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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage des Deutschtums in Galizien

Landmarschall Graf Badeni, dem eine deutsche Abordnung am 30. Oktober 1909
ein Memorandum überreichte, erklärte, daß er für diese Forderungen der
Deutschen in Galizien nicht eintreten könne, um so weniger, als in den anderen
Kronländern auch slawische Minoritäten in den betreffenden Landtagen nicht
vertreten seien, wie z. B. die Polen und Tschechen in Wien. Als die Abordnung
den Einwurf machte, daß in der Bukowina 26000 Polen mehrere Vertreter
im Landtage haben, antwortete der Landmarschall, die Bukowina könne für
Galizien nicht zum Muster dienen, sondern die Kronländer des Westens. Wie
irrig diese Anschauungen sind, ist augenfällig. Die Ansprüche der Deutschen in
Galizien sind zum mindesten ebenso berechtigt wie jene der Polen in der
Bukowina; damit können Aspirationen der fluktuierenden polnischen und tschechischen
Zuwanderung in die Reichshauptstadt nicht im entferntesten verglichen werden.
Erwähnt muß schließlich werden, daß die galizischen Behörden die Selbsthilfe
und Organisation der Deutschen stören, indem sie in einzelnen Fällen Ver¬
sammlungen und Feste unter allerlei Vorwänden zu vereiteln suchen.

Auch auf wirtschaftlichem Gebiete wird der Kampf versucht. Der deutschen
Erzeugnissen wiederholt angedrohte Bovkott trifft indessen kaum die galizischen
Deutschen. schwerwiegender ist die Anregung, den Ankauf galizischen Bodens
durch Deutsche zu verhindern, und andrerseits die Unterstützung polnischer sowie
ruthenischer Bauern beim Ankauf deutschen Bodens. Indessen dürften bisher
noch immer die Erwerbungen der Deutschen weit größer sein als ihre Verluste.
Bedeutend waren letztere nur, als vor einem Jahrzehnt künstlich eine abnormale
Auswanderungsbewegung veranlaßt wurde.

Die Lage der Deutschen in Galizien war niemals so günstig, daß nicht
Auswanderungen wie aus anderen Ländern stattgefunden hätten; Wanderlust
und Hoffnung auf Verbesserung ihres Schicksals haben seit Jahrzehnten auch
aus den galizischen Kolonien Auswanderungen veranlaßt. Die Gründe dafür
sind die gleichen wie anderwärts gewesen: unverschuldete und verschuldete Armut,
Streitigkeiten, Arbeitslosigkeit u. tgi. Seit dem Ende der sechziger Jahre machte
sich eine stärkere Auswanderungsbewegung bemerkbar; offenbar hat also das
Überhandnehmen des polnischen Einflusses in Galizien die Unzufriedenheit mit
den Verhältnissen vergrößert. Die Auswanderungen fanden nach Nußland, ferner
nach Amerika und auch nach Bosnien statt. Die Auswanderung nach Amerika
darf unbedingt als die stärkste bezeichnet werden. Man findet kaum eine An-
siedlung, ans der nicht Deutsche nach Amerika gewandert wären. In vielen
Häusern sieht man Photographien der in der Fremde Weilenden oder ihre in
Lieder- und Vormerkbüchern eingetragenen Adressen. Viele von den Aus-
gewanderten bleiben dauernd jenseits des Meeres; mancher von ihnen hat
Farmer und Vermögen erworben. So sah der Schreiber dieser Zeilen in
Kaiserdorf eine große Photographie, die den aus der Umgegend von Kranz¬
berg ausgewanderten Johann Schuster darstellt, der mit elf anderen Leuten eine
Dampfdreschgarnitur auf seiner Farm bedient. Sehr viele von diesen Ans-


Die Lage des Deutschtums in Galizien

Landmarschall Graf Badeni, dem eine deutsche Abordnung am 30. Oktober 1909
ein Memorandum überreichte, erklärte, daß er für diese Forderungen der
Deutschen in Galizien nicht eintreten könne, um so weniger, als in den anderen
Kronländern auch slawische Minoritäten in den betreffenden Landtagen nicht
vertreten seien, wie z. B. die Polen und Tschechen in Wien. Als die Abordnung
den Einwurf machte, daß in der Bukowina 26000 Polen mehrere Vertreter
im Landtage haben, antwortete der Landmarschall, die Bukowina könne für
Galizien nicht zum Muster dienen, sondern die Kronländer des Westens. Wie
irrig diese Anschauungen sind, ist augenfällig. Die Ansprüche der Deutschen in
Galizien sind zum mindesten ebenso berechtigt wie jene der Polen in der
Bukowina; damit können Aspirationen der fluktuierenden polnischen und tschechischen
Zuwanderung in die Reichshauptstadt nicht im entferntesten verglichen werden.
Erwähnt muß schließlich werden, daß die galizischen Behörden die Selbsthilfe
und Organisation der Deutschen stören, indem sie in einzelnen Fällen Ver¬
sammlungen und Feste unter allerlei Vorwänden zu vereiteln suchen.

Auch auf wirtschaftlichem Gebiete wird der Kampf versucht. Der deutschen
Erzeugnissen wiederholt angedrohte Bovkott trifft indessen kaum die galizischen
Deutschen. schwerwiegender ist die Anregung, den Ankauf galizischen Bodens
durch Deutsche zu verhindern, und andrerseits die Unterstützung polnischer sowie
ruthenischer Bauern beim Ankauf deutschen Bodens. Indessen dürften bisher
noch immer die Erwerbungen der Deutschen weit größer sein als ihre Verluste.
Bedeutend waren letztere nur, als vor einem Jahrzehnt künstlich eine abnormale
Auswanderungsbewegung veranlaßt wurde.

Die Lage der Deutschen in Galizien war niemals so günstig, daß nicht
Auswanderungen wie aus anderen Ländern stattgefunden hätten; Wanderlust
und Hoffnung auf Verbesserung ihres Schicksals haben seit Jahrzehnten auch
aus den galizischen Kolonien Auswanderungen veranlaßt. Die Gründe dafür
sind die gleichen wie anderwärts gewesen: unverschuldete und verschuldete Armut,
Streitigkeiten, Arbeitslosigkeit u. tgi. Seit dem Ende der sechziger Jahre machte
sich eine stärkere Auswanderungsbewegung bemerkbar; offenbar hat also das
Überhandnehmen des polnischen Einflusses in Galizien die Unzufriedenheit mit
den Verhältnissen vergrößert. Die Auswanderungen fanden nach Nußland, ferner
nach Amerika und auch nach Bosnien statt. Die Auswanderung nach Amerika
darf unbedingt als die stärkste bezeichnet werden. Man findet kaum eine An-
siedlung, ans der nicht Deutsche nach Amerika gewandert wären. In vielen
Häusern sieht man Photographien der in der Fremde Weilenden oder ihre in
Lieder- und Vormerkbüchern eingetragenen Adressen. Viele von den Aus-
gewanderten bleiben dauernd jenseits des Meeres; mancher von ihnen hat
Farmer und Vermögen erworben. So sah der Schreiber dieser Zeilen in
Kaiserdorf eine große Photographie, die den aus der Umgegend von Kranz¬
berg ausgewanderten Johann Schuster darstellt, der mit elf anderen Leuten eine
Dampfdreschgarnitur auf seiner Farm bedient. Sehr viele von diesen Ans-


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[0523] Die Lage des Deutschtums in Galizien Landmarschall Graf Badeni, dem eine deutsche Abordnung am 30. Oktober 1909 ein Memorandum überreichte, erklärte, daß er für diese Forderungen der Deutschen in Galizien nicht eintreten könne, um so weniger, als in den anderen Kronländern auch slawische Minoritäten in den betreffenden Landtagen nicht vertreten seien, wie z. B. die Polen und Tschechen in Wien. Als die Abordnung den Einwurf machte, daß in der Bukowina 26000 Polen mehrere Vertreter im Landtage haben, antwortete der Landmarschall, die Bukowina könne für Galizien nicht zum Muster dienen, sondern die Kronländer des Westens. Wie irrig diese Anschauungen sind, ist augenfällig. Die Ansprüche der Deutschen in Galizien sind zum mindesten ebenso berechtigt wie jene der Polen in der Bukowina; damit können Aspirationen der fluktuierenden polnischen und tschechischen Zuwanderung in die Reichshauptstadt nicht im entferntesten verglichen werden. Erwähnt muß schließlich werden, daß die galizischen Behörden die Selbsthilfe und Organisation der Deutschen stören, indem sie in einzelnen Fällen Ver¬ sammlungen und Feste unter allerlei Vorwänden zu vereiteln suchen. Auch auf wirtschaftlichem Gebiete wird der Kampf versucht. Der deutschen Erzeugnissen wiederholt angedrohte Bovkott trifft indessen kaum die galizischen Deutschen. schwerwiegender ist die Anregung, den Ankauf galizischen Bodens durch Deutsche zu verhindern, und andrerseits die Unterstützung polnischer sowie ruthenischer Bauern beim Ankauf deutschen Bodens. Indessen dürften bisher noch immer die Erwerbungen der Deutschen weit größer sein als ihre Verluste. Bedeutend waren letztere nur, als vor einem Jahrzehnt künstlich eine abnormale Auswanderungsbewegung veranlaßt wurde. Die Lage der Deutschen in Galizien war niemals so günstig, daß nicht Auswanderungen wie aus anderen Ländern stattgefunden hätten; Wanderlust und Hoffnung auf Verbesserung ihres Schicksals haben seit Jahrzehnten auch aus den galizischen Kolonien Auswanderungen veranlaßt. Die Gründe dafür sind die gleichen wie anderwärts gewesen: unverschuldete und verschuldete Armut, Streitigkeiten, Arbeitslosigkeit u. tgi. Seit dem Ende der sechziger Jahre machte sich eine stärkere Auswanderungsbewegung bemerkbar; offenbar hat also das Überhandnehmen des polnischen Einflusses in Galizien die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen vergrößert. Die Auswanderungen fanden nach Nußland, ferner nach Amerika und auch nach Bosnien statt. Die Auswanderung nach Amerika darf unbedingt als die stärkste bezeichnet werden. Man findet kaum eine An- siedlung, ans der nicht Deutsche nach Amerika gewandert wären. In vielen Häusern sieht man Photographien der in der Fremde Weilenden oder ihre in Lieder- und Vormerkbüchern eingetragenen Adressen. Viele von den Aus- gewanderten bleiben dauernd jenseits des Meeres; mancher von ihnen hat Farmer und Vermögen erworben. So sah der Schreiber dieser Zeilen in Kaiserdorf eine große Photographie, die den aus der Umgegend von Kranz¬ berg ausgewanderten Johann Schuster darstellt, der mit elf anderen Leuten eine Dampfdreschgarnitur auf seiner Farm bedient. Sehr viele von diesen Ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/523>, abgerufen am 23.07.2024.