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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

Eine scharfe Reaktion auf das Verbrechen bringt neben den eben besprochenen
Schärfungen der Strafvollstreckung eine vollkommene Neuregelung der Rückfalls¬
materie. Die Kriminalstatistik der letzten Jahre zeigt neben einem langsamen
Sinken der Kriminalität überhaupt ein Steigen der Nückfallsverbrechen. Nicht
mit Unrecht ist ein Teil der Schuld hieran auf die in der Praxis weit ver¬
breitete zu milde Bestrafung der Rückfälligen geschoben worden. Das geltende
Neichsstrafgesetzbuch kennt den Rückfall überhaupt nur bei Diebstahl, Raub,
Betrug und Hehlerei und gibt verklausulierte Bestimmungen, wann eine dritte
zur Verurteilung gelangende Tat als Rückfall anzusehen sei. Den in dieser
Beschränkung des Rückfalls liegenden unberechtigt plutokratischen Zug unseres
Strafgesetzbuches hätte die Praxis bei der Weite der für die meisten Delikte
vorhandenen Strafrahmen durch eine ausgiebige Benutzung der Obergrenze dieser
Rahmen gegen rückfällige Messerstecher, Ehrabschneider, Kuppler usw. wettmachen
können. Allein wo findet man überhaupt einmal ein Urteil, welches das Maximum
eines Strafrahmens ausspricht. Es ist z. B. für die gefährliche Körperverletzung,
mit einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren Gefängnis, wie wenn das vierte
und fünfte Jahr überhaupt nicht geschrieben wären. Ein Kollege, sonst ein
vorzüglicher Strafrichter, hatte folgenden Fall zur Aburteilung. Ein junger
Schlepper kommt von der Schicht nach Hause und hofft, das Mittagessen vor¬
zufinden. Die Mutter aber, statt Essen zu kochen, hat sich vollständig betrunken
und liegt mit aufgeknöpfter Taille in seligem Zustande neben dem Kochherde,
in dem das Feuer mählich auszugehen beginnt. Den Burschen ergreift die
Wut über diese fürsorgliche Mutter und Hausfrau, und als es ihm nicht gelingt,
sie durch Rütteln aus ihren: Schlummer zu erwecken, da langt er mit der
Kohlenschaufel in den Ofen und schüttet ihr eine Schaufel voll glühender Kohlen
auf die bloßen Brüste mit den gemütvollen Worten: "So, du Pieron*), da
wirst du wohl endlich aufwachen." Die Mutter trug von dieser Behandlung
ihres Sohnes schwere und schmerzhafte Brandwunden davon. Das Schöffen¬
gericht hat gegen den Rodung auf zweieinhalb Jahre Gefängnis erkannt. Als
ich den Kollegen darauf fragte: "Sagen Sie, an was für schwerste Fälle mag
der Gesetzgeber wohl gedacht haben, der eine Oberstrafe von fünf Jahren
Gefängnis zuließ, wenn Ihr Fall nicht den Anforderungen an die Maximal¬
strafe genügt?" --, so wußte er allerdings nichts zu entgegnen. Findet sich
aber der eine oder andere Amtsrichter, der mit seinen Schöffen eine kräftige
Strafpraxis gegen rückfällige Roheitsverbrecher einführt, so wird er nicht immer
an der übergeordneten Strafkammer den nötigen Rückhalt finden. Die Tat¬
sache, daß das Landgericht milder urteilt, spricht sich aber nur zu rasch herum;
die Wirkung ist, daß die erste Instanz als eine ()u-alles neAliMable von den
Herren Verbrechern behandelt wird, und sich der Vorsitzende jede Woche als
Antwort auf eine Urteilsverkündung von einem Angeklagten die Dreistigkeit ins



") "Pierou", ein beliebtes vberschlesisches Schimpsivort, das auf deutsch "Donner¬
wetter" heißt.
Kritische Aufsätze

Eine scharfe Reaktion auf das Verbrechen bringt neben den eben besprochenen
Schärfungen der Strafvollstreckung eine vollkommene Neuregelung der Rückfalls¬
materie. Die Kriminalstatistik der letzten Jahre zeigt neben einem langsamen
Sinken der Kriminalität überhaupt ein Steigen der Nückfallsverbrechen. Nicht
mit Unrecht ist ein Teil der Schuld hieran auf die in der Praxis weit ver¬
breitete zu milde Bestrafung der Rückfälligen geschoben worden. Das geltende
Neichsstrafgesetzbuch kennt den Rückfall überhaupt nur bei Diebstahl, Raub,
Betrug und Hehlerei und gibt verklausulierte Bestimmungen, wann eine dritte
zur Verurteilung gelangende Tat als Rückfall anzusehen sei. Den in dieser
Beschränkung des Rückfalls liegenden unberechtigt plutokratischen Zug unseres
Strafgesetzbuches hätte die Praxis bei der Weite der für die meisten Delikte
vorhandenen Strafrahmen durch eine ausgiebige Benutzung der Obergrenze dieser
Rahmen gegen rückfällige Messerstecher, Ehrabschneider, Kuppler usw. wettmachen
können. Allein wo findet man überhaupt einmal ein Urteil, welches das Maximum
eines Strafrahmens ausspricht. Es ist z. B. für die gefährliche Körperverletzung,
mit einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren Gefängnis, wie wenn das vierte
und fünfte Jahr überhaupt nicht geschrieben wären. Ein Kollege, sonst ein
vorzüglicher Strafrichter, hatte folgenden Fall zur Aburteilung. Ein junger
Schlepper kommt von der Schicht nach Hause und hofft, das Mittagessen vor¬
zufinden. Die Mutter aber, statt Essen zu kochen, hat sich vollständig betrunken
und liegt mit aufgeknöpfter Taille in seligem Zustande neben dem Kochherde,
in dem das Feuer mählich auszugehen beginnt. Den Burschen ergreift die
Wut über diese fürsorgliche Mutter und Hausfrau, und als es ihm nicht gelingt,
sie durch Rütteln aus ihren: Schlummer zu erwecken, da langt er mit der
Kohlenschaufel in den Ofen und schüttet ihr eine Schaufel voll glühender Kohlen
auf die bloßen Brüste mit den gemütvollen Worten: „So, du Pieron*), da
wirst du wohl endlich aufwachen." Die Mutter trug von dieser Behandlung
ihres Sohnes schwere und schmerzhafte Brandwunden davon. Das Schöffen¬
gericht hat gegen den Rodung auf zweieinhalb Jahre Gefängnis erkannt. Als
ich den Kollegen darauf fragte: „Sagen Sie, an was für schwerste Fälle mag
der Gesetzgeber wohl gedacht haben, der eine Oberstrafe von fünf Jahren
Gefängnis zuließ, wenn Ihr Fall nicht den Anforderungen an die Maximal¬
strafe genügt?" —, so wußte er allerdings nichts zu entgegnen. Findet sich
aber der eine oder andere Amtsrichter, der mit seinen Schöffen eine kräftige
Strafpraxis gegen rückfällige Roheitsverbrecher einführt, so wird er nicht immer
an der übergeordneten Strafkammer den nötigen Rückhalt finden. Die Tat¬
sache, daß das Landgericht milder urteilt, spricht sich aber nur zu rasch herum;
die Wirkung ist, daß die erste Instanz als eine ()u-alles neAliMable von den
Herren Verbrechern behandelt wird, und sich der Vorsitzende jede Woche als
Antwort auf eine Urteilsverkündung von einem Angeklagten die Dreistigkeit ins



") „Pierou", ein beliebtes vberschlesisches Schimpsivort, das auf deutsch „Donner¬
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[0384] Kritische Aufsätze Eine scharfe Reaktion auf das Verbrechen bringt neben den eben besprochenen Schärfungen der Strafvollstreckung eine vollkommene Neuregelung der Rückfalls¬ materie. Die Kriminalstatistik der letzten Jahre zeigt neben einem langsamen Sinken der Kriminalität überhaupt ein Steigen der Nückfallsverbrechen. Nicht mit Unrecht ist ein Teil der Schuld hieran auf die in der Praxis weit ver¬ breitete zu milde Bestrafung der Rückfälligen geschoben worden. Das geltende Neichsstrafgesetzbuch kennt den Rückfall überhaupt nur bei Diebstahl, Raub, Betrug und Hehlerei und gibt verklausulierte Bestimmungen, wann eine dritte zur Verurteilung gelangende Tat als Rückfall anzusehen sei. Den in dieser Beschränkung des Rückfalls liegenden unberechtigt plutokratischen Zug unseres Strafgesetzbuches hätte die Praxis bei der Weite der für die meisten Delikte vorhandenen Strafrahmen durch eine ausgiebige Benutzung der Obergrenze dieser Rahmen gegen rückfällige Messerstecher, Ehrabschneider, Kuppler usw. wettmachen können. Allein wo findet man überhaupt einmal ein Urteil, welches das Maximum eines Strafrahmens ausspricht. Es ist z. B. für die gefährliche Körperverletzung, mit einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren Gefängnis, wie wenn das vierte und fünfte Jahr überhaupt nicht geschrieben wären. Ein Kollege, sonst ein vorzüglicher Strafrichter, hatte folgenden Fall zur Aburteilung. Ein junger Schlepper kommt von der Schicht nach Hause und hofft, das Mittagessen vor¬ zufinden. Die Mutter aber, statt Essen zu kochen, hat sich vollständig betrunken und liegt mit aufgeknöpfter Taille in seligem Zustande neben dem Kochherde, in dem das Feuer mählich auszugehen beginnt. Den Burschen ergreift die Wut über diese fürsorgliche Mutter und Hausfrau, und als es ihm nicht gelingt, sie durch Rütteln aus ihren: Schlummer zu erwecken, da langt er mit der Kohlenschaufel in den Ofen und schüttet ihr eine Schaufel voll glühender Kohlen auf die bloßen Brüste mit den gemütvollen Worten: „So, du Pieron*), da wirst du wohl endlich aufwachen." Die Mutter trug von dieser Behandlung ihres Sohnes schwere und schmerzhafte Brandwunden davon. Das Schöffen¬ gericht hat gegen den Rodung auf zweieinhalb Jahre Gefängnis erkannt. Als ich den Kollegen darauf fragte: „Sagen Sie, an was für schwerste Fälle mag der Gesetzgeber wohl gedacht haben, der eine Oberstrafe von fünf Jahren Gefängnis zuließ, wenn Ihr Fall nicht den Anforderungen an die Maximal¬ strafe genügt?" —, so wußte er allerdings nichts zu entgegnen. Findet sich aber der eine oder andere Amtsrichter, der mit seinen Schöffen eine kräftige Strafpraxis gegen rückfällige Roheitsverbrecher einführt, so wird er nicht immer an der übergeordneten Strafkammer den nötigen Rückhalt finden. Die Tat¬ sache, daß das Landgericht milder urteilt, spricht sich aber nur zu rasch herum; die Wirkung ist, daß die erste Instanz als eine ()u-alles neAliMable von den Herren Verbrechern behandelt wird, und sich der Vorsitzende jede Woche als Antwort auf eine Urteilsverkündung von einem Angeklagten die Dreistigkeit ins ") „Pierou", ein beliebtes vberschlesisches Schimpsivort, das auf deutsch „Donner¬ wetter" heißt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/384>, abgerufen am 22.07.2024.