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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Marja war fast gelähmt vor Erstaunen. Ärger fühlte sie nicht. Es war ihr
fürs erste nur ganz unbegreiflich, daß sie ihn hier fand. Als sie gar hörte, daß
er zu Mittag bleibe, grüßte sie kurz und ging.

Die Folge war, daß sie sich am Montag nicht beeilte, früh aufzustehen, wie
sie bisher getan hatte, um zum Ausgehen fertig zu sein, sobald Olga erschien. Als
diese kam, begann sie eben ihre Morgentoilette, und ohne sich lange zu bedenken,
ließ sie sagen, sie sei unwohl und noch im Bett. Sie bedauerte bald diesen
Bescheid, und als Olga am Nachmittag sich wieder einfand und besorgt fragen
ließ, wie es Marja Titowna gehe, lief sie selbst hinaus -- die Rührung erhielt
die Oberhand, und die Freundinnen umarmten und herzten sich, als hätten sie
sich Jahre nicht gesehen.

Das Einvernehmen war hergestellt. Ganz war es aber doch nicht das frühere
Verhältnis. Sie gingen wieder zu dreien spazieren, aber Marja verhielt sich dabei
stiller, zeigte sich manchmal boshaft in ihren Reden, und ihr sprudelnder Übermut
kam gewöhnlich nur auf kurze Zeit zum Durchbruch. Als sie am Donnerstage,
weil ihr das Wetter nicht gefiel -- so sagte sie -- zum Nachhausegehen drängte
und Wolski sich an ihrer Tür nicht beiden Begleiterinnen empfahl, sondern mit
Olga weiter wanderte, schützte sie am Freitage Kopfweh vor und blieb im
Zimmer. Am Sonnabend dagegen war sie lustig und unbändig wie an den
ersten Tagen.

Sie erwartete für diesen Sonntag mit Bestimmtheit die Visite Wolskis. Sie
unterließ es nicht, die Eltern einigermaßen vorzubereiten, weil sie die Möglichkeit
zugeben mußte, daß der Vater oder die Mutter ihn schnöde abweisen könnte.

"Weißt du, Pappchen," sagte sie mit gehobenen Brauen, "daß ich mit unserem
Polizeimeister Freundschaft geschlossen habe?"

"Mit was für einem Polizeimeister?"

"Mit Seiner Wohlgeboren Wladimir Jwanowitsch Herrn Wolski, dem Polizei-
Meister des Fleckens", berichtete sie langsam und mit komischer Wichtigkeit.

"Puh, Närrin!" lachte Botscharow. "Und ich horchte und dachte, wo sie
einen Polizeimeister festgekriegt haben könnte."

"Nu," fügte Anna Dmitrijewna wegwerfend hinzu, "da hast du etwas Schönes
gefunden, um Freundschaft zu schließen I Polizeiaufseher!"

"Wieso, Männchen!" rief Marja. "Er ist ein gebildeter junger Mann,
Beamter."

"Eine kahle Ratte."

Der Vater nickte dazu beistimmend mit dem Kopfe.

"Das ist es eben," eiferte Marja. "daß es bei ihm nicht zutrifft. Sein Vater
ist Gutsbesitzer."

"So!" sagte Botscharow. "Wolski? Wolski? Hin, ich kenne doch alle
bedeutenderen Gutsbesitzer des Gouvernements dem Namen nach, aber Wolski" --
er bewegte verneinend den Kops -- "ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist
er aus einem anderen Gouvernement. Und ihr seid Freunde geworden?"
lächelte er.

"Dicke, Papa."

"Das freut mich."


Im Flecken

Marja war fast gelähmt vor Erstaunen. Ärger fühlte sie nicht. Es war ihr
fürs erste nur ganz unbegreiflich, daß sie ihn hier fand. Als sie gar hörte, daß
er zu Mittag bleibe, grüßte sie kurz und ging.

Die Folge war, daß sie sich am Montag nicht beeilte, früh aufzustehen, wie
sie bisher getan hatte, um zum Ausgehen fertig zu sein, sobald Olga erschien. Als
diese kam, begann sie eben ihre Morgentoilette, und ohne sich lange zu bedenken,
ließ sie sagen, sie sei unwohl und noch im Bett. Sie bedauerte bald diesen
Bescheid, und als Olga am Nachmittag sich wieder einfand und besorgt fragen
ließ, wie es Marja Titowna gehe, lief sie selbst hinaus — die Rührung erhielt
die Oberhand, und die Freundinnen umarmten und herzten sich, als hätten sie
sich Jahre nicht gesehen.

Das Einvernehmen war hergestellt. Ganz war es aber doch nicht das frühere
Verhältnis. Sie gingen wieder zu dreien spazieren, aber Marja verhielt sich dabei
stiller, zeigte sich manchmal boshaft in ihren Reden, und ihr sprudelnder Übermut
kam gewöhnlich nur auf kurze Zeit zum Durchbruch. Als sie am Donnerstage,
weil ihr das Wetter nicht gefiel — so sagte sie — zum Nachhausegehen drängte
und Wolski sich an ihrer Tür nicht beiden Begleiterinnen empfahl, sondern mit
Olga weiter wanderte, schützte sie am Freitage Kopfweh vor und blieb im
Zimmer. Am Sonnabend dagegen war sie lustig und unbändig wie an den
ersten Tagen.

Sie erwartete für diesen Sonntag mit Bestimmtheit die Visite Wolskis. Sie
unterließ es nicht, die Eltern einigermaßen vorzubereiten, weil sie die Möglichkeit
zugeben mußte, daß der Vater oder die Mutter ihn schnöde abweisen könnte.

„Weißt du, Pappchen," sagte sie mit gehobenen Brauen, „daß ich mit unserem
Polizeimeister Freundschaft geschlossen habe?"

„Mit was für einem Polizeimeister?"

„Mit Seiner Wohlgeboren Wladimir Jwanowitsch Herrn Wolski, dem Polizei-
Meister des Fleckens", berichtete sie langsam und mit komischer Wichtigkeit.

„Puh, Närrin!" lachte Botscharow. „Und ich horchte und dachte, wo sie
einen Polizeimeister festgekriegt haben könnte."

„Nu," fügte Anna Dmitrijewna wegwerfend hinzu, „da hast du etwas Schönes
gefunden, um Freundschaft zu schließen I Polizeiaufseher!"

„Wieso, Männchen!" rief Marja. „Er ist ein gebildeter junger Mann,
Beamter."

„Eine kahle Ratte."

Der Vater nickte dazu beistimmend mit dem Kopfe.

„Das ist es eben," eiferte Marja. „daß es bei ihm nicht zutrifft. Sein Vater
ist Gutsbesitzer."

„So!" sagte Botscharow. „Wolski? Wolski? Hin, ich kenne doch alle
bedeutenderen Gutsbesitzer des Gouvernements dem Namen nach, aber Wolski" —
er bewegte verneinend den Kops — „ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist
er aus einem anderen Gouvernement. Und ihr seid Freunde geworden?"
lächelte er.

„Dicke, Papa."

„Das freut mich."


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[0331] Im Flecken Marja war fast gelähmt vor Erstaunen. Ärger fühlte sie nicht. Es war ihr fürs erste nur ganz unbegreiflich, daß sie ihn hier fand. Als sie gar hörte, daß er zu Mittag bleibe, grüßte sie kurz und ging. Die Folge war, daß sie sich am Montag nicht beeilte, früh aufzustehen, wie sie bisher getan hatte, um zum Ausgehen fertig zu sein, sobald Olga erschien. Als diese kam, begann sie eben ihre Morgentoilette, und ohne sich lange zu bedenken, ließ sie sagen, sie sei unwohl und noch im Bett. Sie bedauerte bald diesen Bescheid, und als Olga am Nachmittag sich wieder einfand und besorgt fragen ließ, wie es Marja Titowna gehe, lief sie selbst hinaus — die Rührung erhielt die Oberhand, und die Freundinnen umarmten und herzten sich, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Das Einvernehmen war hergestellt. Ganz war es aber doch nicht das frühere Verhältnis. Sie gingen wieder zu dreien spazieren, aber Marja verhielt sich dabei stiller, zeigte sich manchmal boshaft in ihren Reden, und ihr sprudelnder Übermut kam gewöhnlich nur auf kurze Zeit zum Durchbruch. Als sie am Donnerstage, weil ihr das Wetter nicht gefiel — so sagte sie — zum Nachhausegehen drängte und Wolski sich an ihrer Tür nicht beiden Begleiterinnen empfahl, sondern mit Olga weiter wanderte, schützte sie am Freitage Kopfweh vor und blieb im Zimmer. Am Sonnabend dagegen war sie lustig und unbändig wie an den ersten Tagen. Sie erwartete für diesen Sonntag mit Bestimmtheit die Visite Wolskis. Sie unterließ es nicht, die Eltern einigermaßen vorzubereiten, weil sie die Möglichkeit zugeben mußte, daß der Vater oder die Mutter ihn schnöde abweisen könnte. „Weißt du, Pappchen," sagte sie mit gehobenen Brauen, „daß ich mit unserem Polizeimeister Freundschaft geschlossen habe?" „Mit was für einem Polizeimeister?" „Mit Seiner Wohlgeboren Wladimir Jwanowitsch Herrn Wolski, dem Polizei- Meister des Fleckens", berichtete sie langsam und mit komischer Wichtigkeit. „Puh, Närrin!" lachte Botscharow. „Und ich horchte und dachte, wo sie einen Polizeimeister festgekriegt haben könnte." „Nu," fügte Anna Dmitrijewna wegwerfend hinzu, „da hast du etwas Schönes gefunden, um Freundschaft zu schließen I Polizeiaufseher!" „Wieso, Männchen!" rief Marja. „Er ist ein gebildeter junger Mann, Beamter." „Eine kahle Ratte." Der Vater nickte dazu beistimmend mit dem Kopfe. „Das ist es eben," eiferte Marja. „daß es bei ihm nicht zutrifft. Sein Vater ist Gutsbesitzer." „So!" sagte Botscharow. „Wolski? Wolski? Hin, ich kenne doch alle bedeutenderen Gutsbesitzer des Gouvernements dem Namen nach, aber Wolski" — er bewegte verneinend den Kops — „ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist er aus einem anderen Gouvernement. Und ihr seid Freunde geworden?" lächelte er. „Dicke, Papa." „Das freut mich."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/331>, abgerufen am 23.07.2024.