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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Hanotaux, Geschichte des zeitgenössischen Frankreich

hängen, ob die Ereignisse einen genialen Heerführer nach oben wirbeln. Ein
Boulanger hatte jedenfalls nicht das Zeug dazu. Seine Diktatur wäre Schild¬
krötensuppe ohne Schildkröte gewesen.

Die Schilderung Hanotanxs von Broglie und seinen Unternehmen ist
einer hervorragenden Meisterschaft geschichtlicher Erzählungskunst entsprungen.
Deutschem Geschmack entspricht das Haschen nach Bonmots, das unaufhörliche
Zitieren kurzer Bemerkungen, in die sich nach französischer Auffassung das
ganze Urteil zusammendrängt, nicht. Wir lieben die organische Entwicklung
von Zuständen und Handlungen. Davon abgesehen können auch wir Deutsche
nur dankbar sein für den Einblick in den inneren Verlauf einer Krisis, die
auch für uns so wichtig ist, weil nach der geographischen Lage wie nach der
Weltgeschichte das Verhalten Frankreichs immer ein Umstand von allergrößter
Bedeutung ist. Fürchtete doch Bismarck in den ersten Jahren nach dem Kriege,
daß eine französische Monarchie eine Bedrohung für Deutschland bilde.

Die Verschworenen vom 16. Mai 1877 glaubten mit Hilfe einer skrupel¬
lose:? Wahlbeeinflussung eine monarchistische Kammermehrheit schaffen zu können.
Ja, Broglie ging, wie sich hernach zeigte, noch weiter, er glaubte, Mac Maso"
sei für einen Staatsstreich, für die ungesetzliche, gewaltsame Einsetzung eines
Monarchen zu haben. Die Kammerauflösung war kein Staatsstreich; der Senat
hatte ihr die gesetzliche Zustimmung nicht versagt, die der nach dein Sturze
Jules Simons zum Ministerpräsidenten ernannte Herzog von Broglie von ihm
verlangt hatte. Aber die Republikaner waren der Sachlage gewachsen. Die
neue Regierung hatte sich zum Beschützer Frankreichs gegen den Radikalismus
aufgeworfen. Gambetta war der schwarze Mann, vor dein man das weiße
Täubchen retten wollte. Nun erwirkte Gambetta durch seine Initiative sogleich
die vollständige Solidaritätserklärung. Wiederwahl aller Republikaner ohne
Unterschied der Richtungen war sein Schlagwort; keine republikanischen Gegen¬
kandidaturen unter einander; der neue Präsidentschaftskandidat soll nicht etwa
Gambetta oder ein anderer Radikaler sein, sondern Thiers. An diesem geschickten
Schachzug glitt das Manöver Broglies ab. Mit der rücksichtslosesten Beeinflussung
der Wähler durch Obrigkeit und Kirche gelang es in den Wahlen vom
14. Oktober 1877 nur, den Republikanern vierzig Sitze abzunehmen; sie blieben
in einer Mehrheit von dreihundertzwanzig zu zweihundertzehn. Dabei war
nirgends die Ordnung gestört worden. Die Möglichkeit, den Hebel eines
Staatsstreichs anzusetzen, war sehr verringert. Und im entscheidenden Augen¬
blick, als Broglie noch vom Marschall die Aufrechterhaltung eines Ministeriums
ohne Kammermehrheit erwartete, versagte Mac Mahon.

"Der Marschall kehrte zu seiner verfassungsmäßigen Rolle zurück," sagt
Hanotaux. "Und das genügt noch nicht. Der (Brogliesche) Ministerrat beschließt,
sich vor dem Senat zu repräsentieren und die Verweigerung der (von der
Kanuner beschlossenen) Untersuchung des 16. Mai zu verlangen, als ersten
Schritt auf dem Wege des Widerstandes." Im Senat interpellieren also die


Hanotaux, Geschichte des zeitgenössischen Frankreich

hängen, ob die Ereignisse einen genialen Heerführer nach oben wirbeln. Ein
Boulanger hatte jedenfalls nicht das Zeug dazu. Seine Diktatur wäre Schild¬
krötensuppe ohne Schildkröte gewesen.

Die Schilderung Hanotanxs von Broglie und seinen Unternehmen ist
einer hervorragenden Meisterschaft geschichtlicher Erzählungskunst entsprungen.
Deutschem Geschmack entspricht das Haschen nach Bonmots, das unaufhörliche
Zitieren kurzer Bemerkungen, in die sich nach französischer Auffassung das
ganze Urteil zusammendrängt, nicht. Wir lieben die organische Entwicklung
von Zuständen und Handlungen. Davon abgesehen können auch wir Deutsche
nur dankbar sein für den Einblick in den inneren Verlauf einer Krisis, die
auch für uns so wichtig ist, weil nach der geographischen Lage wie nach der
Weltgeschichte das Verhalten Frankreichs immer ein Umstand von allergrößter
Bedeutung ist. Fürchtete doch Bismarck in den ersten Jahren nach dem Kriege,
daß eine französische Monarchie eine Bedrohung für Deutschland bilde.

Die Verschworenen vom 16. Mai 1877 glaubten mit Hilfe einer skrupel¬
lose:? Wahlbeeinflussung eine monarchistische Kammermehrheit schaffen zu können.
Ja, Broglie ging, wie sich hernach zeigte, noch weiter, er glaubte, Mac Maso»
sei für einen Staatsstreich, für die ungesetzliche, gewaltsame Einsetzung eines
Monarchen zu haben. Die Kammerauflösung war kein Staatsstreich; der Senat
hatte ihr die gesetzliche Zustimmung nicht versagt, die der nach dein Sturze
Jules Simons zum Ministerpräsidenten ernannte Herzog von Broglie von ihm
verlangt hatte. Aber die Republikaner waren der Sachlage gewachsen. Die
neue Regierung hatte sich zum Beschützer Frankreichs gegen den Radikalismus
aufgeworfen. Gambetta war der schwarze Mann, vor dein man das weiße
Täubchen retten wollte. Nun erwirkte Gambetta durch seine Initiative sogleich
die vollständige Solidaritätserklärung. Wiederwahl aller Republikaner ohne
Unterschied der Richtungen war sein Schlagwort; keine republikanischen Gegen¬
kandidaturen unter einander; der neue Präsidentschaftskandidat soll nicht etwa
Gambetta oder ein anderer Radikaler sein, sondern Thiers. An diesem geschickten
Schachzug glitt das Manöver Broglies ab. Mit der rücksichtslosesten Beeinflussung
der Wähler durch Obrigkeit und Kirche gelang es in den Wahlen vom
14. Oktober 1877 nur, den Republikanern vierzig Sitze abzunehmen; sie blieben
in einer Mehrheit von dreihundertzwanzig zu zweihundertzehn. Dabei war
nirgends die Ordnung gestört worden. Die Möglichkeit, den Hebel eines
Staatsstreichs anzusetzen, war sehr verringert. Und im entscheidenden Augen¬
blick, als Broglie noch vom Marschall die Aufrechterhaltung eines Ministeriums
ohne Kammermehrheit erwartete, versagte Mac Mahon.

„Der Marschall kehrte zu seiner verfassungsmäßigen Rolle zurück," sagt
Hanotaux. „Und das genügt noch nicht. Der (Brogliesche) Ministerrat beschließt,
sich vor dem Senat zu repräsentieren und die Verweigerung der (von der
Kanuner beschlossenen) Untersuchung des 16. Mai zu verlangen, als ersten
Schritt auf dem Wege des Widerstandes." Im Senat interpellieren also die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/448>, abgerufen am 22.07.2024.