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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die neuen Forschungsinstitute

verkennen, daß hier und da in den Kreisen der Professoren die Lehrtätigkeit
heute als etwas Lästiges, als eine leidige Pflicht empfunden wird. Und nicht
wenige Professoren haben ein Recht, zu seufzen und zu klagen. Besonders an
den großen Universitäten mit ihren Scharen von Zuhörern sind manche Uni¬
versitätslehrer geradezu überbürdet, wenn auch weniger durch Vorlesungen als
durch andre mit der Lehrtätigkeit zusammenhängende Pflichten. Da sind zahl¬
reiche Studenten in den Übungen anzuleiten, Seminararbeiten müssen korrigiert
werden, Dissertationen und Prüfungsarbeiten erfordern eine zeitraubende Durch¬
sicht. Aber muß die Abhilfe für diese unzweifelhaft vorhandenen Mißstände
dadurch erstrebt werden, daß man die hervorragendsten Gelehrten ganz aus
dem Lehrberuf entfernt und sie nur auf die wissenschaftliche Forschung verweist?
Läge es nicht näher, die Professuren zu vermehren oder auf sonstige Weise die
überbürdeten Universitätslehrer zu entlasten?

Mit vollem Recht betrachtet Friedrich Paulsen es als den besonderen
Charakter der deutschen Universität, daß sie zugleich Werkstätte für die wissenschaft¬
liche Forschung und Anstalt für den wissenschaftlichen Unterricht sei. Auch in
Oxford und Cambridge, sagt er, gebe es vortreffliche Gelehrte; aber doch werde
niemand die englischen Universitäten als die Träger der wissenschaftlichen Arbeit
des Landes bezeichnen. Viele der berühmtesten Gelehrten, wie Darwin,
Spencer, Mill, Macaulan, Gibbon, Bentham und Ricardo, hätten außerhalb
der Universitäten gestanden. Auch die Gelehrten an den englischen Universitäten
hielten nur ein paar Dutzend Vorträge im Jahr; der eigentliche Unterricht liege
in den Händen der Fellows und Tutors. Ähnlich sei es in Frankreich. Die
großen Gelehrten seien wohl Mitglieder der Akademie und hielten einige öffent¬
liche Vorträge in der Sorbonne; sie seien aber nicht die wirklichen täglichen
Lehrer der akademischen Jugend. Umgekehrt werde in Frankreich von den
Lehrern an den Fakultäten uicht gerade verlangt, daß sie wissenschaftliche
Forscher seien. Ganz anders in Deutschland. Hier gelte der Satz wenigstens
als Regel, daß alle Universitätslehrer wissenschaftliche Forscher und umgekehrt
alle wissenschaftlichen Forscher Universitätsprofessoren seien. Wenn von einem
deutschen Gelehrten die Rede sei, so frage man sogleich: "An welcher Universität
ist er?" Und wenn er an keiner sei, so dürfe man voraussetzen, daß er dies
als eine Zurücksetzung empfindet.

Und nun schildert Paulsen, wie bedeutsame Folgen dies Verhältnis für die
Gestaltung unsres gesamten geistigen und wissenschaftlichen Lebens hat. Zunächst
kennzeichnet er den wohltätigen Einfluß der großen Lehrer. "Unsre Denker und
Forscher," sagt er, "sind unserm Volk nicht bloß als Schriftsteller vom Papier
her, sondern als persönliche Lehrer von Angesicht zu Angesicht bekannt." Er
erinnert daran, daß Männer wie Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher
vor allem als akademische Lehrer aus ihre Zeit gewirkt haben. Dasselbe gelte
von den großen Philologen Henne, Friedrich August Wolf und Gottfried
Hermann. Es sei ein Glück für die deutsche Jugend, daß sie auf der Universität


Die neuen Forschungsinstitute

verkennen, daß hier und da in den Kreisen der Professoren die Lehrtätigkeit
heute als etwas Lästiges, als eine leidige Pflicht empfunden wird. Und nicht
wenige Professoren haben ein Recht, zu seufzen und zu klagen. Besonders an
den großen Universitäten mit ihren Scharen von Zuhörern sind manche Uni¬
versitätslehrer geradezu überbürdet, wenn auch weniger durch Vorlesungen als
durch andre mit der Lehrtätigkeit zusammenhängende Pflichten. Da sind zahl¬
reiche Studenten in den Übungen anzuleiten, Seminararbeiten müssen korrigiert
werden, Dissertationen und Prüfungsarbeiten erfordern eine zeitraubende Durch¬
sicht. Aber muß die Abhilfe für diese unzweifelhaft vorhandenen Mißstände
dadurch erstrebt werden, daß man die hervorragendsten Gelehrten ganz aus
dem Lehrberuf entfernt und sie nur auf die wissenschaftliche Forschung verweist?
Läge es nicht näher, die Professuren zu vermehren oder auf sonstige Weise die
überbürdeten Universitätslehrer zu entlasten?

Mit vollem Recht betrachtet Friedrich Paulsen es als den besonderen
Charakter der deutschen Universität, daß sie zugleich Werkstätte für die wissenschaft¬
liche Forschung und Anstalt für den wissenschaftlichen Unterricht sei. Auch in
Oxford und Cambridge, sagt er, gebe es vortreffliche Gelehrte; aber doch werde
niemand die englischen Universitäten als die Träger der wissenschaftlichen Arbeit
des Landes bezeichnen. Viele der berühmtesten Gelehrten, wie Darwin,
Spencer, Mill, Macaulan, Gibbon, Bentham und Ricardo, hätten außerhalb
der Universitäten gestanden. Auch die Gelehrten an den englischen Universitäten
hielten nur ein paar Dutzend Vorträge im Jahr; der eigentliche Unterricht liege
in den Händen der Fellows und Tutors. Ähnlich sei es in Frankreich. Die
großen Gelehrten seien wohl Mitglieder der Akademie und hielten einige öffent¬
liche Vorträge in der Sorbonne; sie seien aber nicht die wirklichen täglichen
Lehrer der akademischen Jugend. Umgekehrt werde in Frankreich von den
Lehrern an den Fakultäten uicht gerade verlangt, daß sie wissenschaftliche
Forscher seien. Ganz anders in Deutschland. Hier gelte der Satz wenigstens
als Regel, daß alle Universitätslehrer wissenschaftliche Forscher und umgekehrt
alle wissenschaftlichen Forscher Universitätsprofessoren seien. Wenn von einem
deutschen Gelehrten die Rede sei, so frage man sogleich: „An welcher Universität
ist er?" Und wenn er an keiner sei, so dürfe man voraussetzen, daß er dies
als eine Zurücksetzung empfindet.

Und nun schildert Paulsen, wie bedeutsame Folgen dies Verhältnis für die
Gestaltung unsres gesamten geistigen und wissenschaftlichen Lebens hat. Zunächst
kennzeichnet er den wohltätigen Einfluß der großen Lehrer. „Unsre Denker und
Forscher," sagt er, „sind unserm Volk nicht bloß als Schriftsteller vom Papier
her, sondern als persönliche Lehrer von Angesicht zu Angesicht bekannt." Er
erinnert daran, daß Männer wie Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher
vor allem als akademische Lehrer aus ihre Zeit gewirkt haben. Dasselbe gelte
von den großen Philologen Henne, Friedrich August Wolf und Gottfried
Hermann. Es sei ein Glück für die deutsche Jugend, daß sie auf der Universität


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[0352] Die neuen Forschungsinstitute verkennen, daß hier und da in den Kreisen der Professoren die Lehrtätigkeit heute als etwas Lästiges, als eine leidige Pflicht empfunden wird. Und nicht wenige Professoren haben ein Recht, zu seufzen und zu klagen. Besonders an den großen Universitäten mit ihren Scharen von Zuhörern sind manche Uni¬ versitätslehrer geradezu überbürdet, wenn auch weniger durch Vorlesungen als durch andre mit der Lehrtätigkeit zusammenhängende Pflichten. Da sind zahl¬ reiche Studenten in den Übungen anzuleiten, Seminararbeiten müssen korrigiert werden, Dissertationen und Prüfungsarbeiten erfordern eine zeitraubende Durch¬ sicht. Aber muß die Abhilfe für diese unzweifelhaft vorhandenen Mißstände dadurch erstrebt werden, daß man die hervorragendsten Gelehrten ganz aus dem Lehrberuf entfernt und sie nur auf die wissenschaftliche Forschung verweist? Läge es nicht näher, die Professuren zu vermehren oder auf sonstige Weise die überbürdeten Universitätslehrer zu entlasten? Mit vollem Recht betrachtet Friedrich Paulsen es als den besonderen Charakter der deutschen Universität, daß sie zugleich Werkstätte für die wissenschaft¬ liche Forschung und Anstalt für den wissenschaftlichen Unterricht sei. Auch in Oxford und Cambridge, sagt er, gebe es vortreffliche Gelehrte; aber doch werde niemand die englischen Universitäten als die Träger der wissenschaftlichen Arbeit des Landes bezeichnen. Viele der berühmtesten Gelehrten, wie Darwin, Spencer, Mill, Macaulan, Gibbon, Bentham und Ricardo, hätten außerhalb der Universitäten gestanden. Auch die Gelehrten an den englischen Universitäten hielten nur ein paar Dutzend Vorträge im Jahr; der eigentliche Unterricht liege in den Händen der Fellows und Tutors. Ähnlich sei es in Frankreich. Die großen Gelehrten seien wohl Mitglieder der Akademie und hielten einige öffent¬ liche Vorträge in der Sorbonne; sie seien aber nicht die wirklichen täglichen Lehrer der akademischen Jugend. Umgekehrt werde in Frankreich von den Lehrern an den Fakultäten uicht gerade verlangt, daß sie wissenschaftliche Forscher seien. Ganz anders in Deutschland. Hier gelte der Satz wenigstens als Regel, daß alle Universitätslehrer wissenschaftliche Forscher und umgekehrt alle wissenschaftlichen Forscher Universitätsprofessoren seien. Wenn von einem deutschen Gelehrten die Rede sei, so frage man sogleich: „An welcher Universität ist er?" Und wenn er an keiner sei, so dürfe man voraussetzen, daß er dies als eine Zurücksetzung empfindet. Und nun schildert Paulsen, wie bedeutsame Folgen dies Verhältnis für die Gestaltung unsres gesamten geistigen und wissenschaftlichen Lebens hat. Zunächst kennzeichnet er den wohltätigen Einfluß der großen Lehrer. „Unsre Denker und Forscher," sagt er, „sind unserm Volk nicht bloß als Schriftsteller vom Papier her, sondern als persönliche Lehrer von Angesicht zu Angesicht bekannt." Er erinnert daran, daß Männer wie Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher vor allem als akademische Lehrer aus ihre Zeit gewirkt haben. Dasselbe gelte von den großen Philologen Henne, Friedrich August Wolf und Gottfried Hermann. Es sei ein Glück für die deutsche Jugend, daß sie auf der Universität

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/352>, abgerufen am 01.07.2024.