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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritisch" Aufsätze

dazu da, aufzupassen, daß uus darin nichts passiert." -- Bekannt sind allgemein
die Handlungen Obdachloser, die eine Spiegelscheibe einschlagen oder eine
Majestätsbeleidigung ausstotzen, um für die Wintermonate im Gefängnis warmes
Quartier und freie Verpflegung zu erhalten. Unsere Gefängnisse sind eben auf
einer gewissen Höhe des Komsorts angelangt, daß viele Insassen es an Pflege
und Nahrung viel wohnlicher treffen als zu Hause. Kommt nun noch hinzu,
daß sie aus einer Bevölkerungsschicht stammen, in der es weiter für keine
Schande gilt, zu "sitzen" oder "gesessen zu haben", so fehlt dem heutigen
Strafvollzuge, insbesondere dem kürzeren, jegliche Wirkung auf das Gemüt des
Sträflings. Solche Kreise finden wir aber nicht etwa nur unter dem Lumpen¬
proletariat der Großstädte, sondern auch in manchen Ortschaften unseres Jndustrie-
bezirks. So wird von einem ooerschlesischen Dorfe nahe der österreichischen
und russischen Grenze erzählt, daß, als der Gemeindevorsteher wegen Unter¬
schlagung von Mündelgeldern verurteilt und deshalb natürlich seines Amtes
entsetzt worden war, der Landrat in die größte Verlegenheit geriet, wen er
als Nachfolger für den Posten eines Gemeindevorstehers vorschlagen solle, da
sämtliche erwachsenen männlichen Dorfeinwohner mindestens wegen Witterns
oder Schmuggelns vorbestraft waren. Das vergegenwärtige man sich, um voll
zu begreifen, wie weit Eindruck es macht, wenn man einen solchen Staats¬
bürger mit zwei oder vier Wochen Gefängnis bestraft. Die Freiheitsstrafe
fängt für diese Kreise erst an ein Übel zu sein, wenn sie so lange dauert, daß
ihnen der Schnaps und die Weiber ernstlich fehlen. Da man aber wegen leichter
und mäßiger Verfehlungen unmöglich auf sechs Monate und darüber erkennen
kann, so handelt der Vorentwurf durchaus dem praktischen Bedürfnis ent¬
sprechend, wenn er Strafschärfungen einführt und in der von der Theorie auf¬
geworfenen Streitfrage, ob diese nur bei längeren oder auch bei kürzeren
Freiheitsstrafen anzuwenden seien, sich gerade für die letztere Alternative ent¬
scheidet. Die Schärfungen sollen in geminderter Kost und harter Lagerstätte
oder einen: von beiden bestehen. Daß die Gesundheit der hierzu Verurteilten
dadurch nicht leide, dafür ist durch detaillierte Bestimmungen über die Dauer
der Schärfungen und ihr Maß im Verhältnis zur Länge der zu verbüßenden
Freiheitsstrafe gesorgt. Stets muß die Schärfung an jedem dritten Tage weg¬
fallen. Den anderweitig verwandten Dunkelarrest hat der Vorentwurf als
Strafschärfungsmittel abgelehnt, einmal, weil dadurch die Arbeit des Sträf¬
lings (die einen erzieherischen Einfluß auf ihn ausüben soll) wiederholt
unterbrochen werden würde und zweitens, weil noch ein Mittel als Disziplinar-
mittel zurückbleiben soll. Man wird dies durchaus billigen können. Da alle
Verurteilten von irgendwie zweifelhafter Gesundheit, wenn der Richter gegen
sie auf Kostentziehung erkannt haben wird, in der Strafanstalt alles in Bewegung
setzen werden, um den Nachweis zu führen, daß die Ernährung mit Wasser
und Brot ihrer Gesundheit abträglich sei, und der Anstaltsarzt oder die
Beschwerdeinstanz schon aus Scheu vor der Öffentlichkeit nur zu häufig geneigt


Kritisch» Aufsätze

dazu da, aufzupassen, daß uus darin nichts passiert." — Bekannt sind allgemein
die Handlungen Obdachloser, die eine Spiegelscheibe einschlagen oder eine
Majestätsbeleidigung ausstotzen, um für die Wintermonate im Gefängnis warmes
Quartier und freie Verpflegung zu erhalten. Unsere Gefängnisse sind eben auf
einer gewissen Höhe des Komsorts angelangt, daß viele Insassen es an Pflege
und Nahrung viel wohnlicher treffen als zu Hause. Kommt nun noch hinzu,
daß sie aus einer Bevölkerungsschicht stammen, in der es weiter für keine
Schande gilt, zu „sitzen" oder „gesessen zu haben", so fehlt dem heutigen
Strafvollzuge, insbesondere dem kürzeren, jegliche Wirkung auf das Gemüt des
Sträflings. Solche Kreise finden wir aber nicht etwa nur unter dem Lumpen¬
proletariat der Großstädte, sondern auch in manchen Ortschaften unseres Jndustrie-
bezirks. So wird von einem ooerschlesischen Dorfe nahe der österreichischen
und russischen Grenze erzählt, daß, als der Gemeindevorsteher wegen Unter¬
schlagung von Mündelgeldern verurteilt und deshalb natürlich seines Amtes
entsetzt worden war, der Landrat in die größte Verlegenheit geriet, wen er
als Nachfolger für den Posten eines Gemeindevorstehers vorschlagen solle, da
sämtliche erwachsenen männlichen Dorfeinwohner mindestens wegen Witterns
oder Schmuggelns vorbestraft waren. Das vergegenwärtige man sich, um voll
zu begreifen, wie weit Eindruck es macht, wenn man einen solchen Staats¬
bürger mit zwei oder vier Wochen Gefängnis bestraft. Die Freiheitsstrafe
fängt für diese Kreise erst an ein Übel zu sein, wenn sie so lange dauert, daß
ihnen der Schnaps und die Weiber ernstlich fehlen. Da man aber wegen leichter
und mäßiger Verfehlungen unmöglich auf sechs Monate und darüber erkennen
kann, so handelt der Vorentwurf durchaus dem praktischen Bedürfnis ent¬
sprechend, wenn er Strafschärfungen einführt und in der von der Theorie auf¬
geworfenen Streitfrage, ob diese nur bei längeren oder auch bei kürzeren
Freiheitsstrafen anzuwenden seien, sich gerade für die letztere Alternative ent¬
scheidet. Die Schärfungen sollen in geminderter Kost und harter Lagerstätte
oder einen: von beiden bestehen. Daß die Gesundheit der hierzu Verurteilten
dadurch nicht leide, dafür ist durch detaillierte Bestimmungen über die Dauer
der Schärfungen und ihr Maß im Verhältnis zur Länge der zu verbüßenden
Freiheitsstrafe gesorgt. Stets muß die Schärfung an jedem dritten Tage weg¬
fallen. Den anderweitig verwandten Dunkelarrest hat der Vorentwurf als
Strafschärfungsmittel abgelehnt, einmal, weil dadurch die Arbeit des Sträf¬
lings (die einen erzieherischen Einfluß auf ihn ausüben soll) wiederholt
unterbrochen werden würde und zweitens, weil noch ein Mittel als Disziplinar-
mittel zurückbleiben soll. Man wird dies durchaus billigen können. Da alle
Verurteilten von irgendwie zweifelhafter Gesundheit, wenn der Richter gegen
sie auf Kostentziehung erkannt haben wird, in der Strafanstalt alles in Bewegung
setzen werden, um den Nachweis zu führen, daß die Ernährung mit Wasser
und Brot ihrer Gesundheit abträglich sei, und der Anstaltsarzt oder die
Beschwerdeinstanz schon aus Scheu vor der Öffentlichkeit nur zu häufig geneigt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/382>, abgerufen am 01.07.2024.