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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der neue deutsche Shakespeare

wie er ihre eigenen dichterischen Kräfte aus ihrem eigenen Blute wirksam
machen will.

Nun scheint die Zeit wieder da für eine Neugeburt des Dichterischen: die
junge Generation ersehnt es und begreift es in der Zeit. Wo es im einzelnen
liegt und zu finden ist, ist hier nicht der Ort, aufzuzeigen. Genug, daß ein
solch unbedingtes, die Zeit mit einem besondern künstlerischen -1°°-; und einer
besondern künstlerischen zö-^" repräsentierendes Dichterische da ist und von ihr
begriffen wird. Da hinein wurde der neue Shakespeare Gundolfs geboren --
in diesen weitesten und gültigsten Rahmen lebendiger Dichtung und nicht in
das Rähmchen einer Literatnrgattung. Und so zeigt er -- und er zum ersten¬
mal kann es -- den Dichter selbst, Shakespeare, in seinein unliterarischen Begriff,
als den mächtigen kultischen Sprecher einer Zeit und eines Volkes, den ungeheueren
Former (Bewältiger mit künstlerischem Organ) des Kulturstoffs einer ganzen,
lebendigen Epoche, den geistigen Herrn der Zeit, insofern er allein über ihr
ganzes Gut, einschließlich aller andern Tätigkeitsformen, wirkend verfügt").

Aber er konnte es nur, weil dein allgemeinen Zeitverhalten und -bedürfen
in ihm eine Kraft antwortete, die die fordernden Stimmen, noch ehe sie laut
geworden, innerlich seherisch gehört und in ihrer Befolgung sich zu jener
bedingenden dichterischen Verfassung heraufgenährt hatte, die wir als ein wechsel¬
seitiges Sichdurchdringen von verehrender Sehen und begeistertem Werktrieb
festgestellt haben, und weil die Bildform, die Materie, in der sich diese geistige
Verfassung auswirkte und darstellte, diejenige Shakespeares, den heroischen Menschen,
so nahe berührte, daß ein unmittelbares Ergreifen des frühen und fremden
Genius möglich war.

Die ersten Veröffentlichungen Gundolfs, vor allein der Fortunat""), leben
noch nicht von dieser zentralen Herrschaft eines allgemeinen und unbedingten
inneren Gesetzes. Im Fortunat sind die leuchtenden dichterischen Kräfte gleichsam
noch an ihr eigenes Anschaun, ein taubes Sich-selbst-genügen, Jn-sich-selbst-
Verliebtsein verloren. Sie steigern sich sozusagen durch die Berauschung
an ihrem eigenen Glänze zu Höhen, welche sehr beträchtlich sind; aber sie
werden nicht von innen, von einem unsichtbaren stoßenden Kerne zusammen¬
geschossen auf eine das Ganze überschauende und ihm gipfelhafte Form gebende
Höhe. Noch fehlt das Verlorensein an die eine Gestalt, die eine Tat, welche
alles Dichten in ihre eine Nichte schmilzt und mit ihrem zentralen Brande das
ganze Gebild gestaltiger und farbiger macht als der jagende und fliehende
Wechsel nur sich selbst genügender dichterischer Bilder. Doch sind Hindeutungen
des gerechten dichterischen Verlangens in jenem Wege vorhanden. Der Spruch
des Lenardo im vierten Gesänge verrät etwas von dem Drängen der dichterischen




") Bql. hierzu Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst, insbesondere S, 52 ff.
(Berlin 1910, Einhorn-Presse.)
Fortunat. Vier Gesänge von Friedrich Gundolf. Mit Titelzeichnung von Ernst
Gundolf. Berlin 1903. Verlag der Blatter für die Kunst.
Der neue deutsche Shakespeare

wie er ihre eigenen dichterischen Kräfte aus ihrem eigenen Blute wirksam
machen will.

Nun scheint die Zeit wieder da für eine Neugeburt des Dichterischen: die
junge Generation ersehnt es und begreift es in der Zeit. Wo es im einzelnen
liegt und zu finden ist, ist hier nicht der Ort, aufzuzeigen. Genug, daß ein
solch unbedingtes, die Zeit mit einem besondern künstlerischen -1°°-; und einer
besondern künstlerischen zö-^« repräsentierendes Dichterische da ist und von ihr
begriffen wird. Da hinein wurde der neue Shakespeare Gundolfs geboren —
in diesen weitesten und gültigsten Rahmen lebendiger Dichtung und nicht in
das Rähmchen einer Literatnrgattung. Und so zeigt er — und er zum ersten¬
mal kann es — den Dichter selbst, Shakespeare, in seinein unliterarischen Begriff,
als den mächtigen kultischen Sprecher einer Zeit und eines Volkes, den ungeheueren
Former (Bewältiger mit künstlerischem Organ) des Kulturstoffs einer ganzen,
lebendigen Epoche, den geistigen Herrn der Zeit, insofern er allein über ihr
ganzes Gut, einschließlich aller andern Tätigkeitsformen, wirkend verfügt").

Aber er konnte es nur, weil dein allgemeinen Zeitverhalten und -bedürfen
in ihm eine Kraft antwortete, die die fordernden Stimmen, noch ehe sie laut
geworden, innerlich seherisch gehört und in ihrer Befolgung sich zu jener
bedingenden dichterischen Verfassung heraufgenährt hatte, die wir als ein wechsel¬
seitiges Sichdurchdringen von verehrender Sehen und begeistertem Werktrieb
festgestellt haben, und weil die Bildform, die Materie, in der sich diese geistige
Verfassung auswirkte und darstellte, diejenige Shakespeares, den heroischen Menschen,
so nahe berührte, daß ein unmittelbares Ergreifen des frühen und fremden
Genius möglich war.

Die ersten Veröffentlichungen Gundolfs, vor allein der Fortunat""), leben
noch nicht von dieser zentralen Herrschaft eines allgemeinen und unbedingten
inneren Gesetzes. Im Fortunat sind die leuchtenden dichterischen Kräfte gleichsam
noch an ihr eigenes Anschaun, ein taubes Sich-selbst-genügen, Jn-sich-selbst-
Verliebtsein verloren. Sie steigern sich sozusagen durch die Berauschung
an ihrem eigenen Glänze zu Höhen, welche sehr beträchtlich sind; aber sie
werden nicht von innen, von einem unsichtbaren stoßenden Kerne zusammen¬
geschossen auf eine das Ganze überschauende und ihm gipfelhafte Form gebende
Höhe. Noch fehlt das Verlorensein an die eine Gestalt, die eine Tat, welche
alles Dichten in ihre eine Nichte schmilzt und mit ihrem zentralen Brande das
ganze Gebild gestaltiger und farbiger macht als der jagende und fliehende
Wechsel nur sich selbst genügender dichterischer Bilder. Doch sind Hindeutungen
des gerechten dichterischen Verlangens in jenem Wege vorhanden. Der Spruch
des Lenardo im vierten Gesänge verrät etwas von dem Drängen der dichterischen




«) Bql. hierzu Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst, insbesondere S, 52 ff.
(Berlin 1910, Einhorn-Presse.)
Fortunat. Vier Gesänge von Friedrich Gundolf. Mit Titelzeichnung von Ernst
Gundolf. Berlin 1903. Verlag der Blatter für die Kunst.
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[0361] Der neue deutsche Shakespeare wie er ihre eigenen dichterischen Kräfte aus ihrem eigenen Blute wirksam machen will. Nun scheint die Zeit wieder da für eine Neugeburt des Dichterischen: die junge Generation ersehnt es und begreift es in der Zeit. Wo es im einzelnen liegt und zu finden ist, ist hier nicht der Ort, aufzuzeigen. Genug, daß ein solch unbedingtes, die Zeit mit einem besondern künstlerischen -1°°-; und einer besondern künstlerischen zö-^« repräsentierendes Dichterische da ist und von ihr begriffen wird. Da hinein wurde der neue Shakespeare Gundolfs geboren — in diesen weitesten und gültigsten Rahmen lebendiger Dichtung und nicht in das Rähmchen einer Literatnrgattung. Und so zeigt er — und er zum ersten¬ mal kann es — den Dichter selbst, Shakespeare, in seinein unliterarischen Begriff, als den mächtigen kultischen Sprecher einer Zeit und eines Volkes, den ungeheueren Former (Bewältiger mit künstlerischem Organ) des Kulturstoffs einer ganzen, lebendigen Epoche, den geistigen Herrn der Zeit, insofern er allein über ihr ganzes Gut, einschließlich aller andern Tätigkeitsformen, wirkend verfügt"). Aber er konnte es nur, weil dein allgemeinen Zeitverhalten und -bedürfen in ihm eine Kraft antwortete, die die fordernden Stimmen, noch ehe sie laut geworden, innerlich seherisch gehört und in ihrer Befolgung sich zu jener bedingenden dichterischen Verfassung heraufgenährt hatte, die wir als ein wechsel¬ seitiges Sichdurchdringen von verehrender Sehen und begeistertem Werktrieb festgestellt haben, und weil die Bildform, die Materie, in der sich diese geistige Verfassung auswirkte und darstellte, diejenige Shakespeares, den heroischen Menschen, so nahe berührte, daß ein unmittelbares Ergreifen des frühen und fremden Genius möglich war. Die ersten Veröffentlichungen Gundolfs, vor allein der Fortunat""), leben noch nicht von dieser zentralen Herrschaft eines allgemeinen und unbedingten inneren Gesetzes. Im Fortunat sind die leuchtenden dichterischen Kräfte gleichsam noch an ihr eigenes Anschaun, ein taubes Sich-selbst-genügen, Jn-sich-selbst- Verliebtsein verloren. Sie steigern sich sozusagen durch die Berauschung an ihrem eigenen Glänze zu Höhen, welche sehr beträchtlich sind; aber sie werden nicht von innen, von einem unsichtbaren stoßenden Kerne zusammen¬ geschossen auf eine das Ganze überschauende und ihm gipfelhafte Form gebende Höhe. Noch fehlt das Verlorensein an die eine Gestalt, die eine Tat, welche alles Dichten in ihre eine Nichte schmilzt und mit ihrem zentralen Brande das ganze Gebild gestaltiger und farbiger macht als der jagende und fliehende Wechsel nur sich selbst genügender dichterischer Bilder. Doch sind Hindeutungen des gerechten dichterischen Verlangens in jenem Wege vorhanden. Der Spruch des Lenardo im vierten Gesänge verrät etwas von dem Drängen der dichterischen «) Bql. hierzu Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst, insbesondere S, 52 ff. (Berlin 1910, Einhorn-Presse.) Fortunat. Vier Gesänge von Friedrich Gundolf. Mit Titelzeichnung von Ernst Gundolf. Berlin 1903. Verlag der Blatter für die Kunst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/361>, abgerufen am 23.07.2024.