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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage des Deutschtums in Galizien

die Schulgeschichte von Mariahilf bei Kolomea. Die Kinder waren dazu ver¬
dammt, die Schulstunden zwecklos im Schulzimmer abzusitzen; sie erlernten
weder lesen noch schreiben. Der polnische Oberlehrer ließ im Winter die Schul¬
zimmer selten heizen; mit dem ersparten Holz trieb er Handel. Gefiel es
diesem Manne, so enthob er sich vom Schuldienst und ließ dafür feinen Sohn
die Kinder "unterrichten". Dieser bestrafte eines Tages die Kinder, weil sie
deutsch und nicht polnisch sprachen, damit, daß er sie mit einer erhitzten
Patronenhülse an Wangen und Lippen brannte! Nicht viel besser erging es
den deutschen Schulen in Zboiska, Nosenburg, Konstantöwka, Angelöwka,
Hanunin u. a. Deutsche Kinder, die Schulen mit ruthenischer Unterrichtssprache
zu besuchen gezwungen sind, hören beim Unterricht nie ein Wort Deutsch, weil
an allen diesen Schulen die zweite Unterrichtssprache Polnisch, nie Deutsch ist.
Überaus arg steht es auch um das höhere deutsche Schulwesen. Nachdem die
früheren deutschen Mittelschulen und die Lemberger Universität polonisiert
worden sind, bestanden noch zwei deutsche Gymnasien, in Lemberg und in
Brody. Letzteres wird seit 1907 allmählich ausgelassen, ersteres verdient kaum
noch den Namen einer deutschen Anstalt. Das Versprechen, anstelle des auf¬
gehobenen deutschen Gymnasiums in einer anderen galizischen Stadt ein neues
zu errichten, wird kaum bald erfüllt werden. Die polnischen Mittelschulen,
Lehrerbildungsanstalten und Universitäten sind aber Polonisierungsstätten für
die studierende deutsche Jugend. Der Direktor des Stryjer Gymnasiums verbot
den deutschen Schülern, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen, und wollte
den Religionsunterricht der deutschen evangelischen Schüler in deutscher Sprache
verwehren. Bemerkt sei noch, daß der Lemberger Gemeinderat sich dafür aus¬
sprach, daß an den Volksschulen Galiziens die Unterrichtssprache nur Polnisch
und Deutsch sein dürfe, und der polnische Pädagogentag sich für die bedingungs¬
lose Entfernung des deutschen Sprachunterrichtes aus allen galizischen Schulen
aussprach (1909).

Wie in Kirche und Schule versuchen die galizischen Behörden die Deutschen
auch in anderen Beziehungen zu entrechten. Im Oktober 1909 ist es geschehen,
daß das k. k. Bezirksgericht in Jaworow die Frau des deutschen Landwirth
Schönhofer zu achtundvierzig Stunden Arrest verurteilte, weil sie unter Hinweis
auf ihre sehr mangelhafte Kenntnis der polnischen und ruthenischen Sprache
eine Zeugenaussage in deutscher Sprache machen wollte. Die angesehene Frau
mußte schließlich vierundzwanzig Stunden im Arrest zubringen, trotzdem sie
darauf verwies, daß sie ein drei Monate altes Kind zu stillen habe. Derartige
Willkürlichkeiten, Vergewaltigungen, Prügelstrafen u. tgi. sind übrigens in
Galizien nicht selten; es dringt nur wenig davon in die Öffentlichkeit. Fest¬
genagelt muß werden, daß die neue Reichsratwahlordnung über die galizischen
Deutschen einfach zur Tagesordnung überging. Ob bei der geplanten galizischen
Landtagswahlordnung eine gerechte Berücksichtigung der Deutschen, die sie in
sehr maßvollen Denkschriften fordern, stattfinden wird, ist abzuwarten. Herr


Die Lage des Deutschtums in Galizien

die Schulgeschichte von Mariahilf bei Kolomea. Die Kinder waren dazu ver¬
dammt, die Schulstunden zwecklos im Schulzimmer abzusitzen; sie erlernten
weder lesen noch schreiben. Der polnische Oberlehrer ließ im Winter die Schul¬
zimmer selten heizen; mit dem ersparten Holz trieb er Handel. Gefiel es
diesem Manne, so enthob er sich vom Schuldienst und ließ dafür feinen Sohn
die Kinder „unterrichten". Dieser bestrafte eines Tages die Kinder, weil sie
deutsch und nicht polnisch sprachen, damit, daß er sie mit einer erhitzten
Patronenhülse an Wangen und Lippen brannte! Nicht viel besser erging es
den deutschen Schulen in Zboiska, Nosenburg, Konstantöwka, Angelöwka,
Hanunin u. a. Deutsche Kinder, die Schulen mit ruthenischer Unterrichtssprache
zu besuchen gezwungen sind, hören beim Unterricht nie ein Wort Deutsch, weil
an allen diesen Schulen die zweite Unterrichtssprache Polnisch, nie Deutsch ist.
Überaus arg steht es auch um das höhere deutsche Schulwesen. Nachdem die
früheren deutschen Mittelschulen und die Lemberger Universität polonisiert
worden sind, bestanden noch zwei deutsche Gymnasien, in Lemberg und in
Brody. Letzteres wird seit 1907 allmählich ausgelassen, ersteres verdient kaum
noch den Namen einer deutschen Anstalt. Das Versprechen, anstelle des auf¬
gehobenen deutschen Gymnasiums in einer anderen galizischen Stadt ein neues
zu errichten, wird kaum bald erfüllt werden. Die polnischen Mittelschulen,
Lehrerbildungsanstalten und Universitäten sind aber Polonisierungsstätten für
die studierende deutsche Jugend. Der Direktor des Stryjer Gymnasiums verbot
den deutschen Schülern, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen, und wollte
den Religionsunterricht der deutschen evangelischen Schüler in deutscher Sprache
verwehren. Bemerkt sei noch, daß der Lemberger Gemeinderat sich dafür aus¬
sprach, daß an den Volksschulen Galiziens die Unterrichtssprache nur Polnisch
und Deutsch sein dürfe, und der polnische Pädagogentag sich für die bedingungs¬
lose Entfernung des deutschen Sprachunterrichtes aus allen galizischen Schulen
aussprach (1909).

Wie in Kirche und Schule versuchen die galizischen Behörden die Deutschen
auch in anderen Beziehungen zu entrechten. Im Oktober 1909 ist es geschehen,
daß das k. k. Bezirksgericht in Jaworow die Frau des deutschen Landwirth
Schönhofer zu achtundvierzig Stunden Arrest verurteilte, weil sie unter Hinweis
auf ihre sehr mangelhafte Kenntnis der polnischen und ruthenischen Sprache
eine Zeugenaussage in deutscher Sprache machen wollte. Die angesehene Frau
mußte schließlich vierundzwanzig Stunden im Arrest zubringen, trotzdem sie
darauf verwies, daß sie ein drei Monate altes Kind zu stillen habe. Derartige
Willkürlichkeiten, Vergewaltigungen, Prügelstrafen u. tgi. sind übrigens in
Galizien nicht selten; es dringt nur wenig davon in die Öffentlichkeit. Fest¬
genagelt muß werden, daß die neue Reichsratwahlordnung über die galizischen
Deutschen einfach zur Tagesordnung überging. Ob bei der geplanten galizischen
Landtagswahlordnung eine gerechte Berücksichtigung der Deutschen, die sie in
sehr maßvollen Denkschriften fordern, stattfinden wird, ist abzuwarten. Herr


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[0522] Die Lage des Deutschtums in Galizien die Schulgeschichte von Mariahilf bei Kolomea. Die Kinder waren dazu ver¬ dammt, die Schulstunden zwecklos im Schulzimmer abzusitzen; sie erlernten weder lesen noch schreiben. Der polnische Oberlehrer ließ im Winter die Schul¬ zimmer selten heizen; mit dem ersparten Holz trieb er Handel. Gefiel es diesem Manne, so enthob er sich vom Schuldienst und ließ dafür feinen Sohn die Kinder „unterrichten". Dieser bestrafte eines Tages die Kinder, weil sie deutsch und nicht polnisch sprachen, damit, daß er sie mit einer erhitzten Patronenhülse an Wangen und Lippen brannte! Nicht viel besser erging es den deutschen Schulen in Zboiska, Nosenburg, Konstantöwka, Angelöwka, Hanunin u. a. Deutsche Kinder, die Schulen mit ruthenischer Unterrichtssprache zu besuchen gezwungen sind, hören beim Unterricht nie ein Wort Deutsch, weil an allen diesen Schulen die zweite Unterrichtssprache Polnisch, nie Deutsch ist. Überaus arg steht es auch um das höhere deutsche Schulwesen. Nachdem die früheren deutschen Mittelschulen und die Lemberger Universität polonisiert worden sind, bestanden noch zwei deutsche Gymnasien, in Lemberg und in Brody. Letzteres wird seit 1907 allmählich ausgelassen, ersteres verdient kaum noch den Namen einer deutschen Anstalt. Das Versprechen, anstelle des auf¬ gehobenen deutschen Gymnasiums in einer anderen galizischen Stadt ein neues zu errichten, wird kaum bald erfüllt werden. Die polnischen Mittelschulen, Lehrerbildungsanstalten und Universitäten sind aber Polonisierungsstätten für die studierende deutsche Jugend. Der Direktor des Stryjer Gymnasiums verbot den deutschen Schülern, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen, und wollte den Religionsunterricht der deutschen evangelischen Schüler in deutscher Sprache verwehren. Bemerkt sei noch, daß der Lemberger Gemeinderat sich dafür aus¬ sprach, daß an den Volksschulen Galiziens die Unterrichtssprache nur Polnisch und Deutsch sein dürfe, und der polnische Pädagogentag sich für die bedingungs¬ lose Entfernung des deutschen Sprachunterrichtes aus allen galizischen Schulen aussprach (1909). Wie in Kirche und Schule versuchen die galizischen Behörden die Deutschen auch in anderen Beziehungen zu entrechten. Im Oktober 1909 ist es geschehen, daß das k. k. Bezirksgericht in Jaworow die Frau des deutschen Landwirth Schönhofer zu achtundvierzig Stunden Arrest verurteilte, weil sie unter Hinweis auf ihre sehr mangelhafte Kenntnis der polnischen und ruthenischen Sprache eine Zeugenaussage in deutscher Sprache machen wollte. Die angesehene Frau mußte schließlich vierundzwanzig Stunden im Arrest zubringen, trotzdem sie darauf verwies, daß sie ein drei Monate altes Kind zu stillen habe. Derartige Willkürlichkeiten, Vergewaltigungen, Prügelstrafen u. tgi. sind übrigens in Galizien nicht selten; es dringt nur wenig davon in die Öffentlichkeit. Fest¬ genagelt muß werden, daß die neue Reichsratwahlordnung über die galizischen Deutschen einfach zur Tagesordnung überging. Ob bei der geplanten galizischen Landtagswahlordnung eine gerechte Berücksichtigung der Deutschen, die sie in sehr maßvollen Denkschriften fordern, stattfinden wird, ist abzuwarten. Herr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/522>, abgerufen am 23.07.2024.