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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage in Ungarn

Richtung abzuschwenken, in der sich die neue Macht konzentrieren würde. Das
Kabinett hatte im Parlament keine Stütze mehr, und darum wäre selbst ein
ernstlicher Versuch der Krone, doch mit ihm ein Auskommen zu finden, aus¬
sichtslos gewesen. Unter diesen Umständen hatten verschiedene Audienzen
Wekerles in Wien keinen Erfolg mehr. Auch im Kronrat am 20. Oktober in
Wien erklärte der Kaiser den nochmals mit Vorschlägen anrückenden Exzellenzen,
er wünsche die Lösung der Krise auf verfassungsmäßigen Wege, fordere
aber von ihnen die Einlösung der übernommenen Verpflichtungen. Das
war den Herren nicht möglich, die Parteizersetzung ging weiter und das
Abgeordnetenhaus erteilte schließlich dem Ministerium bei der Beratung des
Budgetprovisoriums sogar ein Mißtrauensvotum, so daß das Jahr 1910
mit einem budgetlosen Zustande (ex lsx -- sagen die Ungarn) begann. Seit
dem 19. Dezember 1909 waren als Vertrauensmänner des Kaisers Graf Khuen-
Hedervary und von Lukacs in Budapest für eine neue Kabinettsbildung tätig,
am 23. letzterer mit ihr speziell beauftragt und am 3. Januar 1910 zum
Ministerpräsidenten ernannt, doch schon am 11. durch den Grafen Khuen-
Hedervary ersetzt. Dieser beschloß, sich auf seine frühere liberale Partei,
die auf dem Standpunkt des Ausgleichs von 1867 steht, zu stützen, woraus
die Notwendigkeit der Auflösung des Reichstages hervorging. Am 18. wurde
das Ministeriums Wekerle definitiv, aber ungemein gnädig, entlassen, und das
Kabinett Khuen-Hedervary, in das von Lukacs als Finanzminister eingetreten
war, vereidigt. Da das Abgeordnetenhaus nach viertägiger lärmender Debatte
mit großer Mehrheit ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium angenommen
hatte, wurde es am 28. Januar vertagt. In der Schlußsitzung am 31. Mürz,
in der das Auflösungsdekret für den folgenden Tag verlesen wurde, machten
Angehörige der Jufthpartei einen unerhörte" Skandal und warfen schließlich
allerlei Gegenstände nach den Ministern, wodurch Graf Khuen-Hedervary und
der Ackerbauminister Graf Szarenyi nicht unerheblich verwundet wurden. Eine
allgemeine Balgerei im Saale schloß sich daran.

Das war das bezeichnende Ende der sogenannten Koalition, von deren
Schlagworten sich die Bevölkerung längst enttäuscht abgewendet und in hellen
Haufen der vom Ministerium begründeten "nationalen Arbeitspartei" angeschlossen
hatte, die das allgemeine Wahlrecht, entgegenkommende Behandlung der
Nationen und die so schmerzlich entbehrten Reformen, namentlich im Ver-
waltuugs- und Justizwesen, in Aussicht stellte. Eine solche Roheit war
auch im ungarischen Abgeordnetenhause noch nicht vorgekommen. Die Folgen
von allem zeigten sich bei den Neuwahlen, die im ersten Drittel des Monats
Juni stattfanden. Die Regierungspartei hatte schon in den ersten Wahltagen
die Mehrheit errungen, die jetzt unter Justs und Kossuth getrennte Unabhängig¬
keitspartei, die unter Wekerle aus zweihnnoertdreiunddreißig Mandate gestiegen
war, hatte zusammen hundertfünfzig Wahlsitze eingebüßt. Unter diesen Umständen
war es erklärlich, daß Kaiser Franz Joseph persönlich zur Eröffnung des Reichs-


Die Lage in Ungarn

Richtung abzuschwenken, in der sich die neue Macht konzentrieren würde. Das
Kabinett hatte im Parlament keine Stütze mehr, und darum wäre selbst ein
ernstlicher Versuch der Krone, doch mit ihm ein Auskommen zu finden, aus¬
sichtslos gewesen. Unter diesen Umständen hatten verschiedene Audienzen
Wekerles in Wien keinen Erfolg mehr. Auch im Kronrat am 20. Oktober in
Wien erklärte der Kaiser den nochmals mit Vorschlägen anrückenden Exzellenzen,
er wünsche die Lösung der Krise auf verfassungsmäßigen Wege, fordere
aber von ihnen die Einlösung der übernommenen Verpflichtungen. Das
war den Herren nicht möglich, die Parteizersetzung ging weiter und das
Abgeordnetenhaus erteilte schließlich dem Ministerium bei der Beratung des
Budgetprovisoriums sogar ein Mißtrauensvotum, so daß das Jahr 1910
mit einem budgetlosen Zustande (ex lsx — sagen die Ungarn) begann. Seit
dem 19. Dezember 1909 waren als Vertrauensmänner des Kaisers Graf Khuen-
Hedervary und von Lukacs in Budapest für eine neue Kabinettsbildung tätig,
am 23. letzterer mit ihr speziell beauftragt und am 3. Januar 1910 zum
Ministerpräsidenten ernannt, doch schon am 11. durch den Grafen Khuen-
Hedervary ersetzt. Dieser beschloß, sich auf seine frühere liberale Partei,
die auf dem Standpunkt des Ausgleichs von 1867 steht, zu stützen, woraus
die Notwendigkeit der Auflösung des Reichstages hervorging. Am 18. wurde
das Ministeriums Wekerle definitiv, aber ungemein gnädig, entlassen, und das
Kabinett Khuen-Hedervary, in das von Lukacs als Finanzminister eingetreten
war, vereidigt. Da das Abgeordnetenhaus nach viertägiger lärmender Debatte
mit großer Mehrheit ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium angenommen
hatte, wurde es am 28. Januar vertagt. In der Schlußsitzung am 31. Mürz,
in der das Auflösungsdekret für den folgenden Tag verlesen wurde, machten
Angehörige der Jufthpartei einen unerhörte» Skandal und warfen schließlich
allerlei Gegenstände nach den Ministern, wodurch Graf Khuen-Hedervary und
der Ackerbauminister Graf Szarenyi nicht unerheblich verwundet wurden. Eine
allgemeine Balgerei im Saale schloß sich daran.

Das war das bezeichnende Ende der sogenannten Koalition, von deren
Schlagworten sich die Bevölkerung längst enttäuscht abgewendet und in hellen
Haufen der vom Ministerium begründeten „nationalen Arbeitspartei" angeschlossen
hatte, die das allgemeine Wahlrecht, entgegenkommende Behandlung der
Nationen und die so schmerzlich entbehrten Reformen, namentlich im Ver-
waltuugs- und Justizwesen, in Aussicht stellte. Eine solche Roheit war
auch im ungarischen Abgeordnetenhause noch nicht vorgekommen. Die Folgen
von allem zeigten sich bei den Neuwahlen, die im ersten Drittel des Monats
Juni stattfanden. Die Regierungspartei hatte schon in den ersten Wahltagen
die Mehrheit errungen, die jetzt unter Justs und Kossuth getrennte Unabhängig¬
keitspartei, die unter Wekerle aus zweihnnoertdreiunddreißig Mandate gestiegen
war, hatte zusammen hundertfünfzig Wahlsitze eingebüßt. Unter diesen Umständen
war es erklärlich, daß Kaiser Franz Joseph persönlich zur Eröffnung des Reichs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/380>, abgerufen am 01.07.2024.