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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Faust" in Frankreich

wenn die Phantasie sich ein intellektuelles Chaos vorstellen könnte, wie man oft
ein materielles Chaos geschildert hat, dann müßte Goethes "Faust" in dieser
Epoche entstanden sein."

Wobei noch besonders bemerkt werden muß, daß selbstverständlich nur der
erste Teil des "Faust" vorlag. Was würde Madame de Staöl erst über den
zweiten Teil gesagt haben?!

Dreizehn Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches "De l'Allemagne"
erhielten die Franzosen etwas bessere Gelegenheit, die Bekanntschaft des "Faust" zu
machen. Während Madame de Stael nur einzelne Szenen daraus übersetzt hatte,
erschienen im Jahre 1823 gleich zwei angeblich vollständige Übersetzungen, die eine
sehr elegant und lesbar, aber willkürlich zusammengestrichen und dem französischen
Geschmack mundgerecht gemacht von Sainte-Aulaire, die andere tatsächlich voll¬
ständig, aber in sehr hausbackenen: Französisch von den: Elsässer Albert Stapfer.
Abermals fünf Jahre später gab Görard de Nerval die Übersetzung heraus, die von
Goethe selbst so sehr gelobt wurde, und deren Autor sich nicht ohne Erfolg
bemüht hatte, die phantastischen Gedankentiefen Goethes in die Sprache Voltaires
zu übertragen. Mit Voltaires "Candide" hatte schon Benjamin Konstant den
"Faust" verglichen, und zwar zuungunsten des deutschen Werkes! Eigentlich ist
ein solcher Vergleich absolut unmöglich, und gerade diese beiden Meisterwerke
zeigen am allerbesten, daß zwischen der deutscheu und der französischen
Sprache und somit auch zwischen der Denkart beider Völker eine unüberbrück¬
bare Kluft besteht. Niemals wird man den von Witz und Anmut funkelnden,
blitzenden und leuchtenden "Candide" ebenwertig ins Deutsche übersetzen können!
Und niemals wird man die unergründliche Tiefe des Gedankens und der
Phantasie im "Faust" mit französischen Worten wiedergeben können. Shakespeare
haben wir so vortrefflich ins Deutsche gebracht, daß man die Gleichwertigkeit
des deutschen und des englischen "Hamlet" verteidigen kann. Auch Homer und
selbst Cervantes sind fast ohne Verlust ins Deutsche übertragen worden. Aber
die Verse Dantes und Corneilles und nicht einmal die Prosa Voltaires können
wir ins Deutsche übersetzen, ohne nahezu die Hälfte ihres Reizes unterwegs zu
verlieren!

Der "Faust" Gerard de Nervals ist der "Faust" der Romantiker und
des "Globe", also der jungen Leute, die anbetend nach Weimar schauten, deren
Arbeiten Goethe aufmerksam verfolgte und deren Urteil ihn mehr interessierte
als das Deutschlands selbst. Berlioz kannte keinen andern "Faust", als er
seine "Damnation" komponierte, und alle französischen Versuche, "Faust" auf
die Bühne zu bringen, fußen mehr oder weniger auf dieser Bearbeitung.
Während bislang kein französischer Theaterdirektor gewagt hat, auch nur den
ersten Teil der Tragödie vollständig aufzuführen, haben in den letzten achtzig
Jahren einige zwanzig Bearbeitungen des "Faust" das französische Rampenlicht
gesehen, und mindestens ebenso zahlreich sind die seither immer wieder neu
erschienenen Übersetzungen. Das bestätigt nur das oben schon Gesagte: die


Faust" in Frankreich

wenn die Phantasie sich ein intellektuelles Chaos vorstellen könnte, wie man oft
ein materielles Chaos geschildert hat, dann müßte Goethes „Faust" in dieser
Epoche entstanden sein."

Wobei noch besonders bemerkt werden muß, daß selbstverständlich nur der
erste Teil des „Faust" vorlag. Was würde Madame de Staöl erst über den
zweiten Teil gesagt haben?!

Dreizehn Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches „De l'Allemagne"
erhielten die Franzosen etwas bessere Gelegenheit, die Bekanntschaft des „Faust" zu
machen. Während Madame de Stael nur einzelne Szenen daraus übersetzt hatte,
erschienen im Jahre 1823 gleich zwei angeblich vollständige Übersetzungen, die eine
sehr elegant und lesbar, aber willkürlich zusammengestrichen und dem französischen
Geschmack mundgerecht gemacht von Sainte-Aulaire, die andere tatsächlich voll¬
ständig, aber in sehr hausbackenen: Französisch von den: Elsässer Albert Stapfer.
Abermals fünf Jahre später gab Görard de Nerval die Übersetzung heraus, die von
Goethe selbst so sehr gelobt wurde, und deren Autor sich nicht ohne Erfolg
bemüht hatte, die phantastischen Gedankentiefen Goethes in die Sprache Voltaires
zu übertragen. Mit Voltaires „Candide" hatte schon Benjamin Konstant den
„Faust" verglichen, und zwar zuungunsten des deutschen Werkes! Eigentlich ist
ein solcher Vergleich absolut unmöglich, und gerade diese beiden Meisterwerke
zeigen am allerbesten, daß zwischen der deutscheu und der französischen
Sprache und somit auch zwischen der Denkart beider Völker eine unüberbrück¬
bare Kluft besteht. Niemals wird man den von Witz und Anmut funkelnden,
blitzenden und leuchtenden „Candide" ebenwertig ins Deutsche übersetzen können!
Und niemals wird man die unergründliche Tiefe des Gedankens und der
Phantasie im „Faust" mit französischen Worten wiedergeben können. Shakespeare
haben wir so vortrefflich ins Deutsche gebracht, daß man die Gleichwertigkeit
des deutschen und des englischen „Hamlet" verteidigen kann. Auch Homer und
selbst Cervantes sind fast ohne Verlust ins Deutsche übertragen worden. Aber
die Verse Dantes und Corneilles und nicht einmal die Prosa Voltaires können
wir ins Deutsche übersetzen, ohne nahezu die Hälfte ihres Reizes unterwegs zu
verlieren!

Der „Faust" Gerard de Nervals ist der „Faust" der Romantiker und
des „Globe", also der jungen Leute, die anbetend nach Weimar schauten, deren
Arbeiten Goethe aufmerksam verfolgte und deren Urteil ihn mehr interessierte
als das Deutschlands selbst. Berlioz kannte keinen andern „Faust", als er
seine „Damnation" komponierte, und alle französischen Versuche, „Faust" auf
die Bühne zu bringen, fußen mehr oder weniger auf dieser Bearbeitung.
Während bislang kein französischer Theaterdirektor gewagt hat, auch nur den
ersten Teil der Tragödie vollständig aufzuführen, haben in den letzten achtzig
Jahren einige zwanzig Bearbeitungen des „Faust" das französische Rampenlicht
gesehen, und mindestens ebenso zahlreich sind die seither immer wieder neu
erschienenen Übersetzungen. Das bestätigt nur das oben schon Gesagte: die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/86>, abgerufen am 23.07.2024.