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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Ich merkte gleich bei dem ersten Wort, daß der Schlingel log," sagte der
Gefängnisaufseher. "Setzen wir uns. Der Strohmann muß dran."

"Meinetwegen," erbot sich der Arzt, "gebt mir zuerst den Strohmann. Mit
ihm werde ich besser spielen als mit dem -- Holzkopf."

"Der Holzkopf." sagte zu gleicher Zeit auf der Straße das Kaufmanns-
söhnchen lachend, "der Doktor! Wollte auch mit! Den hätten wir brauchen
können!"

"Das ist aber eigentlich eine Frechheit," sagte der Polizeiaufseher. "So in
ein fremdes Quartier zu fallen und so zu lügen."

"Wer ist schuld?" verteidigte sich der Jüngling. Hatten Sie nicht versprochen,
in fünf Minuten zu kommen! Aber geschickt habe ich Sie herausgeeist. Nicht
wahr?"

"Hurra!" schrie er, als er mit dem Aufseher in das große Zimmer Tschernows
trat. "Wir haben gewonnen. Da ist er."

"Hurra!" wiederholten die Versammelten, ein Haufe von wohl zwanzig
Jünglingen, indem sie Wolski umringten. "Hurra! DaS hast du gut gemacht,
Paschka."

"Und nun kommt gleich der Mord," rief Botscharows Jgnatij am Tische,
indem er mit einem Messer in der rechten Hand einer Flasche, die er in der
linken hielt, den Hals abschlug. "Gläser darunter! So, Wladimir Jwanowitsch.
Der Kopf ist weg. Sehen Sie, wie das Blut fließt. Tot ist die Kanaille. Ihr
Wohl, Wladimir Jwanowitsch!"

"Das Wohl unseres Wladimir Jwanowitsch! Er soll leben und gedeihen von
Jahr zu Jahr und durch unzählige Jahre!"

So brüllte die Gesellschaft, indem jeder mit dem Aufseher anzustoßen suchte.

"Aber was sagt ihr von mir?" übertönte der, der den Aufseher geholt hatte
und von den anderen Paschka genannt wurde, mit seiner frischen Stimme den
Lärm. "Bin ich nicht ein gewandter Kerl! Hättet ihr gesehen, wie ich eintrat
und meldete, daß es einen Mord gebe! Und was für Gesichter sie machten!
Seht, so."

Er stellte der Reihe nach den Gefängnisaufseher, den Postmeister und den
Arzt vor. Er hatte wirklich Talent zum Komiker, denn es wäre schwer gewesen,
über seine Mimik nicht zu lachen. Das tat auch die Gesellschaft aus vollem Halses

"Am schönsten machte sich die Frau," fuhr Paschka fort. "Sie schrie und
hielt die Arme so."

Neues Gelächter und dann ein Trunk auf des Darstellers Gesundheit.

"Paschka soll leben, Hurra!"

Da hat sich die Frau uoch anständig betragen," rief mit unentwickelter
Knabenstimme ein ganz junges Bürschchen. "Ich hatte eine Großmutter. Wenn
die erschrak, sah sie so aus."

Er nahm auf dem Stuhle eine ausgesucht unanständige Lage ein, wobei er
die Beine, Arme und Kinnbacken fast verrenkte.

Wieherndes Gelächter und Jauchzen belohnte ihn.

So ging es weiter. Jeder suchte den anderen an wohlfeilen Witz oder Un¬
flätigkeit zu übertreffen. Dabei wurde gegessen und noch mehr getrunken. Gegen
Mitternacht waren viele von den jungen Leuten so bezecht, daß sie nicht mehr


Im Flecken

„Ich merkte gleich bei dem ersten Wort, daß der Schlingel log," sagte der
Gefängnisaufseher. „Setzen wir uns. Der Strohmann muß dran."

„Meinetwegen," erbot sich der Arzt, „gebt mir zuerst den Strohmann. Mit
ihm werde ich besser spielen als mit dem — Holzkopf."

„Der Holzkopf." sagte zu gleicher Zeit auf der Straße das Kaufmanns-
söhnchen lachend, „der Doktor! Wollte auch mit! Den hätten wir brauchen
können!"

„Das ist aber eigentlich eine Frechheit," sagte der Polizeiaufseher. „So in
ein fremdes Quartier zu fallen und so zu lügen."

„Wer ist schuld?" verteidigte sich der Jüngling. Hatten Sie nicht versprochen,
in fünf Minuten zu kommen! Aber geschickt habe ich Sie herausgeeist. Nicht
wahr?"

„Hurra!" schrie er, als er mit dem Aufseher in das große Zimmer Tschernows
trat. „Wir haben gewonnen. Da ist er."

„Hurra!" wiederholten die Versammelten, ein Haufe von wohl zwanzig
Jünglingen, indem sie Wolski umringten. „Hurra! DaS hast du gut gemacht,
Paschka."

„Und nun kommt gleich der Mord," rief Botscharows Jgnatij am Tische,
indem er mit einem Messer in der rechten Hand einer Flasche, die er in der
linken hielt, den Hals abschlug. „Gläser darunter! So, Wladimir Jwanowitsch.
Der Kopf ist weg. Sehen Sie, wie das Blut fließt. Tot ist die Kanaille. Ihr
Wohl, Wladimir Jwanowitsch!"

„Das Wohl unseres Wladimir Jwanowitsch! Er soll leben und gedeihen von
Jahr zu Jahr und durch unzählige Jahre!"

So brüllte die Gesellschaft, indem jeder mit dem Aufseher anzustoßen suchte.

„Aber was sagt ihr von mir?" übertönte der, der den Aufseher geholt hatte
und von den anderen Paschka genannt wurde, mit seiner frischen Stimme den
Lärm. „Bin ich nicht ein gewandter Kerl! Hättet ihr gesehen, wie ich eintrat
und meldete, daß es einen Mord gebe! Und was für Gesichter sie machten!
Seht, so."

Er stellte der Reihe nach den Gefängnisaufseher, den Postmeister und den
Arzt vor. Er hatte wirklich Talent zum Komiker, denn es wäre schwer gewesen,
über seine Mimik nicht zu lachen. Das tat auch die Gesellschaft aus vollem Halses

»Am schönsten machte sich die Frau," fuhr Paschka fort. „Sie schrie und
hielt die Arme so."

Neues Gelächter und dann ein Trunk auf des Darstellers Gesundheit.

„Paschka soll leben, Hurra!"

Da hat sich die Frau uoch anständig betragen," rief mit unentwickelter
Knabenstimme ein ganz junges Bürschchen. „Ich hatte eine Großmutter. Wenn
die erschrak, sah sie so aus."

Er nahm auf dem Stuhle eine ausgesucht unanständige Lage ein, wobei er
die Beine, Arme und Kinnbacken fast verrenkte.

Wieherndes Gelächter und Jauchzen belohnte ihn.

So ging es weiter. Jeder suchte den anderen an wohlfeilen Witz oder Un¬
flätigkeit zu übertreffen. Dabei wurde gegessen und noch mehr getrunken. Gegen
Mitternacht waren viele von den jungen Leuten so bezecht, daß sie nicht mehr


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[0187] Im Flecken „Ich merkte gleich bei dem ersten Wort, daß der Schlingel log," sagte der Gefängnisaufseher. „Setzen wir uns. Der Strohmann muß dran." „Meinetwegen," erbot sich der Arzt, „gebt mir zuerst den Strohmann. Mit ihm werde ich besser spielen als mit dem — Holzkopf." „Der Holzkopf." sagte zu gleicher Zeit auf der Straße das Kaufmanns- söhnchen lachend, „der Doktor! Wollte auch mit! Den hätten wir brauchen können!" „Das ist aber eigentlich eine Frechheit," sagte der Polizeiaufseher. „So in ein fremdes Quartier zu fallen und so zu lügen." „Wer ist schuld?" verteidigte sich der Jüngling. Hatten Sie nicht versprochen, in fünf Minuten zu kommen! Aber geschickt habe ich Sie herausgeeist. Nicht wahr?" „Hurra!" schrie er, als er mit dem Aufseher in das große Zimmer Tschernows trat. „Wir haben gewonnen. Da ist er." „Hurra!" wiederholten die Versammelten, ein Haufe von wohl zwanzig Jünglingen, indem sie Wolski umringten. „Hurra! DaS hast du gut gemacht, Paschka." „Und nun kommt gleich der Mord," rief Botscharows Jgnatij am Tische, indem er mit einem Messer in der rechten Hand einer Flasche, die er in der linken hielt, den Hals abschlug. „Gläser darunter! So, Wladimir Jwanowitsch. Der Kopf ist weg. Sehen Sie, wie das Blut fließt. Tot ist die Kanaille. Ihr Wohl, Wladimir Jwanowitsch!" „Das Wohl unseres Wladimir Jwanowitsch! Er soll leben und gedeihen von Jahr zu Jahr und durch unzählige Jahre!" So brüllte die Gesellschaft, indem jeder mit dem Aufseher anzustoßen suchte. „Aber was sagt ihr von mir?" übertönte der, der den Aufseher geholt hatte und von den anderen Paschka genannt wurde, mit seiner frischen Stimme den Lärm. „Bin ich nicht ein gewandter Kerl! Hättet ihr gesehen, wie ich eintrat und meldete, daß es einen Mord gebe! Und was für Gesichter sie machten! Seht, so." Er stellte der Reihe nach den Gefängnisaufseher, den Postmeister und den Arzt vor. Er hatte wirklich Talent zum Komiker, denn es wäre schwer gewesen, über seine Mimik nicht zu lachen. Das tat auch die Gesellschaft aus vollem Halses »Am schönsten machte sich die Frau," fuhr Paschka fort. „Sie schrie und hielt die Arme so." Neues Gelächter und dann ein Trunk auf des Darstellers Gesundheit. „Paschka soll leben, Hurra!" Da hat sich die Frau uoch anständig betragen," rief mit unentwickelter Knabenstimme ein ganz junges Bürschchen. „Ich hatte eine Großmutter. Wenn die erschrak, sah sie so aus." Er nahm auf dem Stuhle eine ausgesucht unanständige Lage ein, wobei er die Beine, Arme und Kinnbacken fast verrenkte. Wieherndes Gelächter und Jauchzen belohnte ihn. So ging es weiter. Jeder suchte den anderen an wohlfeilen Witz oder Un¬ flätigkeit zu übertreffen. Dabei wurde gegessen und noch mehr getrunken. Gegen Mitternacht waren viele von den jungen Leuten so bezecht, daß sie nicht mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/187>, abgerufen am 22.07.2024.