen durchgeführt. Die Verleihung
autonomer Negierungsrechte an den Transvaal und die Oranjekolonie, die die
Konservativen so leidenschaftlich bekämpften, hat sich bewährt, und jetzt ist das
Werk durch die Vereinigung Südafrikas gekrönt. Die Schuld des südafrikanischen
Krieges ist getilgt. Die Bildung kolonialer Flotten vollzieht sich unter liberalen
Auspizien. Gerade die Imperialisten haben den als Klein-Engländern ver¬
schrienen Liberalen wenig vorzuwerfen. Die auswärtige Politik Sir Edward
Greys hat -- wie man auch auf dem Kontinent darüber denken mag -- immer
die Unterstützung der Opposition gefunden. Die indische Politik Lord Morleys
wurde eher von den Radikalen als von der Opposition angefochten. Die inner¬
politischen Leistungen der Liberalen sind natürlich stark umstritten; aber die
Einführung von Altersrenten, ihre ländliche Ansiedlungspolitik, die Einrichtung
von Arbeitsbörsen sind gewiß sozialpolitische Fortschritte. Das vielbekämpfte
Budget Mr. Lloyd-Georges hat jedenfalls das Problem gelöst, die Kosten der
sozialen Reformen und der vermehrten Rüstungen zugleich zu decken; und man
darf billig zweifeln, ob die nächste konservative Negierung die neuen Steuern
abschaffen wird. Außerdem hat die Regierung das große Glück gehabt, daß
ihr Regiment mit einer aufsteigenden Bewegung im Wirtschaftsleben zusammen¬
fiel; und nichts war geeigneter, die Tarifreformbewegung zu diskreditieren,


Die politische Lage in Lnglcmd

verzweifelt wenig politisches Talent. Die „Frontbench" der Opposition, d. h.
die vorderste Bank zur Linken des Sprechers, auf der die Minister von gestern
und von übermorgen sitzen, weist nur wenig Männer von politischem Rang auf.
Diese Schwäche der konservativen Führung ist in der Presse der eignen Partei
oft kritisiert worden. Die Chamberlainsche Politik, die die Zwietracht in das
unionistische Lager warf und allmählich zur Ausstoßung der Freihändler führte,
hat der Partei mehrere Führer von anerkannter Kapazität geraubt. Seit 190<;
ruht allzuviel von der Last des Opponieren?' auf Mr. Balfour, der mit seiner
hervorragenden parlamentarischen Taktik, seiner glänzenden, wenn auch etwas
haarspalterischen Dialektik und seiner ungemeinen Versatilität gerettet hat, was
zu retten war. Nimmt man wenige seiner Kollegen aus, so ist der Abstand
zwischen ihm und den übrigen unionistischen Führern geradezu peinlich. Für
junge politische Talente im konservativen Lager war es eine beispiellose
Gelegenheit, sich hervorzutun: aber es fehlte an Nachwuchs. Dagegen besitzen
die Liberalen eine reiche Auswahl von Führern von staatsmännischer Fähigkeit,
rednerischen Talent und — worauf es unter der demokratisierten Verfassung
auch ankommt — von politischer Leidenschaft. Ein Vergleich der liberalen
Regierung mit der letzten konservativen Verwaltung von 1900 bis 1905 kann
nicht zum Vorteil der letzten ausfallen. Ohne Unterschied der Partei wird
zugegeben, daß die rein administrative Tätigkeit der Ministerien sich seit dem
Regierungswechsel wesentlich zum Vorteil verändert hat. Daneben können die
Liberalen auf eine Reihe ansehnlicher Erfolge zurückblicken. Mr. Haldcme hat
die Heeresreform, an der mehrere unionistische Minister ruhmlos gescheitert
waren, unter dem Beifall der Konservativen durchgeführt. Die Verleihung
autonomer Negierungsrechte an den Transvaal und die Oranjekolonie, die die
Konservativen so leidenschaftlich bekämpften, hat sich bewährt, und jetzt ist das
Werk durch die Vereinigung Südafrikas gekrönt. Die Schuld des südafrikanischen
Krieges ist getilgt. Die Bildung kolonialer Flotten vollzieht sich unter liberalen
Auspizien. Gerade die Imperialisten haben den als Klein-Engländern ver¬
schrienen Liberalen wenig vorzuwerfen. Die auswärtige Politik Sir Edward
Greys hat — wie man auch auf dem Kontinent darüber denken mag — immer
die Unterstützung der Opposition gefunden. Die indische Politik Lord Morleys
wurde eher von den Radikalen als von der Opposition angefochten. Die inner¬
politischen Leistungen der Liberalen sind natürlich stark umstritten; aber die
Einführung von Altersrenten, ihre ländliche Ansiedlungspolitik, die Einrichtung
von Arbeitsbörsen sind gewiß sozialpolitische Fortschritte. Das vielbekämpfte
Budget Mr. Lloyd-Georges hat jedenfalls das Problem gelöst, die Kosten der
sozialen Reformen und der vermehrten Rüstungen zugleich zu decken; und man
darf billig zweifeln, ob die nächste konservative Negierung die neuen Steuern
abschaffen wird. Außerdem hat die Regierung das große Glück gehabt, daß
ihr Regiment mit einer aufsteigenden Bewegung im Wirtschaftsleben zusammen¬
fiel; und nichts war geeigneter, die Tarifreformbewegung zu diskreditieren,


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[0370] Die politische Lage in Lnglcmd verzweifelt wenig politisches Talent. Die „Frontbench" der Opposition, d. h. die vorderste Bank zur Linken des Sprechers, auf der die Minister von gestern und von übermorgen sitzen, weist nur wenig Männer von politischem Rang auf. Diese Schwäche der konservativen Führung ist in der Presse der eignen Partei oft kritisiert worden. Die Chamberlainsche Politik, die die Zwietracht in das unionistische Lager warf und allmählich zur Ausstoßung der Freihändler führte, hat der Partei mehrere Führer von anerkannter Kapazität geraubt. Seit 190<; ruht allzuviel von der Last des Opponieren?' auf Mr. Balfour, der mit seiner hervorragenden parlamentarischen Taktik, seiner glänzenden, wenn auch etwas haarspalterischen Dialektik und seiner ungemeinen Versatilität gerettet hat, was zu retten war. Nimmt man wenige seiner Kollegen aus, so ist der Abstand zwischen ihm und den übrigen unionistischen Führern geradezu peinlich. Für junge politische Talente im konservativen Lager war es eine beispiellose Gelegenheit, sich hervorzutun: aber es fehlte an Nachwuchs. Dagegen besitzen die Liberalen eine reiche Auswahl von Führern von staatsmännischer Fähigkeit, rednerischen Talent und — worauf es unter der demokratisierten Verfassung auch ankommt — von politischer Leidenschaft. Ein Vergleich der liberalen Regierung mit der letzten konservativen Verwaltung von 1900 bis 1905 kann nicht zum Vorteil der letzten ausfallen. Ohne Unterschied der Partei wird zugegeben, daß die rein administrative Tätigkeit der Ministerien sich seit dem Regierungswechsel wesentlich zum Vorteil verändert hat. Daneben können die Liberalen auf eine Reihe ansehnlicher Erfolge zurückblicken. Mr. Haldcme hat die Heeresreform, an der mehrere unionistische Minister ruhmlos gescheitert waren, unter dem Beifall der Konservativen durchgeführt. Die Verleihung autonomer Negierungsrechte an den Transvaal und die Oranjekolonie, die die Konservativen so leidenschaftlich bekämpften, hat sich bewährt, und jetzt ist das Werk durch die Vereinigung Südafrikas gekrönt. Die Schuld des südafrikanischen Krieges ist getilgt. Die Bildung kolonialer Flotten vollzieht sich unter liberalen Auspizien. Gerade die Imperialisten haben den als Klein-Engländern ver¬ schrienen Liberalen wenig vorzuwerfen. Die auswärtige Politik Sir Edward Greys hat — wie man auch auf dem Kontinent darüber denken mag — immer die Unterstützung der Opposition gefunden. Die indische Politik Lord Morleys wurde eher von den Radikalen als von der Opposition angefochten. Die inner¬ politischen Leistungen der Liberalen sind natürlich stark umstritten; aber die Einführung von Altersrenten, ihre ländliche Ansiedlungspolitik, die Einrichtung von Arbeitsbörsen sind gewiß sozialpolitische Fortschritte. Das vielbekämpfte Budget Mr. Lloyd-Georges hat jedenfalls das Problem gelöst, die Kosten der sozialen Reformen und der vermehrten Rüstungen zugleich zu decken; und man darf billig zweifeln, ob die nächste konservative Negierung die neuen Steuern abschaffen wird. Außerdem hat die Regierung das große Glück gehabt, daß ihr Regiment mit einer aufsteigenden Bewegung im Wirtschaftsleben zusammen¬ fiel; und nichts war geeigneter, die Tarifreformbewegung zu diskreditieren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/370>, abgerufen am 23.07.2024.