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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der neue deutsche Shakespeare

So wurde aus Zeit und Geist der erste deutsche Shakespeare.

Wenn Erwin Kalischer in der "Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft" (V. Band Heft 1) die Wirkung dieses Shakespeare gegenüber
den älteren Übersetzungen in des Dichters neues Erleben der sprachlichen Gewalt
setzt, so saßt er das Geheimnis in einem und nicht seinem geringsten Teile,
nicht aber in seiner Ganzheit und nicht in seiner Mitte. Er enthüllt die vom
Zentrum zur Peripherie durchbrechende Kraft, die ganz neu von den Feuern
des Innern durchglutet ist; aber diese durchbrechende Glut selbst, das mittlere
Feuer enthüllt er nicht. Und doch ist das, was wir vorher genetisch ableiteten,
epideiktisch zu bewahrheiten. Die vielen Stellen, die Kalischer und Bab in der
"Schaubühne", 1908 Heft 63, 1910 Heft 8 und 9 herbeigezogen haben, um
die durch die neue Sprache verlebendigte Dichtung darzutun, beweisen die tiefere,
die innere Umgestaltung der früheren Übersetzung, die wesentliche Erweckung
des alten Dichtgutes, das wirkende Zentrum der Neuschöpfung. Wenn die mit
Recht von Kalischer hoch berufene Stelle des Coriolan:


Mein Name ist Cajus Marcius, der dir selbst
Und allen Vvlskern großes Weh n"d Unheil
Gebräche hat: davon zeuge mein Beiname
Cvrivlmms

die ihr von Kalischer ganz vortrefflich zugeschriebene Eignung besitzt: "Ein
Rhythmus ist geschaffen. Aber geschaffen. Heraufgestiegen wie aus einer
Gärung, in die die Shakespearesche Stelle die Seele setzt, und diese Übertragung
es damit über die matte "Paraphrase" der älteren Übersetzung leuchtend hebt:


Mein Nam' ist Cujus Marcius, der dich selbst
Zuerst und alle deine Landsgeuossen
Sehr schwer verletzt' und elend machte; zeuge,
Mein dritter Name Coriolan

so stammt die wegräumende Gewalt Ulld unantastbare Wucht der Neuschöpfung
in ihren: Letzten nicht aus dem Rhythmus und auch nicht aus der Gärung,
sondern aus einem sicheren, urtümlichen und umfänglich darstellbaren Vorgang:
der lebendigen Wiederempfängnis der heroisch-kultischen Geistverfassung, in der
Shakespeare den Coriolanus aus sich setzte. Das große Atmen einer zeitlos
überweltlichen Gestalt, vor der der Dichter in Schauer fällt, weil sie ihm zum
halbgöttlich fliegenden Gebild seiner eigenen, innerlich erfahrenen, gegenwärtigen
Welt wird, warf ihn aus den Gleisen gewohnter Sprache, schleuderte ihn in
die Maße seines gigantischen Gesichts, das aus der willfährigen Sprache die
originäre Sprachform seines Blutes zeugte. Darum das:


tbereto vitnoss MA^
humane Loriolanus.

Der Rhythmus ist vom Kult des irdischen Halbgotts geschaffen, ist das Maß
irdisch schreitender Füße, die ihr eigen Wesen vergöttlicht erlebten und ihm
zueilen, in ihrem Schritte von seinen: Anschaun, dem Drang seiner Nähe


Der neue deutsche Shakespeare

So wurde aus Zeit und Geist der erste deutsche Shakespeare.

Wenn Erwin Kalischer in der „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft" (V. Band Heft 1) die Wirkung dieses Shakespeare gegenüber
den älteren Übersetzungen in des Dichters neues Erleben der sprachlichen Gewalt
setzt, so saßt er das Geheimnis in einem und nicht seinem geringsten Teile,
nicht aber in seiner Ganzheit und nicht in seiner Mitte. Er enthüllt die vom
Zentrum zur Peripherie durchbrechende Kraft, die ganz neu von den Feuern
des Innern durchglutet ist; aber diese durchbrechende Glut selbst, das mittlere
Feuer enthüllt er nicht. Und doch ist das, was wir vorher genetisch ableiteten,
epideiktisch zu bewahrheiten. Die vielen Stellen, die Kalischer und Bab in der
„Schaubühne", 1908 Heft 63, 1910 Heft 8 und 9 herbeigezogen haben, um
die durch die neue Sprache verlebendigte Dichtung darzutun, beweisen die tiefere,
die innere Umgestaltung der früheren Übersetzung, die wesentliche Erweckung
des alten Dichtgutes, das wirkende Zentrum der Neuschöpfung. Wenn die mit
Recht von Kalischer hoch berufene Stelle des Coriolan:


Mein Name ist Cajus Marcius, der dir selbst
Und allen Vvlskern großes Weh n»d Unheil
Gebräche hat: davon zeuge mein Beiname
Cvrivlmms

die ihr von Kalischer ganz vortrefflich zugeschriebene Eignung besitzt: „Ein
Rhythmus ist geschaffen. Aber geschaffen. Heraufgestiegen wie aus einer
Gärung, in die die Shakespearesche Stelle die Seele setzt, und diese Übertragung
es damit über die matte „Paraphrase" der älteren Übersetzung leuchtend hebt:


Mein Nam' ist Cujus Marcius, der dich selbst
Zuerst und alle deine Landsgeuossen
Sehr schwer verletzt' und elend machte; zeuge,
Mein dritter Name Coriolan

so stammt die wegräumende Gewalt Ulld unantastbare Wucht der Neuschöpfung
in ihren: Letzten nicht aus dem Rhythmus und auch nicht aus der Gärung,
sondern aus einem sicheren, urtümlichen und umfänglich darstellbaren Vorgang:
der lebendigen Wiederempfängnis der heroisch-kultischen Geistverfassung, in der
Shakespeare den Coriolanus aus sich setzte. Das große Atmen einer zeitlos
überweltlichen Gestalt, vor der der Dichter in Schauer fällt, weil sie ihm zum
halbgöttlich fliegenden Gebild seiner eigenen, innerlich erfahrenen, gegenwärtigen
Welt wird, warf ihn aus den Gleisen gewohnter Sprache, schleuderte ihn in
die Maße seines gigantischen Gesichts, das aus der willfährigen Sprache die
originäre Sprachform seines Blutes zeugte. Darum das:


tbereto vitnoss MA^
humane Loriolanus.

Der Rhythmus ist vom Kult des irdischen Halbgotts geschaffen, ist das Maß
irdisch schreitender Füße, die ihr eigen Wesen vergöttlicht erlebten und ihm
zueilen, in ihrem Schritte von seinen: Anschaun, dem Drang seiner Nähe


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[0363] Der neue deutsche Shakespeare So wurde aus Zeit und Geist der erste deutsche Shakespeare. Wenn Erwin Kalischer in der „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft" (V. Band Heft 1) die Wirkung dieses Shakespeare gegenüber den älteren Übersetzungen in des Dichters neues Erleben der sprachlichen Gewalt setzt, so saßt er das Geheimnis in einem und nicht seinem geringsten Teile, nicht aber in seiner Ganzheit und nicht in seiner Mitte. Er enthüllt die vom Zentrum zur Peripherie durchbrechende Kraft, die ganz neu von den Feuern des Innern durchglutet ist; aber diese durchbrechende Glut selbst, das mittlere Feuer enthüllt er nicht. Und doch ist das, was wir vorher genetisch ableiteten, epideiktisch zu bewahrheiten. Die vielen Stellen, die Kalischer und Bab in der „Schaubühne", 1908 Heft 63, 1910 Heft 8 und 9 herbeigezogen haben, um die durch die neue Sprache verlebendigte Dichtung darzutun, beweisen die tiefere, die innere Umgestaltung der früheren Übersetzung, die wesentliche Erweckung des alten Dichtgutes, das wirkende Zentrum der Neuschöpfung. Wenn die mit Recht von Kalischer hoch berufene Stelle des Coriolan: Mein Name ist Cajus Marcius, der dir selbst Und allen Vvlskern großes Weh n»d Unheil Gebräche hat: davon zeuge mein Beiname Cvrivlmms die ihr von Kalischer ganz vortrefflich zugeschriebene Eignung besitzt: „Ein Rhythmus ist geschaffen. Aber geschaffen. Heraufgestiegen wie aus einer Gärung, in die die Shakespearesche Stelle die Seele setzt, und diese Übertragung es damit über die matte „Paraphrase" der älteren Übersetzung leuchtend hebt: Mein Nam' ist Cujus Marcius, der dich selbst Zuerst und alle deine Landsgeuossen Sehr schwer verletzt' und elend machte; zeuge, Mein dritter Name Coriolan so stammt die wegräumende Gewalt Ulld unantastbare Wucht der Neuschöpfung in ihren: Letzten nicht aus dem Rhythmus und auch nicht aus der Gärung, sondern aus einem sicheren, urtümlichen und umfänglich darstellbaren Vorgang: der lebendigen Wiederempfängnis der heroisch-kultischen Geistverfassung, in der Shakespeare den Coriolanus aus sich setzte. Das große Atmen einer zeitlos überweltlichen Gestalt, vor der der Dichter in Schauer fällt, weil sie ihm zum halbgöttlich fliegenden Gebild seiner eigenen, innerlich erfahrenen, gegenwärtigen Welt wird, warf ihn aus den Gleisen gewohnter Sprache, schleuderte ihn in die Maße seines gigantischen Gesichts, das aus der willfährigen Sprache die originäre Sprachform seines Blutes zeugte. Darum das: tbereto vitnoss MA^ humane Loriolanus. Der Rhythmus ist vom Kult des irdischen Halbgotts geschaffen, ist das Maß irdisch schreitender Füße, die ihr eigen Wesen vergöttlicht erlebten und ihm zueilen, in ihrem Schritte von seinen: Anschaun, dem Drang seiner Nähe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/363>, abgerufen am 23.07.2024.