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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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hanotaux, Geschichte des zeitgenössischen Frankreich

Freunde des Kabinetts über den Beschluß der Kammer, eine Untersuchung ein¬
zuleiten. "Das ist nicht verfassungsmäßig," erklären Jules Simon und Dufaure.
Und der Präsident, der Herzog von Audiffret-Pasquier, sagt: "Wenn man
unter den etwas vagen Ausdrücken der Jnterpellation versteht, den Beschluß,
der Deputiertenkammer in irgend einer Weise zu kritisieren, dann werde ich es
als meine Pflicht betrachten, die Vorlegung einer solchen Jnterpellation nicht
zu gestatten... Sie sind nicht, meine Herren, wie der Senat des Kaiserreichs,
der Bewahrer der Verfassung . . . Selbst wenn man zugeben wollte, -- was ich
sür meinen Teil nicht tue --, daß die Kammer ihre Befugnisse überschritten
hätte, wo wollen Sie denn in der Verfassung das Recht finden, sie vor Ihre
Schranken zu fordern und sie zu richten? Es gibt nur eine gesetzliche Art, das
zu tun, nur eine Manier, die die Verfassung vorgesehen hat: das ist der Antrag
auf Auflösung!"

Also mit dem Marschall war auch der Präsident des Senats gegen weiteren
Widerstand, vollends gegen einen Staatsstreich. Drei Tage später hatte das
Ministerium Broglie seine Entlassung. Das. war der letzte Versuch, die
Monarchie in Frankreich wieder herzustellen. Mac Mahon ernannte sehr gegen
seine anfängliche Neigung am 13. Dezember ein Ministerium: der gemäßigten
Republikaner.

Unterdessen waren bedeutende Weltereignisse ins Rollen gekommen. Die
latente orientalische Krisis führte zum Kriege. Wir Deutsche sahen dieses immer-
weitere Kreise ziehende Kapitel der Weltgeschichte anfänglich unter den:
Bismarckschen Schlagwort vom "bißchen Herzegowina" an; weiterhin wesentlich
von dem Gesichtspunkt aus, wie sich die Vernichtung der türkischen Macht durch
Rußland abspielen würde, ohne daß sich Österreich-Ungarn und England zur
Einmischung gezwungen sähen. Unsere eigene Neutralität stand fest; sie entsprach
genau Bismarcks Tendenz. Frankreich interessierte weder uns noch andere
Länder erheblich. Es konnte sich kaum entschließen, irgendeine Stellung anzu¬
nehmen, ja es schwankte ernstlich, ob es sich an der Berliner Konferenz von
1878 beteiligen sollte. Hanotaux führt uns nun über Frankreichs Gedankengänge
Zur vollständigen Klarheit. Er bestätigt, daß sowohl die Mac Mahonsche
Regierung unter Dufaures Leitung wie auch die Radikalen unter Gambetta
weder über die einzuschlagenden Wege mit sich im reinen gewesen sind, noch
auch den Mut gehabt haben, für Frankreich eine aktive Rolle in Anspruch zu
nehmen. Er selber verurteilt ex post das aufs schärfste. Der Augenblick
sei schon gekommen gewesen, um gemeinschaftlich mit Rußland die Führung-
der Dinge in die Hand zu nehmen. Man habe nur entschlossen an Rußland
herantreten müssen. Der leitende Faden seines Urteils ist, daß Bismarck ein
schändliches Intrigenspiel zum Nachteil Rußlands und insbesondere Gortschakows
gespielt habe. Daß Hanotaux dabei vollkommen im Banne der späteren Ent¬
wicklung zum Zweibunde und im Banne des französischen Deutschenhasses steht,
braucht keinem deutschen Leser näher begründet zu werden. Seine geschichtliche-


hanotaux, Geschichte des zeitgenössischen Frankreich

Freunde des Kabinetts über den Beschluß der Kammer, eine Untersuchung ein¬
zuleiten. „Das ist nicht verfassungsmäßig," erklären Jules Simon und Dufaure.
Und der Präsident, der Herzog von Audiffret-Pasquier, sagt: „Wenn man
unter den etwas vagen Ausdrücken der Jnterpellation versteht, den Beschluß,
der Deputiertenkammer in irgend einer Weise zu kritisieren, dann werde ich es
als meine Pflicht betrachten, die Vorlegung einer solchen Jnterpellation nicht
zu gestatten... Sie sind nicht, meine Herren, wie der Senat des Kaiserreichs,
der Bewahrer der Verfassung . . . Selbst wenn man zugeben wollte, — was ich
sür meinen Teil nicht tue —, daß die Kammer ihre Befugnisse überschritten
hätte, wo wollen Sie denn in der Verfassung das Recht finden, sie vor Ihre
Schranken zu fordern und sie zu richten? Es gibt nur eine gesetzliche Art, das
zu tun, nur eine Manier, die die Verfassung vorgesehen hat: das ist der Antrag
auf Auflösung!"

Also mit dem Marschall war auch der Präsident des Senats gegen weiteren
Widerstand, vollends gegen einen Staatsstreich. Drei Tage später hatte das
Ministerium Broglie seine Entlassung. Das. war der letzte Versuch, die
Monarchie in Frankreich wieder herzustellen. Mac Mahon ernannte sehr gegen
seine anfängliche Neigung am 13. Dezember ein Ministerium: der gemäßigten
Republikaner.

Unterdessen waren bedeutende Weltereignisse ins Rollen gekommen. Die
latente orientalische Krisis führte zum Kriege. Wir Deutsche sahen dieses immer-
weitere Kreise ziehende Kapitel der Weltgeschichte anfänglich unter den:
Bismarckschen Schlagwort vom „bißchen Herzegowina" an; weiterhin wesentlich
von dem Gesichtspunkt aus, wie sich die Vernichtung der türkischen Macht durch
Rußland abspielen würde, ohne daß sich Österreich-Ungarn und England zur
Einmischung gezwungen sähen. Unsere eigene Neutralität stand fest; sie entsprach
genau Bismarcks Tendenz. Frankreich interessierte weder uns noch andere
Länder erheblich. Es konnte sich kaum entschließen, irgendeine Stellung anzu¬
nehmen, ja es schwankte ernstlich, ob es sich an der Berliner Konferenz von
1878 beteiligen sollte. Hanotaux führt uns nun über Frankreichs Gedankengänge
Zur vollständigen Klarheit. Er bestätigt, daß sowohl die Mac Mahonsche
Regierung unter Dufaures Leitung wie auch die Radikalen unter Gambetta
weder über die einzuschlagenden Wege mit sich im reinen gewesen sind, noch
auch den Mut gehabt haben, für Frankreich eine aktive Rolle in Anspruch zu
nehmen. Er selber verurteilt ex post das aufs schärfste. Der Augenblick
sei schon gekommen gewesen, um gemeinschaftlich mit Rußland die Führung-
der Dinge in die Hand zu nehmen. Man habe nur entschlossen an Rußland
herantreten müssen. Der leitende Faden seines Urteils ist, daß Bismarck ein
schändliches Intrigenspiel zum Nachteil Rußlands und insbesondere Gortschakows
gespielt habe. Daß Hanotaux dabei vollkommen im Banne der späteren Ent¬
wicklung zum Zweibunde und im Banne des französischen Deutschenhasses steht,
braucht keinem deutschen Leser näher begründet zu werden. Seine geschichtliche-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/449>, abgerufen am 03.07.2024.