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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Mittelschulen

vollere und die Mittelschulen nicht aufkommen lassen. Ihr allein ist es
zuzuschreiben, daß die Zahl der höheren Schulen in Preußen während des
letzten Jahrzehntes von 556 auf 719, die Zahl ihrer Schüler von 156630
auf 220959 angewachsen ist, daß sich also die Schülerzahl auf den höheren
Schulen um 41 Prozent vermehrte, während sich die Gesamtbevölkerung Preußens
nur um 15 Prozent erhöhte. Mehr als die Hälfte der Schüler besucht die
höheren Schulen von vornherein nicht in der Absicht -- ihr Endziel zu erreichen.
Für sie ist der Besuch der höheren Schule weiter nichts, als der immer noch
sicherste Weg, gegen den Einsatz einiger Lebensjahre irgendeine Berechtigung, meist
den Einjährigenschein, zu erlangen. Drei Viertel aller Schüler erreichen deshalb das
Ziel einer höheren Lehranstalt überhaupt nicht; die Hülste verläßt die Schule
mit dem Einjährigenschein und der vierte Teil kommt nur über die untersten
Klassen hinaus. Diese treten dann am Schlüsse des schulpflichtigen Alters in
einen bürgerlichen Beruf und haben nicht einmal eine abgeschlossene Volks¬
schulbildung, weil sie statt der Volksschule die Unterklassen einer höheren Schule
besuchen mußten.

Die großen sozialen Schäden, die sich daraus ergeben, liegen für den Ein¬
sichtigen auf der Hand. Da ist das Durchschnittsalter derer, welche die höheren
Schulen mit dem Einjährigenschein verlassen, weit über siebzehn Jahre. In
einem solchen Alter hat aber der Gymnasiast oder Realschüler keine Neigung
mehr, Lehrling eines Handwerkes zu werden. Er wählt lieber einen Beruf,
der nach seiner Ansicht in gesellschaftlich höherem Ansehen steht als das Hand¬
werk und trägt zu unerträglicher Überfüllung dieser Berufe bei. Auf der
anderen Seite herrscht in den Handwerker- und Kunsthandwerkerberufen
anerkanntermaßen ein so großer Mangel an geeigneten Hilfskräften, daß in
vielen handwerklichen Berufszweigen noch nicht einmal halb so viele Lehrlinge
wie Meister sind. Hätten die für diese Berufe geeigneten jungen Leute eine
Mittelschule besucht, dann würden sie ihren Beruf wohl nicht so oft verfehlen,
wie es heute leider geschieht. Nur die "Berechtigungen", ohne die sie in
deutschen Verhältnissen allerdings nichts beginnen können, hatten sie in die
höhere Schule geführt. Die Staatsverwaltungen verlangen Berechtigungs¬
nachweise, und Kaufleute wie Industrielle haben es den Staatsverwaltungen
nachgemacht. Wer also aus irgendeinen: Grunde wünscht, daß die reorganisierte
Mittelschule nicht dasselbe Schicksal hat wie die alte, der muß darauf sinnen,
die Mängel des Berechtigungswesens auf irgendeine Weise zu beseitigen oder
wenigstens zu verkleinern.

Es ist denn auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, radikale
und vorsichtig abwägende. Der eine heißt: Abschaffung jeglicher Berechtigungen.
Wer einen Beruf wählt, der eine höhere Schulbildung zur Voraussetzung hat,
mag diese durch besondere Prüfung nachweisen. Dann werden unsere Schulen
nicht mehr um der "Berechtigung" willen besucht, und ihr Schülermaterial wird
sich in der Hauptsache aus solchen jungen Leuten zusammensetzen, deren Bildung


Mittelschulen

vollere und die Mittelschulen nicht aufkommen lassen. Ihr allein ist es
zuzuschreiben, daß die Zahl der höheren Schulen in Preußen während des
letzten Jahrzehntes von 556 auf 719, die Zahl ihrer Schüler von 156630
auf 220959 angewachsen ist, daß sich also die Schülerzahl auf den höheren
Schulen um 41 Prozent vermehrte, während sich die Gesamtbevölkerung Preußens
nur um 15 Prozent erhöhte. Mehr als die Hälfte der Schüler besucht die
höheren Schulen von vornherein nicht in der Absicht — ihr Endziel zu erreichen.
Für sie ist der Besuch der höheren Schule weiter nichts, als der immer noch
sicherste Weg, gegen den Einsatz einiger Lebensjahre irgendeine Berechtigung, meist
den Einjährigenschein, zu erlangen. Drei Viertel aller Schüler erreichen deshalb das
Ziel einer höheren Lehranstalt überhaupt nicht; die Hülste verläßt die Schule
mit dem Einjährigenschein und der vierte Teil kommt nur über die untersten
Klassen hinaus. Diese treten dann am Schlüsse des schulpflichtigen Alters in
einen bürgerlichen Beruf und haben nicht einmal eine abgeschlossene Volks¬
schulbildung, weil sie statt der Volksschule die Unterklassen einer höheren Schule
besuchen mußten.

Die großen sozialen Schäden, die sich daraus ergeben, liegen für den Ein¬
sichtigen auf der Hand. Da ist das Durchschnittsalter derer, welche die höheren
Schulen mit dem Einjährigenschein verlassen, weit über siebzehn Jahre. In
einem solchen Alter hat aber der Gymnasiast oder Realschüler keine Neigung
mehr, Lehrling eines Handwerkes zu werden. Er wählt lieber einen Beruf,
der nach seiner Ansicht in gesellschaftlich höherem Ansehen steht als das Hand¬
werk und trägt zu unerträglicher Überfüllung dieser Berufe bei. Auf der
anderen Seite herrscht in den Handwerker- und Kunsthandwerkerberufen
anerkanntermaßen ein so großer Mangel an geeigneten Hilfskräften, daß in
vielen handwerklichen Berufszweigen noch nicht einmal halb so viele Lehrlinge
wie Meister sind. Hätten die für diese Berufe geeigneten jungen Leute eine
Mittelschule besucht, dann würden sie ihren Beruf wohl nicht so oft verfehlen,
wie es heute leider geschieht. Nur die „Berechtigungen", ohne die sie in
deutschen Verhältnissen allerdings nichts beginnen können, hatten sie in die
höhere Schule geführt. Die Staatsverwaltungen verlangen Berechtigungs¬
nachweise, und Kaufleute wie Industrielle haben es den Staatsverwaltungen
nachgemacht. Wer also aus irgendeinen: Grunde wünscht, daß die reorganisierte
Mittelschule nicht dasselbe Schicksal hat wie die alte, der muß darauf sinnen,
die Mängel des Berechtigungswesens auf irgendeine Weise zu beseitigen oder
wenigstens zu verkleinern.

Es ist denn auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, radikale
und vorsichtig abwägende. Der eine heißt: Abschaffung jeglicher Berechtigungen.
Wer einen Beruf wählt, der eine höhere Schulbildung zur Voraussetzung hat,
mag diese durch besondere Prüfung nachweisen. Dann werden unsere Schulen
nicht mehr um der „Berechtigung" willen besucht, und ihr Schülermaterial wird
sich in der Hauptsache aus solchen jungen Leuten zusammensetzen, deren Bildung


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[0208] Mittelschulen vollere und die Mittelschulen nicht aufkommen lassen. Ihr allein ist es zuzuschreiben, daß die Zahl der höheren Schulen in Preußen während des letzten Jahrzehntes von 556 auf 719, die Zahl ihrer Schüler von 156630 auf 220959 angewachsen ist, daß sich also die Schülerzahl auf den höheren Schulen um 41 Prozent vermehrte, während sich die Gesamtbevölkerung Preußens nur um 15 Prozent erhöhte. Mehr als die Hälfte der Schüler besucht die höheren Schulen von vornherein nicht in der Absicht — ihr Endziel zu erreichen. Für sie ist der Besuch der höheren Schule weiter nichts, als der immer noch sicherste Weg, gegen den Einsatz einiger Lebensjahre irgendeine Berechtigung, meist den Einjährigenschein, zu erlangen. Drei Viertel aller Schüler erreichen deshalb das Ziel einer höheren Lehranstalt überhaupt nicht; die Hülste verläßt die Schule mit dem Einjährigenschein und der vierte Teil kommt nur über die untersten Klassen hinaus. Diese treten dann am Schlüsse des schulpflichtigen Alters in einen bürgerlichen Beruf und haben nicht einmal eine abgeschlossene Volks¬ schulbildung, weil sie statt der Volksschule die Unterklassen einer höheren Schule besuchen mußten. Die großen sozialen Schäden, die sich daraus ergeben, liegen für den Ein¬ sichtigen auf der Hand. Da ist das Durchschnittsalter derer, welche die höheren Schulen mit dem Einjährigenschein verlassen, weit über siebzehn Jahre. In einem solchen Alter hat aber der Gymnasiast oder Realschüler keine Neigung mehr, Lehrling eines Handwerkes zu werden. Er wählt lieber einen Beruf, der nach seiner Ansicht in gesellschaftlich höherem Ansehen steht als das Hand¬ werk und trägt zu unerträglicher Überfüllung dieser Berufe bei. Auf der anderen Seite herrscht in den Handwerker- und Kunsthandwerkerberufen anerkanntermaßen ein so großer Mangel an geeigneten Hilfskräften, daß in vielen handwerklichen Berufszweigen noch nicht einmal halb so viele Lehrlinge wie Meister sind. Hätten die für diese Berufe geeigneten jungen Leute eine Mittelschule besucht, dann würden sie ihren Beruf wohl nicht so oft verfehlen, wie es heute leider geschieht. Nur die „Berechtigungen", ohne die sie in deutschen Verhältnissen allerdings nichts beginnen können, hatten sie in die höhere Schule geführt. Die Staatsverwaltungen verlangen Berechtigungs¬ nachweise, und Kaufleute wie Industrielle haben es den Staatsverwaltungen nachgemacht. Wer also aus irgendeinen: Grunde wünscht, daß die reorganisierte Mittelschule nicht dasselbe Schicksal hat wie die alte, der muß darauf sinnen, die Mängel des Berechtigungswesens auf irgendeine Weise zu beseitigen oder wenigstens zu verkleinern. Es ist denn auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden, radikale und vorsichtig abwägende. Der eine heißt: Abschaffung jeglicher Berechtigungen. Wer einen Beruf wählt, der eine höhere Schulbildung zur Voraussetzung hat, mag diese durch besondere Prüfung nachweisen. Dann werden unsere Schulen nicht mehr um der „Berechtigung" willen besucht, und ihr Schülermaterial wird sich in der Hauptsache aus solchen jungen Leuten zusammensetzen, deren Bildung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/208>, abgerufen am 22.07.2024.