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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Lage in England

noch inkommensurable Größen; es ist nicht abzusehen, welche Bedeutung sie
künftig in der Politik und bei den Wahlen gewinnen werden. Nur das ist
sicher, daß ein Teil der jungen Generation schon jetzt der alten parlamentarischen
Partei, um nicht mehr zu sagen, kritisch gegenübersteht. Je weniger nun die
politische Bedeutung dieses neuen nationalen Lebens zu übersehen ist, desto
vorsichtiger muß die Partei handeln. Denn für sie steht ihr ganzer Bestand,
und für viele ihrer Mitglieder, die von den Diäten aus der Parteikasse leben,
steht ihre politische, vielleicht ihre wirtschaftliche Zukunft auf dem Spiel. Dazu
kommt, daß Mr. Nedmond im Grunde doch nur der Titularhäuptling der par¬
lamentarischen Partei ist. Er ist kein "starker Mann", kein Autokrat, wie
Parnell es war; er muß stets nach Dublin hinhorchen, wo die eigentlichen
Drahtzieher der, Partei sitzen. Unter diesen Umständen konnte man von
Mr. Nedmond keinen mutigen Entschluß erwarten, mit den Liberalen gemein¬
same Sache zu machen. Nur Schritt vor Schritt, unter ständigen Ver¬
klausulierungen, gab er ihnen die Unterstützung seiner Partei. Schließlich ließen
die Iren das vorjährige Budget durchgehen, demi nun auch von dem Ober¬
hause keine Schwierigkeiten mehr in den Weg gestellt wurden; aber sie besaßen
ein neues Pfand in dem diesjährigen Budget. Dessen Erledigung ist deshalb
in die Herbstsession hinausgeschoben worden, so daß die Iren noch immer in
der Lage waren, die liberale Regierung zu stürzen, sobald ihre Haltung in der
Verfassungsfrage ihren Erwartungen nicht entsprach.

Die Regierung hatte aber nicht nur auf ihre Verbündeten, sondern auch auf
einen Teil ihrer Anhänger Rücksicht zu nehmen. Die liberale Partei -- und
ebenso die liberale Regierung -- besteht aus einem gemäßigten und einem
radikalen Flügel. Zwischen beiden bestehen Meinungsverschiedenheiten und
Gegensätze, die unbequem und sogar kritisch werden können; wurde doch die
Flottenpanik vom März 1909 eigens von der Regierung in Szene gesetzt, um
den Widerstand der Radikalen gegen die Etatserhöhung und das vergrößerte
Schiffsbauprogramm zu überwinden. In der Verfassungsfrage waren die
Radikalen sehr entschieden gegen eine Reform des Oberhauses, und die Regierung
sah sich genötigt, sich diesen ihren Wünschen zu fügen. Die Haltung der Radikalen
einerseits -- die Arbeiterpartei nahm ungefähr denselben Standpunkt ein --
und der Iren anderseits ließen der Negierung keine große Bewegungsfreiheit.
Wenn sie etwa bereit gewesen wäre, dem Oberhause ein größeres Maß von
Zugeständnissen zu machen, so mußte sie damit rechnen, daß ihre Verbündeten
sie bei einer entscheidenden Abstimmung in: Stiche lassen, und daß die Radikalen
von der Partei abspringen und sich vielleicht mit der Arbeiterpartei vereinigen
würden.

War so die Lage der Regierung schwierig genug, so hatte sie doch keinen
Grund, die Opposition zu beneiden. Die unionistische Partei war seit den Wahlen
von 1906 übel daran; sie war auf eine schwache Minderheit reduziert, und
unter den vielen neuen Parlamentariern, die 1906 gewählt waren, gab es


Die politische Lage in England

noch inkommensurable Größen; es ist nicht abzusehen, welche Bedeutung sie
künftig in der Politik und bei den Wahlen gewinnen werden. Nur das ist
sicher, daß ein Teil der jungen Generation schon jetzt der alten parlamentarischen
Partei, um nicht mehr zu sagen, kritisch gegenübersteht. Je weniger nun die
politische Bedeutung dieses neuen nationalen Lebens zu übersehen ist, desto
vorsichtiger muß die Partei handeln. Denn für sie steht ihr ganzer Bestand,
und für viele ihrer Mitglieder, die von den Diäten aus der Parteikasse leben,
steht ihre politische, vielleicht ihre wirtschaftliche Zukunft auf dem Spiel. Dazu
kommt, daß Mr. Nedmond im Grunde doch nur der Titularhäuptling der par¬
lamentarischen Partei ist. Er ist kein „starker Mann", kein Autokrat, wie
Parnell es war; er muß stets nach Dublin hinhorchen, wo die eigentlichen
Drahtzieher der, Partei sitzen. Unter diesen Umständen konnte man von
Mr. Nedmond keinen mutigen Entschluß erwarten, mit den Liberalen gemein¬
same Sache zu machen. Nur Schritt vor Schritt, unter ständigen Ver¬
klausulierungen, gab er ihnen die Unterstützung seiner Partei. Schließlich ließen
die Iren das vorjährige Budget durchgehen, demi nun auch von dem Ober¬
hause keine Schwierigkeiten mehr in den Weg gestellt wurden; aber sie besaßen
ein neues Pfand in dem diesjährigen Budget. Dessen Erledigung ist deshalb
in die Herbstsession hinausgeschoben worden, so daß die Iren noch immer in
der Lage waren, die liberale Regierung zu stürzen, sobald ihre Haltung in der
Verfassungsfrage ihren Erwartungen nicht entsprach.

Die Regierung hatte aber nicht nur auf ihre Verbündeten, sondern auch auf
einen Teil ihrer Anhänger Rücksicht zu nehmen. Die liberale Partei — und
ebenso die liberale Regierung — besteht aus einem gemäßigten und einem
radikalen Flügel. Zwischen beiden bestehen Meinungsverschiedenheiten und
Gegensätze, die unbequem und sogar kritisch werden können; wurde doch die
Flottenpanik vom März 1909 eigens von der Regierung in Szene gesetzt, um
den Widerstand der Radikalen gegen die Etatserhöhung und das vergrößerte
Schiffsbauprogramm zu überwinden. In der Verfassungsfrage waren die
Radikalen sehr entschieden gegen eine Reform des Oberhauses, und die Regierung
sah sich genötigt, sich diesen ihren Wünschen zu fügen. Die Haltung der Radikalen
einerseits — die Arbeiterpartei nahm ungefähr denselben Standpunkt ein —
und der Iren anderseits ließen der Negierung keine große Bewegungsfreiheit.
Wenn sie etwa bereit gewesen wäre, dem Oberhause ein größeres Maß von
Zugeständnissen zu machen, so mußte sie damit rechnen, daß ihre Verbündeten
sie bei einer entscheidenden Abstimmung in: Stiche lassen, und daß die Radikalen
von der Partei abspringen und sich vielleicht mit der Arbeiterpartei vereinigen
würden.

War so die Lage der Regierung schwierig genug, so hatte sie doch keinen
Grund, die Opposition zu beneiden. Die unionistische Partei war seit den Wahlen
von 1906 übel daran; sie war auf eine schwache Minderheit reduziert, und
unter den vielen neuen Parlamentariern, die 1906 gewählt waren, gab es


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[0369] Die politische Lage in England noch inkommensurable Größen; es ist nicht abzusehen, welche Bedeutung sie künftig in der Politik und bei den Wahlen gewinnen werden. Nur das ist sicher, daß ein Teil der jungen Generation schon jetzt der alten parlamentarischen Partei, um nicht mehr zu sagen, kritisch gegenübersteht. Je weniger nun die politische Bedeutung dieses neuen nationalen Lebens zu übersehen ist, desto vorsichtiger muß die Partei handeln. Denn für sie steht ihr ganzer Bestand, und für viele ihrer Mitglieder, die von den Diäten aus der Parteikasse leben, steht ihre politische, vielleicht ihre wirtschaftliche Zukunft auf dem Spiel. Dazu kommt, daß Mr. Nedmond im Grunde doch nur der Titularhäuptling der par¬ lamentarischen Partei ist. Er ist kein „starker Mann", kein Autokrat, wie Parnell es war; er muß stets nach Dublin hinhorchen, wo die eigentlichen Drahtzieher der, Partei sitzen. Unter diesen Umständen konnte man von Mr. Nedmond keinen mutigen Entschluß erwarten, mit den Liberalen gemein¬ same Sache zu machen. Nur Schritt vor Schritt, unter ständigen Ver¬ klausulierungen, gab er ihnen die Unterstützung seiner Partei. Schließlich ließen die Iren das vorjährige Budget durchgehen, demi nun auch von dem Ober¬ hause keine Schwierigkeiten mehr in den Weg gestellt wurden; aber sie besaßen ein neues Pfand in dem diesjährigen Budget. Dessen Erledigung ist deshalb in die Herbstsession hinausgeschoben worden, so daß die Iren noch immer in der Lage waren, die liberale Regierung zu stürzen, sobald ihre Haltung in der Verfassungsfrage ihren Erwartungen nicht entsprach. Die Regierung hatte aber nicht nur auf ihre Verbündeten, sondern auch auf einen Teil ihrer Anhänger Rücksicht zu nehmen. Die liberale Partei — und ebenso die liberale Regierung — besteht aus einem gemäßigten und einem radikalen Flügel. Zwischen beiden bestehen Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze, die unbequem und sogar kritisch werden können; wurde doch die Flottenpanik vom März 1909 eigens von der Regierung in Szene gesetzt, um den Widerstand der Radikalen gegen die Etatserhöhung und das vergrößerte Schiffsbauprogramm zu überwinden. In der Verfassungsfrage waren die Radikalen sehr entschieden gegen eine Reform des Oberhauses, und die Regierung sah sich genötigt, sich diesen ihren Wünschen zu fügen. Die Haltung der Radikalen einerseits — die Arbeiterpartei nahm ungefähr denselben Standpunkt ein — und der Iren anderseits ließen der Negierung keine große Bewegungsfreiheit. Wenn sie etwa bereit gewesen wäre, dem Oberhause ein größeres Maß von Zugeständnissen zu machen, so mußte sie damit rechnen, daß ihre Verbündeten sie bei einer entscheidenden Abstimmung in: Stiche lassen, und daß die Radikalen von der Partei abspringen und sich vielleicht mit der Arbeiterpartei vereinigen würden. War so die Lage der Regierung schwierig genug, so hatte sie doch keinen Grund, die Opposition zu beneiden. Die unionistische Partei war seit den Wahlen von 1906 übel daran; sie war auf eine schwache Minderheit reduziert, und unter den vielen neuen Parlamentariern, die 1906 gewählt waren, gab es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/369>, abgerufen am 23.07.2024.