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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Gedanken zum neuen Heeresetat

Jahren zu uns gekommen sind, zeigen, daß Rußland seine alte Stärke
noch nicht wieder erreicht hat. Wenn Rußland jetzt daran geht, seine weit
vorgeschobenen westlichen Befestigungen aufzugeben, die an der deutschen Grenze
liegenden Truppen zurückzieht und den Aufmarsch und die Versammlung seines
Heeres weiter in das Innere hinter die Weichsellinie zurück verlegen will, so
kann uns dies als Beweis gelten, daß die Russen kein besonderes Vertrauen
auf die schnelle Durchführung ihrer Mobilmachung und ihres Aufmarsches haben.
Es ist somit nicht mit einer sofortigen weitreichenden Offensive derselben zu
rechnen. Je weiter aber Rußland seine Versammlung in das Innere des
Reiches zurück verlegt, je mehr es sich zu einer starren Defensive entschließt,
um so mehr und desto länger haben die Franzosen allein in einem kontinentalen
Kriege die Wucht des deutschen Angriffes auszuhalten.

Bei Beurteilung unserer ganzen militärischen und politischen Lage müssen
wir auch die bestehenden Bündnisse berücksichtigen. Wenn wir in Zukunft
mit dem Kriege nach zwei Fronten, mit einen: Zusammengehen von Rußland
und Frankreich rechnen, so dürfen wir dagegen auf unserer Seite die Unter¬
stützung Österreichs einsetzen. Über die Kriegsfertigkeit und Tüchtigkeit des
österreichischen Heeres dürfte kein Zweifel herrschen. Die letzten Ereignisse in
Bosnien haben gezeigt, wie sicher und genau der ganze Heeresmechanismus
arbeitet.

Wenn wir alle diese Verhältnisse berücksichtigen, so liegt nach unserer Ansicht
zurzeit kein zwingender Grund vor, an eine Heeresverstärknng großen Ma߬
stabes heranzugehen. Unsere jetzigen Jnfanteriestärken geniigen den Anforderungen,
die mit Rücksicht auf die finanzielle Lage an sie gestellt werden können.
Es ist dabei auch noch zu berücksichtigen, daß die Infanterie diejenige Waffe
ist, bei der sich der Ersatz der in: Kriege eintretenden Verluste am schnellsten
und leichtesten bewerkstelligen läßt. Auch Neuformationen können, wie die
Kriegsgeschichte in zahlreichen Beispielen lehrt, nach verhältnismäßig kurzer Zeit
schon verwendungsfähig sein und einen genügenden Grad von Verwendungs¬
fähigkeit zeigen. Ganz anders aber liegen diese Verhältnisse bei den anderen
Waffen, die zu ihrer Ausbildung einen viel größeren Zeitraum beanspruchen
und bei denen sich Mängel in ganz anderer Weise bemerkbar machen. Einen
guten Reiter kann man nicht in wenigen Wochen schaffen, auch die Handhabung
des technischen Dienstes läßt sich nicht in kurzer Zeit erlernen. Die Aufgebote
der französischen Republik 1870/71 habe" gerade an diesen Waffen Mangel
gelitten und ihre geringen Erfolge sind zum großen Teil auf diesen Umstand
zurückzuführen. Eine Vermehrung der Infanterie dürfte deshalb vorläufig nicht
erforderlich sein, sondern hinter anderen Forderungen zurücktreten müssen. Die
Errichtung der von vielen Seiten geforderten dritten Bataillone bei den kleinen
Regimentern dürfte in dieser Militürvorlage noch nicht erfolgen, und zwar um
so weniger, als auf anderen Gebieten Lücken in unserer Rüstung vorhanden
sind, die einer Ausfüllung dringend bedürfen.


Gedanken zum neuen Heeresetat

Jahren zu uns gekommen sind, zeigen, daß Rußland seine alte Stärke
noch nicht wieder erreicht hat. Wenn Rußland jetzt daran geht, seine weit
vorgeschobenen westlichen Befestigungen aufzugeben, die an der deutschen Grenze
liegenden Truppen zurückzieht und den Aufmarsch und die Versammlung seines
Heeres weiter in das Innere hinter die Weichsellinie zurück verlegen will, so
kann uns dies als Beweis gelten, daß die Russen kein besonderes Vertrauen
auf die schnelle Durchführung ihrer Mobilmachung und ihres Aufmarsches haben.
Es ist somit nicht mit einer sofortigen weitreichenden Offensive derselben zu
rechnen. Je weiter aber Rußland seine Versammlung in das Innere des
Reiches zurück verlegt, je mehr es sich zu einer starren Defensive entschließt,
um so mehr und desto länger haben die Franzosen allein in einem kontinentalen
Kriege die Wucht des deutschen Angriffes auszuhalten.

Bei Beurteilung unserer ganzen militärischen und politischen Lage müssen
wir auch die bestehenden Bündnisse berücksichtigen. Wenn wir in Zukunft
mit dem Kriege nach zwei Fronten, mit einen: Zusammengehen von Rußland
und Frankreich rechnen, so dürfen wir dagegen auf unserer Seite die Unter¬
stützung Österreichs einsetzen. Über die Kriegsfertigkeit und Tüchtigkeit des
österreichischen Heeres dürfte kein Zweifel herrschen. Die letzten Ereignisse in
Bosnien haben gezeigt, wie sicher und genau der ganze Heeresmechanismus
arbeitet.

Wenn wir alle diese Verhältnisse berücksichtigen, so liegt nach unserer Ansicht
zurzeit kein zwingender Grund vor, an eine Heeresverstärknng großen Ma߬
stabes heranzugehen. Unsere jetzigen Jnfanteriestärken geniigen den Anforderungen,
die mit Rücksicht auf die finanzielle Lage an sie gestellt werden können.
Es ist dabei auch noch zu berücksichtigen, daß die Infanterie diejenige Waffe
ist, bei der sich der Ersatz der in: Kriege eintretenden Verluste am schnellsten
und leichtesten bewerkstelligen läßt. Auch Neuformationen können, wie die
Kriegsgeschichte in zahlreichen Beispielen lehrt, nach verhältnismäßig kurzer Zeit
schon verwendungsfähig sein und einen genügenden Grad von Verwendungs¬
fähigkeit zeigen. Ganz anders aber liegen diese Verhältnisse bei den anderen
Waffen, die zu ihrer Ausbildung einen viel größeren Zeitraum beanspruchen
und bei denen sich Mängel in ganz anderer Weise bemerkbar machen. Einen
guten Reiter kann man nicht in wenigen Wochen schaffen, auch die Handhabung
des technischen Dienstes läßt sich nicht in kurzer Zeit erlernen. Die Aufgebote
der französischen Republik 1870/71 habe» gerade an diesen Waffen Mangel
gelitten und ihre geringen Erfolge sind zum großen Teil auf diesen Umstand
zurückzuführen. Eine Vermehrung der Infanterie dürfte deshalb vorläufig nicht
erforderlich sein, sondern hinter anderen Forderungen zurücktreten müssen. Die
Errichtung der von vielen Seiten geforderten dritten Bataillone bei den kleinen
Regimentern dürfte in dieser Militürvorlage noch nicht erfolgen, und zwar um
so weniger, als auf anderen Gebieten Lücken in unserer Rüstung vorhanden
sind, die einer Ausfüllung dringend bedürfen.


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[0620] Gedanken zum neuen Heeresetat Jahren zu uns gekommen sind, zeigen, daß Rußland seine alte Stärke noch nicht wieder erreicht hat. Wenn Rußland jetzt daran geht, seine weit vorgeschobenen westlichen Befestigungen aufzugeben, die an der deutschen Grenze liegenden Truppen zurückzieht und den Aufmarsch und die Versammlung seines Heeres weiter in das Innere hinter die Weichsellinie zurück verlegen will, so kann uns dies als Beweis gelten, daß die Russen kein besonderes Vertrauen auf die schnelle Durchführung ihrer Mobilmachung und ihres Aufmarsches haben. Es ist somit nicht mit einer sofortigen weitreichenden Offensive derselben zu rechnen. Je weiter aber Rußland seine Versammlung in das Innere des Reiches zurück verlegt, je mehr es sich zu einer starren Defensive entschließt, um so mehr und desto länger haben die Franzosen allein in einem kontinentalen Kriege die Wucht des deutschen Angriffes auszuhalten. Bei Beurteilung unserer ganzen militärischen und politischen Lage müssen wir auch die bestehenden Bündnisse berücksichtigen. Wenn wir in Zukunft mit dem Kriege nach zwei Fronten, mit einen: Zusammengehen von Rußland und Frankreich rechnen, so dürfen wir dagegen auf unserer Seite die Unter¬ stützung Österreichs einsetzen. Über die Kriegsfertigkeit und Tüchtigkeit des österreichischen Heeres dürfte kein Zweifel herrschen. Die letzten Ereignisse in Bosnien haben gezeigt, wie sicher und genau der ganze Heeresmechanismus arbeitet. Wenn wir alle diese Verhältnisse berücksichtigen, so liegt nach unserer Ansicht zurzeit kein zwingender Grund vor, an eine Heeresverstärknng großen Ma߬ stabes heranzugehen. Unsere jetzigen Jnfanteriestärken geniigen den Anforderungen, die mit Rücksicht auf die finanzielle Lage an sie gestellt werden können. Es ist dabei auch noch zu berücksichtigen, daß die Infanterie diejenige Waffe ist, bei der sich der Ersatz der in: Kriege eintretenden Verluste am schnellsten und leichtesten bewerkstelligen läßt. Auch Neuformationen können, wie die Kriegsgeschichte in zahlreichen Beispielen lehrt, nach verhältnismäßig kurzer Zeit schon verwendungsfähig sein und einen genügenden Grad von Verwendungs¬ fähigkeit zeigen. Ganz anders aber liegen diese Verhältnisse bei den anderen Waffen, die zu ihrer Ausbildung einen viel größeren Zeitraum beanspruchen und bei denen sich Mängel in ganz anderer Weise bemerkbar machen. Einen guten Reiter kann man nicht in wenigen Wochen schaffen, auch die Handhabung des technischen Dienstes läßt sich nicht in kurzer Zeit erlernen. Die Aufgebote der französischen Republik 1870/71 habe» gerade an diesen Waffen Mangel gelitten und ihre geringen Erfolge sind zum großen Teil auf diesen Umstand zurückzuführen. Eine Vermehrung der Infanterie dürfte deshalb vorläufig nicht erforderlich sein, sondern hinter anderen Forderungen zurücktreten müssen. Die Errichtung der von vielen Seiten geforderten dritten Bataillone bei den kleinen Regimentern dürfte in dieser Militürvorlage noch nicht erfolgen, und zwar um so weniger, als auf anderen Gebieten Lücken in unserer Rüstung vorhanden sind, die einer Ausfüllung dringend bedürfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/620>, abgerufen am 23.07.2024.