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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Das Eigenheim des Mittelstandes

für den tätigen Mittelstand zutreffen, soll hier nicht weiter eingegangen
werden.

Es sind daher die Bestrebungen, wie sie namentlich von der Deutschen
Gartenstadtgesellschaft betätigt werden, mit Freuden zu begrüßen, die die Industrie
zu veranlassen suchen, mit aufs Land zu gehen und dadurch für die Arbeiter eine
Erwerbsquelle in der Nähe ihrer Wohnstelle zu schaffen. Soweit die Industrie
nicht mit ihrer Produktions- und Absatzmöglichkeit von der Stadt abhängt, sollte
sie im eigenen Interesse die Anregungen, auf das Land zu übersiedeln, in
größerem Umfange als bisher befolgen. Immerhin besteht doch sür einen Teil
der Arbeiterschaft die Möglichkeit, sich auf dein Lande anzusiedeln, und es ist
nicht unwahrscheinlich, daß die Stadtflucht zunehmen wird, je mehr sich auf dem
Lande lohnender Erwerb bietet und die Wohnstelle den Komfort besitzt, den
selbst der einfachste Arbeiter heute in seiner Stadtwohnung findet.

Die Bemühungen, die Lebensführung des Arbeiters zu heben und ihn an
die Scholle zu fesseln, liegen im allgemeinen Interesse. Der Mann, der etwas
zu verlieren hat, sieht die Verhältnisse in seinem Vaterlande mit anderen Augen
an als der, der bei einem Umsturz nur zu gewinnen hofft.

Mindestens ebenso wichtig für das Staatswohl wie ein zufriedener, se߬
hafter Arbeiterstand ist aber auch ein zufriedener Mittelstand. Was ist nun
geschehen und was geschieht, um das Wohnungselend des gebildeten Mittelstandes
zu lindern? Die Antwort hierauf ist trojtlos, sie lautet: "Nichts!" Bisher hat
nur der Staat versucht, für seine mittleren und unteren Beamten angemessene
Wohnungen zu mäßigen Preisen zu schaffen oder diese haben versucht, sich solche
durch genossenschaftlichen Zusammenschluß selbst zu schaffen. Auch bestehen ein
oder zwei unbedeutende genossenschaftliche Zusammenschlüsse unabhängiger Per¬
sonen des Mittelstandes. Aber diese an und für sich sehr dankenswerten Unter¬
nehmungen sind doch im Verhältnis zu den in Frage kommenden Kreisen so
wenig umfangreich, daß man höchstens von mustergültigen Versuchen, nicht aber
von einer Lösung des Wohnungsproblems sprechen kann. Auf diesem Wege
läßt sich nach meiner Ansicht das Landhausproblem für den Mittelstand über¬
haupt nicht lösen. Dabei wird diese Frage, hauptsächlich im Interesse des
sogenannten gebildeten Mittelstandes, von Tag zu Tag eine dringendere.

Familien mit einem Jahreseinkommen bis zu 4000 Mark müssen heute
einen ganz erheblichen Teil ihres Einkommens für eine in vielen Fälle ungenügende
Wohnung in der Stadt ausgeben. Wirtschaftlich normal ist es bekanntlich, wenn
die Wohnungsmiete ein Fünftel bis ein Sechstel des Einkommens, d. h. also etwa
700 bis 800 Mark ausmacht. Jede Mehrausgabe zwingt wieder zu einer oft gar
nicht mehr möglichen Einschränkung in anderen Teilen des Haushalts. Nicht Aus¬
nahme, sondern die Regel ist es, daß die Wohnung einer fünfköpfigen Familie
nur aus Schlafstuben besteht und daß von der im günstigsten Fall dreizimmerigen
Wohnung womöglich noch ein Zimmer, und meist das bestgelegene, weitervermietet
werden muß, um die Ausgabe sür die Wohnungsmiete etwas herabzusetzen.


Das Eigenheim des Mittelstandes

für den tätigen Mittelstand zutreffen, soll hier nicht weiter eingegangen
werden.

Es sind daher die Bestrebungen, wie sie namentlich von der Deutschen
Gartenstadtgesellschaft betätigt werden, mit Freuden zu begrüßen, die die Industrie
zu veranlassen suchen, mit aufs Land zu gehen und dadurch für die Arbeiter eine
Erwerbsquelle in der Nähe ihrer Wohnstelle zu schaffen. Soweit die Industrie
nicht mit ihrer Produktions- und Absatzmöglichkeit von der Stadt abhängt, sollte
sie im eigenen Interesse die Anregungen, auf das Land zu übersiedeln, in
größerem Umfange als bisher befolgen. Immerhin besteht doch sür einen Teil
der Arbeiterschaft die Möglichkeit, sich auf dein Lande anzusiedeln, und es ist
nicht unwahrscheinlich, daß die Stadtflucht zunehmen wird, je mehr sich auf dem
Lande lohnender Erwerb bietet und die Wohnstelle den Komfort besitzt, den
selbst der einfachste Arbeiter heute in seiner Stadtwohnung findet.

Die Bemühungen, die Lebensführung des Arbeiters zu heben und ihn an
die Scholle zu fesseln, liegen im allgemeinen Interesse. Der Mann, der etwas
zu verlieren hat, sieht die Verhältnisse in seinem Vaterlande mit anderen Augen
an als der, der bei einem Umsturz nur zu gewinnen hofft.

Mindestens ebenso wichtig für das Staatswohl wie ein zufriedener, se߬
hafter Arbeiterstand ist aber auch ein zufriedener Mittelstand. Was ist nun
geschehen und was geschieht, um das Wohnungselend des gebildeten Mittelstandes
zu lindern? Die Antwort hierauf ist trojtlos, sie lautet: „Nichts!" Bisher hat
nur der Staat versucht, für seine mittleren und unteren Beamten angemessene
Wohnungen zu mäßigen Preisen zu schaffen oder diese haben versucht, sich solche
durch genossenschaftlichen Zusammenschluß selbst zu schaffen. Auch bestehen ein
oder zwei unbedeutende genossenschaftliche Zusammenschlüsse unabhängiger Per¬
sonen des Mittelstandes. Aber diese an und für sich sehr dankenswerten Unter¬
nehmungen sind doch im Verhältnis zu den in Frage kommenden Kreisen so
wenig umfangreich, daß man höchstens von mustergültigen Versuchen, nicht aber
von einer Lösung des Wohnungsproblems sprechen kann. Auf diesem Wege
läßt sich nach meiner Ansicht das Landhausproblem für den Mittelstand über¬
haupt nicht lösen. Dabei wird diese Frage, hauptsächlich im Interesse des
sogenannten gebildeten Mittelstandes, von Tag zu Tag eine dringendere.

Familien mit einem Jahreseinkommen bis zu 4000 Mark müssen heute
einen ganz erheblichen Teil ihres Einkommens für eine in vielen Fälle ungenügende
Wohnung in der Stadt ausgeben. Wirtschaftlich normal ist es bekanntlich, wenn
die Wohnungsmiete ein Fünftel bis ein Sechstel des Einkommens, d. h. also etwa
700 bis 800 Mark ausmacht. Jede Mehrausgabe zwingt wieder zu einer oft gar
nicht mehr möglichen Einschränkung in anderen Teilen des Haushalts. Nicht Aus¬
nahme, sondern die Regel ist es, daß die Wohnung einer fünfköpfigen Familie
nur aus Schlafstuben besteht und daß von der im günstigsten Fall dreizimmerigen
Wohnung womöglich noch ein Zimmer, und meist das bestgelegene, weitervermietet
werden muß, um die Ausgabe sür die Wohnungsmiete etwas herabzusetzen.


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[0160] Das Eigenheim des Mittelstandes für den tätigen Mittelstand zutreffen, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es sind daher die Bestrebungen, wie sie namentlich von der Deutschen Gartenstadtgesellschaft betätigt werden, mit Freuden zu begrüßen, die die Industrie zu veranlassen suchen, mit aufs Land zu gehen und dadurch für die Arbeiter eine Erwerbsquelle in der Nähe ihrer Wohnstelle zu schaffen. Soweit die Industrie nicht mit ihrer Produktions- und Absatzmöglichkeit von der Stadt abhängt, sollte sie im eigenen Interesse die Anregungen, auf das Land zu übersiedeln, in größerem Umfange als bisher befolgen. Immerhin besteht doch sür einen Teil der Arbeiterschaft die Möglichkeit, sich auf dein Lande anzusiedeln, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Stadtflucht zunehmen wird, je mehr sich auf dem Lande lohnender Erwerb bietet und die Wohnstelle den Komfort besitzt, den selbst der einfachste Arbeiter heute in seiner Stadtwohnung findet. Die Bemühungen, die Lebensführung des Arbeiters zu heben und ihn an die Scholle zu fesseln, liegen im allgemeinen Interesse. Der Mann, der etwas zu verlieren hat, sieht die Verhältnisse in seinem Vaterlande mit anderen Augen an als der, der bei einem Umsturz nur zu gewinnen hofft. Mindestens ebenso wichtig für das Staatswohl wie ein zufriedener, se߬ hafter Arbeiterstand ist aber auch ein zufriedener Mittelstand. Was ist nun geschehen und was geschieht, um das Wohnungselend des gebildeten Mittelstandes zu lindern? Die Antwort hierauf ist trojtlos, sie lautet: „Nichts!" Bisher hat nur der Staat versucht, für seine mittleren und unteren Beamten angemessene Wohnungen zu mäßigen Preisen zu schaffen oder diese haben versucht, sich solche durch genossenschaftlichen Zusammenschluß selbst zu schaffen. Auch bestehen ein oder zwei unbedeutende genossenschaftliche Zusammenschlüsse unabhängiger Per¬ sonen des Mittelstandes. Aber diese an und für sich sehr dankenswerten Unter¬ nehmungen sind doch im Verhältnis zu den in Frage kommenden Kreisen so wenig umfangreich, daß man höchstens von mustergültigen Versuchen, nicht aber von einer Lösung des Wohnungsproblems sprechen kann. Auf diesem Wege läßt sich nach meiner Ansicht das Landhausproblem für den Mittelstand über¬ haupt nicht lösen. Dabei wird diese Frage, hauptsächlich im Interesse des sogenannten gebildeten Mittelstandes, von Tag zu Tag eine dringendere. Familien mit einem Jahreseinkommen bis zu 4000 Mark müssen heute einen ganz erheblichen Teil ihres Einkommens für eine in vielen Fälle ungenügende Wohnung in der Stadt ausgeben. Wirtschaftlich normal ist es bekanntlich, wenn die Wohnungsmiete ein Fünftel bis ein Sechstel des Einkommens, d. h. also etwa 700 bis 800 Mark ausmacht. Jede Mehrausgabe zwingt wieder zu einer oft gar nicht mehr möglichen Einschränkung in anderen Teilen des Haushalts. Nicht Aus¬ nahme, sondern die Regel ist es, daß die Wohnung einer fünfköpfigen Familie nur aus Schlafstuben besteht und daß von der im günstigsten Fall dreizimmerigen Wohnung womöglich noch ein Zimmer, und meist das bestgelegene, weitervermietet werden muß, um die Ausgabe sür die Wohnungsmiete etwas herabzusetzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/160>, abgerufen am 22.07.2024.