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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage in Ungarn

wieder zur gewohnten Herrschaft zu gelangen, wäg die Tragweite der Verpflichtung
nicht von allen richtig ermessen worden sein. Im übrigen waren in: Verlaufe der
Zeit mancherlei Sinnesänderungen möglich, und schließlich hoffte man, sich
durch prompte Führung der Staatsgeschäfte der Krone gewissermaßen unentbehrlich
zu machen, wodurch die Wahlrechtsfrage obsolet werden konnte. Letzterer
Gesichtspunkt scheint längere Zeit hindurch ausschlaggebend gewesen zu sein.
Jedenfalls war 1907 für die Wahlreform noch nichts geschehen, wofür man sich
mit den unleugbaren Schwierigkeiten der Vorarbeiten entschuldigen konnte. Der
Kaiser hielt indessen unbedingt an der Durchführung des Pales fest, und darum
wurde das Jahr 1908 in der Hauptsache mit Winkelzügen zur Verschleppung
des Wahlgesetzes verbracht, nach dessen Erledigung auch die Armeefragen wieder
in Angriff genommen werden sollten.

Da man mit den nationalen Forderungen gegen Österreich sehr vorsichtig
sein mußte, wurden die nationalen Angelegenheiten im Lande um so eifriger
betrieben, um die Mehrheit zusammenzuhalten. Die Kroaten wurden durch
Verordnungen und Gesetzentwürfe in und außer dem Abgeordnetenhause noch
mehr als sonst malträtiert, das Unterrichtsgesetz des Grafen Apponyi lief auf
die vollkommenste Magyarisierung des gesamten Schulwesens hinaus. Im übrigen
bemühte man sich, neue Objekte aufzuspüren und durch sie das Abgeordnetenhaus
in Stimmungen zu versetzen, die das Einbringen der Wahlrechtsvorlage gar nicht
als rätlich erscheinen lassen mochten. Ein im Frühjahr aufgetauchter Plan, die
Verärgerung und teilweise Spaltung in der Mehrheit wegen des Ausgleichs zu
einer neuen Koalition auszubauen, die an die geltenden Abmachungen nicht
gebunden sei, war zwar echt magyarisch, wurde aber wegen ihrer sichtlichen
Gefährlichkeit bald fallen gelassen, da die Krone eine solche Überrumpelung nur
mit der Beseitigung der jetzigen Gewalthaber beantwortet hätte. Während
einzelne über die schwierige Lage des Kabinetts unterrichtete Parteiführer bereits
begannen, aus Mißvergnügten einen persönlichen Anhang zu sammeln, um bei
der künftigen Verteilung der Ministerposten auf demi Platze zu sein, wurde in
der zweiten Hälfte des Jahres als neues parlamentarisches Hindernis plötzlich
die Frage der selbständigen ungarischen Bank aufgerollt, für die das Ministerium
eifrig beflissen war, in Wien den Vorrang vor der Wahlreform durchzusetzen. Für
diese hatte der Minister des Innern GrafAudrassy ein die Magyaren ausschließlich
begünstigendes Plnralitätswahlgesetz entworfen, konnte aber trotz aller Abänderungs¬
vorschläge und Verhandlungen die definitive Genehmigung der Krone nicht erlangen.
Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina hatte inzwischen eine neue politische
Lage geschaffen, die eine weitere Verschleppung der großen Staatsangelegenheiten
nicht ertragen konnte. Die Krone drängte energisch auf die Durchführung des
hauptsächlichsten Punktes der Abmachung mit der Koalition, der Wahlreform, damit
nach Erfüllung des Paktes der Weg für neue Vereinbarungen frei würde.

So war die Lage zu Beginn des Jahres 1909, und unter Festhaltung
dieses Hauptgesichtspunktes sind die weiteren Vorgange aufzufassen. Alles


Die Lage in Ungarn

wieder zur gewohnten Herrschaft zu gelangen, wäg die Tragweite der Verpflichtung
nicht von allen richtig ermessen worden sein. Im übrigen waren in: Verlaufe der
Zeit mancherlei Sinnesänderungen möglich, und schließlich hoffte man, sich
durch prompte Führung der Staatsgeschäfte der Krone gewissermaßen unentbehrlich
zu machen, wodurch die Wahlrechtsfrage obsolet werden konnte. Letzterer
Gesichtspunkt scheint längere Zeit hindurch ausschlaggebend gewesen zu sein.
Jedenfalls war 1907 für die Wahlreform noch nichts geschehen, wofür man sich
mit den unleugbaren Schwierigkeiten der Vorarbeiten entschuldigen konnte. Der
Kaiser hielt indessen unbedingt an der Durchführung des Pales fest, und darum
wurde das Jahr 1908 in der Hauptsache mit Winkelzügen zur Verschleppung
des Wahlgesetzes verbracht, nach dessen Erledigung auch die Armeefragen wieder
in Angriff genommen werden sollten.

Da man mit den nationalen Forderungen gegen Österreich sehr vorsichtig
sein mußte, wurden die nationalen Angelegenheiten im Lande um so eifriger
betrieben, um die Mehrheit zusammenzuhalten. Die Kroaten wurden durch
Verordnungen und Gesetzentwürfe in und außer dem Abgeordnetenhause noch
mehr als sonst malträtiert, das Unterrichtsgesetz des Grafen Apponyi lief auf
die vollkommenste Magyarisierung des gesamten Schulwesens hinaus. Im übrigen
bemühte man sich, neue Objekte aufzuspüren und durch sie das Abgeordnetenhaus
in Stimmungen zu versetzen, die das Einbringen der Wahlrechtsvorlage gar nicht
als rätlich erscheinen lassen mochten. Ein im Frühjahr aufgetauchter Plan, die
Verärgerung und teilweise Spaltung in der Mehrheit wegen des Ausgleichs zu
einer neuen Koalition auszubauen, die an die geltenden Abmachungen nicht
gebunden sei, war zwar echt magyarisch, wurde aber wegen ihrer sichtlichen
Gefährlichkeit bald fallen gelassen, da die Krone eine solche Überrumpelung nur
mit der Beseitigung der jetzigen Gewalthaber beantwortet hätte. Während
einzelne über die schwierige Lage des Kabinetts unterrichtete Parteiführer bereits
begannen, aus Mißvergnügten einen persönlichen Anhang zu sammeln, um bei
der künftigen Verteilung der Ministerposten auf demi Platze zu sein, wurde in
der zweiten Hälfte des Jahres als neues parlamentarisches Hindernis plötzlich
die Frage der selbständigen ungarischen Bank aufgerollt, für die das Ministerium
eifrig beflissen war, in Wien den Vorrang vor der Wahlreform durchzusetzen. Für
diese hatte der Minister des Innern GrafAudrassy ein die Magyaren ausschließlich
begünstigendes Plnralitätswahlgesetz entworfen, konnte aber trotz aller Abänderungs¬
vorschläge und Verhandlungen die definitive Genehmigung der Krone nicht erlangen.
Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina hatte inzwischen eine neue politische
Lage geschaffen, die eine weitere Verschleppung der großen Staatsangelegenheiten
nicht ertragen konnte. Die Krone drängte energisch auf die Durchführung des
hauptsächlichsten Punktes der Abmachung mit der Koalition, der Wahlreform, damit
nach Erfüllung des Paktes der Weg für neue Vereinbarungen frei würde.

So war die Lage zu Beginn des Jahres 1909, und unter Festhaltung
dieses Hauptgesichtspunktes sind die weiteren Vorgange aufzufassen. Alles


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[0378] Die Lage in Ungarn wieder zur gewohnten Herrschaft zu gelangen, wäg die Tragweite der Verpflichtung nicht von allen richtig ermessen worden sein. Im übrigen waren in: Verlaufe der Zeit mancherlei Sinnesänderungen möglich, und schließlich hoffte man, sich durch prompte Führung der Staatsgeschäfte der Krone gewissermaßen unentbehrlich zu machen, wodurch die Wahlrechtsfrage obsolet werden konnte. Letzterer Gesichtspunkt scheint längere Zeit hindurch ausschlaggebend gewesen zu sein. Jedenfalls war 1907 für die Wahlreform noch nichts geschehen, wofür man sich mit den unleugbaren Schwierigkeiten der Vorarbeiten entschuldigen konnte. Der Kaiser hielt indessen unbedingt an der Durchführung des Pales fest, und darum wurde das Jahr 1908 in der Hauptsache mit Winkelzügen zur Verschleppung des Wahlgesetzes verbracht, nach dessen Erledigung auch die Armeefragen wieder in Angriff genommen werden sollten. Da man mit den nationalen Forderungen gegen Österreich sehr vorsichtig sein mußte, wurden die nationalen Angelegenheiten im Lande um so eifriger betrieben, um die Mehrheit zusammenzuhalten. Die Kroaten wurden durch Verordnungen und Gesetzentwürfe in und außer dem Abgeordnetenhause noch mehr als sonst malträtiert, das Unterrichtsgesetz des Grafen Apponyi lief auf die vollkommenste Magyarisierung des gesamten Schulwesens hinaus. Im übrigen bemühte man sich, neue Objekte aufzuspüren und durch sie das Abgeordnetenhaus in Stimmungen zu versetzen, die das Einbringen der Wahlrechtsvorlage gar nicht als rätlich erscheinen lassen mochten. Ein im Frühjahr aufgetauchter Plan, die Verärgerung und teilweise Spaltung in der Mehrheit wegen des Ausgleichs zu einer neuen Koalition auszubauen, die an die geltenden Abmachungen nicht gebunden sei, war zwar echt magyarisch, wurde aber wegen ihrer sichtlichen Gefährlichkeit bald fallen gelassen, da die Krone eine solche Überrumpelung nur mit der Beseitigung der jetzigen Gewalthaber beantwortet hätte. Während einzelne über die schwierige Lage des Kabinetts unterrichtete Parteiführer bereits begannen, aus Mißvergnügten einen persönlichen Anhang zu sammeln, um bei der künftigen Verteilung der Ministerposten auf demi Platze zu sein, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres als neues parlamentarisches Hindernis plötzlich die Frage der selbständigen ungarischen Bank aufgerollt, für die das Ministerium eifrig beflissen war, in Wien den Vorrang vor der Wahlreform durchzusetzen. Für diese hatte der Minister des Innern GrafAudrassy ein die Magyaren ausschließlich begünstigendes Plnralitätswahlgesetz entworfen, konnte aber trotz aller Abänderungs¬ vorschläge und Verhandlungen die definitive Genehmigung der Krone nicht erlangen. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina hatte inzwischen eine neue politische Lage geschaffen, die eine weitere Verschleppung der großen Staatsangelegenheiten nicht ertragen konnte. Die Krone drängte energisch auf die Durchführung des hauptsächlichsten Punktes der Abmachung mit der Koalition, der Wahlreform, damit nach Erfüllung des Paktes der Weg für neue Vereinbarungen frei würde. So war die Lage zu Beginn des Jahres 1909, und unter Festhaltung dieses Hauptgesichtspunktes sind die weiteren Vorgange aufzufassen. Alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/378>, abgerufen am 22.07.2024.