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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage in Ungarn

andere war nur Beiwerk, wobei keineswegs ausgeschlossen ist, daß abermals mit
geschickt verteilten Rollen gearbeitet wurde, denn Regierung wie Opposition
hatten das gemeinsame Interesse, nicht durch eine ernste Wahlreform um ihre
herrschende Stellung gebracht zu werden. Über diesen eigentlichen Kernpunkt
der sogenannten Verhandlungen mit Wien ist auch diesmal der Bevölkerung
kein ehrlicher Aufschluß gegeben worden, sondern sie wurde mit Mitteilungen
über Nebensachen abgespeist. Sie ist ja niemals über die wirklichen Vorgänge
in der parlamentarischen Koterie mit voller Wahrheit unterrichtet worden. Das
Abgeordnetenhaus hatte wohl fleißig gearbeitet, die Steuerreform angenommen
und auch die auswärtige Lage in unzweifelhaft patriotischen: Sinne behandelt.
Aber das konnte der Krone nicht mehr genügen, da der Pakt mit der Koalition
ihren weiteren Plänen im Wege stand und so oder so beseitigt werden mußte.
Als dann das Abgeordnetenhaus sich über die Bankfrage zu ereifern begann,
Justs mit Rücksicht auf die Zukunft seine Trennung von Kossuth einleitete,
benutzte das Ministerium die günstige Gelegenheit, sich einen patriotischen Ab¬
gang zu sichern, und gab am 25. März seine Demission. Die Blätter wußten
bloß zu melden, es sei wegen der Bankfrage geschehen. Die Demission wurde
angenommen, das Kabinett aber mit der Weiterführung der Geschäfte beauftragt.
Der Kaiser begab sich am 4. Mai selbst nach Budapest, wie es hieß, um auf
Grundlage der Gemeinsamkeit der Armee und der Bank eine neue Parteibildung
anzuregen, kehrte aber am 12. unverrichteter Dinge nach Wien zurück. Es
war klar, daß mit der zerrütteten Koalition nichts Positives mehr ins Werk zu
setzen war, und ein neues "unparlamentarisches Ministerium" stand vor der
Tür. Da aber in Österreich sich gerade die parlamentarische Lage durch die
Obstruktion der slawischen Union aussichtslos gestaltet hatte und auch dort für
die Pläne der Neichsregierung augenblicklich nichts zu erreichen war, wurde am
6- Juli das Ministerium Wekerle von neuem ernannt und damit die ungarische
Krise zur weiteren Ausklärung bis zum Herbst vertagt. Damals soll aber der
Kaiser gesagt haben: "Es war genug der Provisorien in Ungarn, es muß
endlich ein Definitionen geschaffen werden."

Es war auffällig, in wie geringem Maße die Bevölkerung an den Vor¬
gängen teilnahm. Sie war vollkommen ernüchtert worden, denn das "Glanz¬
ministerium" hatte sich nicht im geringsten von seinen Vorgängern unterschieden.
Vergeblich hatte man ihm auf den Namen des glorifizierten Kossuth hin 1906
eine übermächtige Mehrheit gewählt, es hatte sich nichts gebessert. Da
sank auch der Glaube an die Kossuthlegende hin, obgleich der Sohn des
Gefeierten unter all den politischen Drahtziehern unstreitig der ehrlichste war.
Man erblickte Willen und Kraft nur bei der Krone, und die Annexion von
Bosnien und der Hcrzogewina hatte mit den darauffolgenden politischen
Schwierigkeiten auch in Ungarn erfrischend gewirkt. Die große Mehrzahl der
Abgeordneten, deren politische Existenz darauf beruht, mit der herrschenden
Partei zu gehen, war bereit, bei der ersten passenden Gelegenheit nach der


Die Lage in Ungarn

andere war nur Beiwerk, wobei keineswegs ausgeschlossen ist, daß abermals mit
geschickt verteilten Rollen gearbeitet wurde, denn Regierung wie Opposition
hatten das gemeinsame Interesse, nicht durch eine ernste Wahlreform um ihre
herrschende Stellung gebracht zu werden. Über diesen eigentlichen Kernpunkt
der sogenannten Verhandlungen mit Wien ist auch diesmal der Bevölkerung
kein ehrlicher Aufschluß gegeben worden, sondern sie wurde mit Mitteilungen
über Nebensachen abgespeist. Sie ist ja niemals über die wirklichen Vorgänge
in der parlamentarischen Koterie mit voller Wahrheit unterrichtet worden. Das
Abgeordnetenhaus hatte wohl fleißig gearbeitet, die Steuerreform angenommen
und auch die auswärtige Lage in unzweifelhaft patriotischen: Sinne behandelt.
Aber das konnte der Krone nicht mehr genügen, da der Pakt mit der Koalition
ihren weiteren Plänen im Wege stand und so oder so beseitigt werden mußte.
Als dann das Abgeordnetenhaus sich über die Bankfrage zu ereifern begann,
Justs mit Rücksicht auf die Zukunft seine Trennung von Kossuth einleitete,
benutzte das Ministerium die günstige Gelegenheit, sich einen patriotischen Ab¬
gang zu sichern, und gab am 25. März seine Demission. Die Blätter wußten
bloß zu melden, es sei wegen der Bankfrage geschehen. Die Demission wurde
angenommen, das Kabinett aber mit der Weiterführung der Geschäfte beauftragt.
Der Kaiser begab sich am 4. Mai selbst nach Budapest, wie es hieß, um auf
Grundlage der Gemeinsamkeit der Armee und der Bank eine neue Parteibildung
anzuregen, kehrte aber am 12. unverrichteter Dinge nach Wien zurück. Es
war klar, daß mit der zerrütteten Koalition nichts Positives mehr ins Werk zu
setzen war, und ein neues „unparlamentarisches Ministerium" stand vor der
Tür. Da aber in Österreich sich gerade die parlamentarische Lage durch die
Obstruktion der slawischen Union aussichtslos gestaltet hatte und auch dort für
die Pläne der Neichsregierung augenblicklich nichts zu erreichen war, wurde am
6- Juli das Ministerium Wekerle von neuem ernannt und damit die ungarische
Krise zur weiteren Ausklärung bis zum Herbst vertagt. Damals soll aber der
Kaiser gesagt haben: „Es war genug der Provisorien in Ungarn, es muß
endlich ein Definitionen geschaffen werden."

Es war auffällig, in wie geringem Maße die Bevölkerung an den Vor¬
gängen teilnahm. Sie war vollkommen ernüchtert worden, denn das „Glanz¬
ministerium" hatte sich nicht im geringsten von seinen Vorgängern unterschieden.
Vergeblich hatte man ihm auf den Namen des glorifizierten Kossuth hin 1906
eine übermächtige Mehrheit gewählt, es hatte sich nichts gebessert. Da
sank auch der Glaube an die Kossuthlegende hin, obgleich der Sohn des
Gefeierten unter all den politischen Drahtziehern unstreitig der ehrlichste war.
Man erblickte Willen und Kraft nur bei der Krone, und die Annexion von
Bosnien und der Hcrzogewina hatte mit den darauffolgenden politischen
Schwierigkeiten auch in Ungarn erfrischend gewirkt. Die große Mehrzahl der
Abgeordneten, deren politische Existenz darauf beruht, mit der herrschenden
Partei zu gehen, war bereit, bei der ersten passenden Gelegenheit nach der


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[0379] Die Lage in Ungarn andere war nur Beiwerk, wobei keineswegs ausgeschlossen ist, daß abermals mit geschickt verteilten Rollen gearbeitet wurde, denn Regierung wie Opposition hatten das gemeinsame Interesse, nicht durch eine ernste Wahlreform um ihre herrschende Stellung gebracht zu werden. Über diesen eigentlichen Kernpunkt der sogenannten Verhandlungen mit Wien ist auch diesmal der Bevölkerung kein ehrlicher Aufschluß gegeben worden, sondern sie wurde mit Mitteilungen über Nebensachen abgespeist. Sie ist ja niemals über die wirklichen Vorgänge in der parlamentarischen Koterie mit voller Wahrheit unterrichtet worden. Das Abgeordnetenhaus hatte wohl fleißig gearbeitet, die Steuerreform angenommen und auch die auswärtige Lage in unzweifelhaft patriotischen: Sinne behandelt. Aber das konnte der Krone nicht mehr genügen, da der Pakt mit der Koalition ihren weiteren Plänen im Wege stand und so oder so beseitigt werden mußte. Als dann das Abgeordnetenhaus sich über die Bankfrage zu ereifern begann, Justs mit Rücksicht auf die Zukunft seine Trennung von Kossuth einleitete, benutzte das Ministerium die günstige Gelegenheit, sich einen patriotischen Ab¬ gang zu sichern, und gab am 25. März seine Demission. Die Blätter wußten bloß zu melden, es sei wegen der Bankfrage geschehen. Die Demission wurde angenommen, das Kabinett aber mit der Weiterführung der Geschäfte beauftragt. Der Kaiser begab sich am 4. Mai selbst nach Budapest, wie es hieß, um auf Grundlage der Gemeinsamkeit der Armee und der Bank eine neue Parteibildung anzuregen, kehrte aber am 12. unverrichteter Dinge nach Wien zurück. Es war klar, daß mit der zerrütteten Koalition nichts Positives mehr ins Werk zu setzen war, und ein neues „unparlamentarisches Ministerium" stand vor der Tür. Da aber in Österreich sich gerade die parlamentarische Lage durch die Obstruktion der slawischen Union aussichtslos gestaltet hatte und auch dort für die Pläne der Neichsregierung augenblicklich nichts zu erreichen war, wurde am 6- Juli das Ministerium Wekerle von neuem ernannt und damit die ungarische Krise zur weiteren Ausklärung bis zum Herbst vertagt. Damals soll aber der Kaiser gesagt haben: „Es war genug der Provisorien in Ungarn, es muß endlich ein Definitionen geschaffen werden." Es war auffällig, in wie geringem Maße die Bevölkerung an den Vor¬ gängen teilnahm. Sie war vollkommen ernüchtert worden, denn das „Glanz¬ ministerium" hatte sich nicht im geringsten von seinen Vorgängern unterschieden. Vergeblich hatte man ihm auf den Namen des glorifizierten Kossuth hin 1906 eine übermächtige Mehrheit gewählt, es hatte sich nichts gebessert. Da sank auch der Glaube an die Kossuthlegende hin, obgleich der Sohn des Gefeierten unter all den politischen Drahtziehern unstreitig der ehrlichste war. Man erblickte Willen und Kraft nur bei der Krone, und die Annexion von Bosnien und der Hcrzogewina hatte mit den darauffolgenden politischen Schwierigkeiten auch in Ungarn erfrischend gewirkt. Die große Mehrzahl der Abgeordneten, deren politische Existenz darauf beruht, mit der herrschenden Partei zu gehen, war bereit, bei der ersten passenden Gelegenheit nach der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/379>, abgerufen am 03.07.2024.