Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Aufsätze

sein werden, die Schärfungen in Wegfall zu bringen, so sieht der Vorentwurf
in einer weisen Bestimmung vor, daß das Gericht die Strafe selbst ver¬
längern darf, wenn die Schärfung in Wegfall kommt. Dann haben die
Herren Verbrecher die Wahl, ob sie neun Monate mit Diät oder zwölf Monate
mit voller Ernährung sitzen wollen. Alsdann aber wird mancher plötzlich finden,
daß die warme Suppe, Speck und Hering mit drei Monaten der goldenen Freiheit
doch zu teuer erkauft sind.

Für sentimentale Gemüter sei noch bemerkt, daß nicht allein Rußland und
Spanien, die in manchen Kreisen nicht mehr zu Europa gerechnet werden,
sondern auch die kulturell hochstehenden Länder England, Schweiz, Norwegen
Strafschärfungsmittel kennen. Norwegen hat die besonders gute Einrichtung,
daß jeder Sträfling unbedingt die ersten beiden Tage seiner Strafhaft bei Wasser
und Brot verbüßen muß. Ein nicht so leicht zu vergessender Eindruck.

Das naheliegende Strafschärfungsmittel der Prügelstrafe einzuführen, hat
der Entwurf unter Berufung auf die dieser Strafe als einer kulturwidrigen
überwiegend abgeneigten Wissenschaft und Volksmeinung in Deutschland abgelehnt.
Es wird auch bei dieser in Deutschland tatsächlich herrschenden Strömung erfolglos
sein, für diese Strafe einzutreten, obwohl man als Strafrichter Roheitstaten
genug zu sehen bekommt, bei denen man immer wieder das lebhafte Bedauern
empfindet, daß man diesen Rodungen nicht am eigenen Leibe die Schmerz-
haftigkeit von Mißhandlungen klar machen kann. Jedermann kennt solche Bei¬
spiele roher Exzesse aus den Mitteilungen der Presse. Um nur zwei der eigenen
Praxis zu erzählen, so hatten zwei Burschen aus Übermut einen siebzigjährigen
blinden Leierkastenmann überfallen, zu Boden geworfen, den Hilflosen mit seinem
eigenen Stock so lange geschlagen, bis der Stock zerbrach, dann ihn mit Messer¬
stichen traktiert und liegen lassen. Ein sechsjähriger Knabe hatte zum zweitenmal
in kurzer Frist seine Mütze verloren. Der hierüber erzürnte Vater bestrafte ihn
damit daß er das Kind mit entblößtem Gesäß auf die Eisenplatten des heißen
Herdes setzte Natürlich trug der Ärmste fürchterliche Brandwunden davon.
Ist es wirklich eine genügende Sühne, wenn jene Burschen und dieser Vater
dafür besten Falles auf einige Jahre die Freiheit verlieren? In England.
Dänemark und den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Prügelstrafe
geltenden Rechts, und die meisten Richter in England behaupten, daß die vor
dem Jahre 1863 Überhand genommenen Raubanfälle durch Einführung der
Prügelstrafe eine erhebliche Verminderung erfahren hätten. Erfahrungsgemäß
neigen gerade die jüngsten strafrechtlich verantwortlichen Elemente am meisten
zu Roheitsdelikten; wäre es deshalb nicht wenigstens erwägenswert, die Prügel-
strafe für Jugendliche, wobei ich deren Alter allerdings ans enumdzwanzrg Jahre
heraufgesetzt sehen möchte, einzuführen? Es käme dann, um die Strafe weiteren
Kreisen annehmbar zu machen, in Betracht, daß me Prügelstrafe gegenüber
jungen, noch erziehnngsbedürftigen Elementen nicht so demütigend ist als gegen-
über Erwachsenen.


Kritische Aufsätze

sein werden, die Schärfungen in Wegfall zu bringen, so sieht der Vorentwurf
in einer weisen Bestimmung vor, daß das Gericht die Strafe selbst ver¬
längern darf, wenn die Schärfung in Wegfall kommt. Dann haben die
Herren Verbrecher die Wahl, ob sie neun Monate mit Diät oder zwölf Monate
mit voller Ernährung sitzen wollen. Alsdann aber wird mancher plötzlich finden,
daß die warme Suppe, Speck und Hering mit drei Monaten der goldenen Freiheit
doch zu teuer erkauft sind.

Für sentimentale Gemüter sei noch bemerkt, daß nicht allein Rußland und
Spanien, die in manchen Kreisen nicht mehr zu Europa gerechnet werden,
sondern auch die kulturell hochstehenden Länder England, Schweiz, Norwegen
Strafschärfungsmittel kennen. Norwegen hat die besonders gute Einrichtung,
daß jeder Sträfling unbedingt die ersten beiden Tage seiner Strafhaft bei Wasser
und Brot verbüßen muß. Ein nicht so leicht zu vergessender Eindruck.

Das naheliegende Strafschärfungsmittel der Prügelstrafe einzuführen, hat
der Entwurf unter Berufung auf die dieser Strafe als einer kulturwidrigen
überwiegend abgeneigten Wissenschaft und Volksmeinung in Deutschland abgelehnt.
Es wird auch bei dieser in Deutschland tatsächlich herrschenden Strömung erfolglos
sein, für diese Strafe einzutreten, obwohl man als Strafrichter Roheitstaten
genug zu sehen bekommt, bei denen man immer wieder das lebhafte Bedauern
empfindet, daß man diesen Rodungen nicht am eigenen Leibe die Schmerz-
haftigkeit von Mißhandlungen klar machen kann. Jedermann kennt solche Bei¬
spiele roher Exzesse aus den Mitteilungen der Presse. Um nur zwei der eigenen
Praxis zu erzählen, so hatten zwei Burschen aus Übermut einen siebzigjährigen
blinden Leierkastenmann überfallen, zu Boden geworfen, den Hilflosen mit seinem
eigenen Stock so lange geschlagen, bis der Stock zerbrach, dann ihn mit Messer¬
stichen traktiert und liegen lassen. Ein sechsjähriger Knabe hatte zum zweitenmal
in kurzer Frist seine Mütze verloren. Der hierüber erzürnte Vater bestrafte ihn
damit daß er das Kind mit entblößtem Gesäß auf die Eisenplatten des heißen
Herdes setzte Natürlich trug der Ärmste fürchterliche Brandwunden davon.
Ist es wirklich eine genügende Sühne, wenn jene Burschen und dieser Vater
dafür besten Falles auf einige Jahre die Freiheit verlieren? In England.
Dänemark und den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Prügelstrafe
geltenden Rechts, und die meisten Richter in England behaupten, daß die vor
dem Jahre 1863 Überhand genommenen Raubanfälle durch Einführung der
Prügelstrafe eine erhebliche Verminderung erfahren hätten. Erfahrungsgemäß
neigen gerade die jüngsten strafrechtlich verantwortlichen Elemente am meisten
zu Roheitsdelikten; wäre es deshalb nicht wenigstens erwägenswert, die Prügel-
strafe für Jugendliche, wobei ich deren Alter allerdings ans enumdzwanzrg Jahre
heraufgesetzt sehen möchte, einzuführen? Es käme dann, um die Strafe weiteren
Kreisen annehmbar zu machen, in Betracht, daß me Prügelstrafe gegenüber
jungen, noch erziehnngsbedürftigen Elementen nicht so demütigend ist als gegen-
über Erwachsenen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0383" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316672"/>
          <fw type="header" place="top"> Kritische Aufsätze</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1657" prev="#ID_1656"> sein werden, die Schärfungen in Wegfall zu bringen, so sieht der Vorentwurf<lb/>
in einer weisen Bestimmung vor, daß das Gericht die Strafe selbst ver¬<lb/>
längern darf, wenn die Schärfung in Wegfall kommt. Dann haben die<lb/>
Herren Verbrecher die Wahl, ob sie neun Monate mit Diät oder zwölf Monate<lb/>
mit voller Ernährung sitzen wollen. Alsdann aber wird mancher plötzlich finden,<lb/>
daß die warme Suppe, Speck und Hering mit drei Monaten der goldenen Freiheit<lb/>
doch zu teuer erkauft sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1658"> Für sentimentale Gemüter sei noch bemerkt, daß nicht allein Rußland und<lb/>
Spanien, die in manchen Kreisen nicht mehr zu Europa gerechnet werden,<lb/>
sondern auch die kulturell hochstehenden Länder England, Schweiz, Norwegen<lb/>
Strafschärfungsmittel kennen. Norwegen hat die besonders gute Einrichtung,<lb/>
daß jeder Sträfling unbedingt die ersten beiden Tage seiner Strafhaft bei Wasser<lb/>
und Brot verbüßen muß. Ein nicht so leicht zu vergessender Eindruck.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1659"> Das naheliegende Strafschärfungsmittel der Prügelstrafe einzuführen, hat<lb/>
der Entwurf unter Berufung auf die dieser Strafe als einer kulturwidrigen<lb/>
überwiegend abgeneigten Wissenschaft und Volksmeinung in Deutschland abgelehnt.<lb/>
Es wird auch bei dieser in Deutschland tatsächlich herrschenden Strömung erfolglos<lb/>
sein, für diese Strafe einzutreten, obwohl man als Strafrichter Roheitstaten<lb/>
genug zu sehen bekommt, bei denen man immer wieder das lebhafte Bedauern<lb/>
empfindet, daß man diesen Rodungen nicht am eigenen Leibe die Schmerz-<lb/>
haftigkeit von Mißhandlungen klar machen kann. Jedermann kennt solche Bei¬<lb/>
spiele roher Exzesse aus den Mitteilungen der Presse. Um nur zwei der eigenen<lb/>
Praxis zu erzählen, so hatten zwei Burschen aus Übermut einen siebzigjährigen<lb/>
blinden Leierkastenmann überfallen, zu Boden geworfen, den Hilflosen mit seinem<lb/>
eigenen Stock so lange geschlagen, bis der Stock zerbrach, dann ihn mit Messer¬<lb/>
stichen traktiert und liegen lassen. Ein sechsjähriger Knabe hatte zum zweitenmal<lb/>
in kurzer Frist seine Mütze verloren. Der hierüber erzürnte Vater bestrafte ihn<lb/>
damit daß er das Kind mit entblößtem Gesäß auf die Eisenplatten des heißen<lb/>
Herdes setzte Natürlich trug der Ärmste fürchterliche Brandwunden davon.<lb/>
Ist es wirklich eine genügende Sühne, wenn jene Burschen und dieser Vater<lb/>
dafür besten Falles auf einige Jahre die Freiheit verlieren? In England.<lb/>
Dänemark und den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Prügelstrafe<lb/>
geltenden Rechts, und die meisten Richter in England behaupten, daß die vor<lb/>
dem Jahre 1863 Überhand genommenen Raubanfälle durch Einführung der<lb/>
Prügelstrafe eine erhebliche Verminderung erfahren hätten. Erfahrungsgemäß<lb/>
neigen gerade die jüngsten strafrechtlich verantwortlichen Elemente am meisten<lb/>
zu Roheitsdelikten; wäre es deshalb nicht wenigstens erwägenswert, die Prügel-<lb/>
strafe für Jugendliche, wobei ich deren Alter allerdings ans enumdzwanzrg Jahre<lb/>
heraufgesetzt sehen möchte, einzuführen? Es käme dann, um die Strafe weiteren<lb/>
Kreisen annehmbar zu machen, in Betracht, daß me Prügelstrafe gegenüber<lb/>
jungen, noch erziehnngsbedürftigen Elementen nicht so demütigend ist als gegen-<lb/>
über Erwachsenen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0383] Kritische Aufsätze sein werden, die Schärfungen in Wegfall zu bringen, so sieht der Vorentwurf in einer weisen Bestimmung vor, daß das Gericht die Strafe selbst ver¬ längern darf, wenn die Schärfung in Wegfall kommt. Dann haben die Herren Verbrecher die Wahl, ob sie neun Monate mit Diät oder zwölf Monate mit voller Ernährung sitzen wollen. Alsdann aber wird mancher plötzlich finden, daß die warme Suppe, Speck und Hering mit drei Monaten der goldenen Freiheit doch zu teuer erkauft sind. Für sentimentale Gemüter sei noch bemerkt, daß nicht allein Rußland und Spanien, die in manchen Kreisen nicht mehr zu Europa gerechnet werden, sondern auch die kulturell hochstehenden Länder England, Schweiz, Norwegen Strafschärfungsmittel kennen. Norwegen hat die besonders gute Einrichtung, daß jeder Sträfling unbedingt die ersten beiden Tage seiner Strafhaft bei Wasser und Brot verbüßen muß. Ein nicht so leicht zu vergessender Eindruck. Das naheliegende Strafschärfungsmittel der Prügelstrafe einzuführen, hat der Entwurf unter Berufung auf die dieser Strafe als einer kulturwidrigen überwiegend abgeneigten Wissenschaft und Volksmeinung in Deutschland abgelehnt. Es wird auch bei dieser in Deutschland tatsächlich herrschenden Strömung erfolglos sein, für diese Strafe einzutreten, obwohl man als Strafrichter Roheitstaten genug zu sehen bekommt, bei denen man immer wieder das lebhafte Bedauern empfindet, daß man diesen Rodungen nicht am eigenen Leibe die Schmerz- haftigkeit von Mißhandlungen klar machen kann. Jedermann kennt solche Bei¬ spiele roher Exzesse aus den Mitteilungen der Presse. Um nur zwei der eigenen Praxis zu erzählen, so hatten zwei Burschen aus Übermut einen siebzigjährigen blinden Leierkastenmann überfallen, zu Boden geworfen, den Hilflosen mit seinem eigenen Stock so lange geschlagen, bis der Stock zerbrach, dann ihn mit Messer¬ stichen traktiert und liegen lassen. Ein sechsjähriger Knabe hatte zum zweitenmal in kurzer Frist seine Mütze verloren. Der hierüber erzürnte Vater bestrafte ihn damit daß er das Kind mit entblößtem Gesäß auf die Eisenplatten des heißen Herdes setzte Natürlich trug der Ärmste fürchterliche Brandwunden davon. Ist es wirklich eine genügende Sühne, wenn jene Burschen und dieser Vater dafür besten Falles auf einige Jahre die Freiheit verlieren? In England. Dänemark und den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Prügelstrafe geltenden Rechts, und die meisten Richter in England behaupten, daß die vor dem Jahre 1863 Überhand genommenen Raubanfälle durch Einführung der Prügelstrafe eine erhebliche Verminderung erfahren hätten. Erfahrungsgemäß neigen gerade die jüngsten strafrechtlich verantwortlichen Elemente am meisten zu Roheitsdelikten; wäre es deshalb nicht wenigstens erwägenswert, die Prügel- strafe für Jugendliche, wobei ich deren Alter allerdings ans enumdzwanzrg Jahre heraufgesetzt sehen möchte, einzuführen? Es käme dann, um die Strafe weiteren Kreisen annehmbar zu machen, in Betracht, daß me Prügelstrafe gegenüber jungen, noch erziehnngsbedürftigen Elementen nicht so demütigend ist als gegen- über Erwachsenen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/383
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/383>, abgerufen am 03.07.2024.