Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Beiträge

der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen
entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde. Aber sind nicht bei den meisten
Übertretungen die Tatfolgen unbedeutend und der verbrecherische Wille gering?
Kann nicht ein zur Milde geneigtes Gericht solche Übertretungen so oft es will
entschuldbar und die gesetzliche Strafe für zu hart befinden? Man erinnere sich
nur der Neigung unserer Geschworenen, schon heut, wenn das Gefühl mit
ihnen durchgeht oder ein geschickter Verteidiger sie zu fasziuieren versteht, sich
über das Recht hinwegzusetzen und eine klare Schuldfrage zu verneinen, weil
sie von diesem Angeklagten jede Strafe oder eine bestimmte Strafart fernhalten
wollen. Der Laie ist eben vielfach noch nicht juristisch reif genug, um
Recht und Gnade auseinanderhalten zu können. Grade in demselben Augen¬
blicke, in welchem die neue Strafprozeßordnung alle erstinstanzlichen Gerichte mit
Laien durchsetzt, soll die Kompetenz dieser neuen Gerichte bis zur Begnadigung
erweitert werden! Nun lasse man, wie es unvermeidlich sein wird, die Gnade
des ß 83 in einer Reihe von Fällen Angehörigen der wohlhabenden Stände
zuteil werden, und das Geschrei, daß die Gerichte Klassenjustiz treiben, wird
überhaupt nicht mehr zum Verstummen gebracht werden können. Aber wenn
selbst diese Rücksicht unbeachtlich erscheinen sollte, so bleiben doch noch zwei
andere Gesichtspunkte, welche meines Erachtens zwingend gegen die Einführung
eines richterlichen Gnadenrechts sprechen.

Einer der Hauptzwecke und Wirkungen der verkündeten Strafgesetze auf die
Volkspsyche ist die Abschreckung. So wie wir in unseren Grubenbezirken die
vom Bergbau unterwühlten Grubenfelder mit einem Drahtzaun umgeben und
Tafeln mit gemaltem Totengebein aufrichten, zum Zeichen dessen, daß jeder,
der diesen Zaun übertritt, Gefahr läuft, rettungslos zu versinken, so soll das
Strafgesetz wie eine Warnungstafel aufgerichtet sein, daß jeder, der es wagt,
es zu übertreten, notwendig der Strafe verfällt. Wenn heute das Mädchen,
dem zum ersten Male das Gelüst kommt, ausgelegte Eßwaren zu stehlen, die
Dame, welche wünscht, eine Nebenbuhlerin durch einen anonymen Brief zu
kränken, die Burschen, welche die Lust verspüren, ohne Not den Feuermelder zu
ziehen, wenn alle diese den Kampf zwischen ihren religiösen und moralischen
Hemmungen einerseits und ihrer verbrecherischen Neigung anderseits kämpfen,
so fällt gegenüber der Strafandrohung des Gesetzes in der einen Schale in die
andere Schale nnr die Hoffnung, daß sie bei ihrer Tat nicht ertappt werden.
Kommt aber nach dem Neuen Rechte noch die Hoffnung hinzu: "und wenn du
ertappt wirst, so bist du ja unbestraft, und da kann dein Fall wohl so leicht
angesehen werden, daß das Gericht von einer Strafe überhaupt absieht --" --
wie oft wird dann die schwarze Schale des Entschlusses zum Verbrechen sinken,
wo sie in früheren Fällen ohne dieses Übergewicht nicht gesunken wäre. Darüber
wird sich natürlich nie eine Statistik aufstellen lassen. Aber wenn man jahre¬
lang mit dein kriminellen Teile des Publikums zu tun gehabt hat. so weiß


Kritische Beiträge

der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen
entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde. Aber sind nicht bei den meisten
Übertretungen die Tatfolgen unbedeutend und der verbrecherische Wille gering?
Kann nicht ein zur Milde geneigtes Gericht solche Übertretungen so oft es will
entschuldbar und die gesetzliche Strafe für zu hart befinden? Man erinnere sich
nur der Neigung unserer Geschworenen, schon heut, wenn das Gefühl mit
ihnen durchgeht oder ein geschickter Verteidiger sie zu fasziuieren versteht, sich
über das Recht hinwegzusetzen und eine klare Schuldfrage zu verneinen, weil
sie von diesem Angeklagten jede Strafe oder eine bestimmte Strafart fernhalten
wollen. Der Laie ist eben vielfach noch nicht juristisch reif genug, um
Recht und Gnade auseinanderhalten zu können. Grade in demselben Augen¬
blicke, in welchem die neue Strafprozeßordnung alle erstinstanzlichen Gerichte mit
Laien durchsetzt, soll die Kompetenz dieser neuen Gerichte bis zur Begnadigung
erweitert werden! Nun lasse man, wie es unvermeidlich sein wird, die Gnade
des ß 83 in einer Reihe von Fällen Angehörigen der wohlhabenden Stände
zuteil werden, und das Geschrei, daß die Gerichte Klassenjustiz treiben, wird
überhaupt nicht mehr zum Verstummen gebracht werden können. Aber wenn
selbst diese Rücksicht unbeachtlich erscheinen sollte, so bleiben doch noch zwei
andere Gesichtspunkte, welche meines Erachtens zwingend gegen die Einführung
eines richterlichen Gnadenrechts sprechen.

Einer der Hauptzwecke und Wirkungen der verkündeten Strafgesetze auf die
Volkspsyche ist die Abschreckung. So wie wir in unseren Grubenbezirken die
vom Bergbau unterwühlten Grubenfelder mit einem Drahtzaun umgeben und
Tafeln mit gemaltem Totengebein aufrichten, zum Zeichen dessen, daß jeder,
der diesen Zaun übertritt, Gefahr läuft, rettungslos zu versinken, so soll das
Strafgesetz wie eine Warnungstafel aufgerichtet sein, daß jeder, der es wagt,
es zu übertreten, notwendig der Strafe verfällt. Wenn heute das Mädchen,
dem zum ersten Male das Gelüst kommt, ausgelegte Eßwaren zu stehlen, die
Dame, welche wünscht, eine Nebenbuhlerin durch einen anonymen Brief zu
kränken, die Burschen, welche die Lust verspüren, ohne Not den Feuermelder zu
ziehen, wenn alle diese den Kampf zwischen ihren religiösen und moralischen
Hemmungen einerseits und ihrer verbrecherischen Neigung anderseits kämpfen,
so fällt gegenüber der Strafandrohung des Gesetzes in der einen Schale in die
andere Schale nnr die Hoffnung, daß sie bei ihrer Tat nicht ertappt werden.
Kommt aber nach dem Neuen Rechte noch die Hoffnung hinzu: „und wenn du
ertappt wirst, so bist du ja unbestraft, und da kann dein Fall wohl so leicht
angesehen werden, daß das Gericht von einer Strafe überhaupt absieht —" —
wie oft wird dann die schwarze Schale des Entschlusses zum Verbrechen sinken,
wo sie in früheren Fällen ohne dieses Übergewicht nicht gesunken wäre. Darüber
wird sich natürlich nie eine Statistik aufstellen lassen. Aber wenn man jahre¬
lang mit dein kriminellen Teile des Publikums zu tun gehabt hat. so weiß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0034" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316323"/>
            <fw type="header" place="top"> Kritische Beiträge</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_88" prev="#ID_87"> der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen<lb/>
entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des<lb/>
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde. Aber sind nicht bei den meisten<lb/>
Übertretungen die Tatfolgen unbedeutend und der verbrecherische Wille gering?<lb/>
Kann nicht ein zur Milde geneigtes Gericht solche Übertretungen so oft es will<lb/>
entschuldbar und die gesetzliche Strafe für zu hart befinden? Man erinnere sich<lb/>
nur der Neigung unserer Geschworenen, schon heut, wenn das Gefühl mit<lb/>
ihnen durchgeht oder ein geschickter Verteidiger sie zu fasziuieren versteht, sich<lb/>
über das Recht hinwegzusetzen und eine klare Schuldfrage zu verneinen, weil<lb/>
sie von diesem Angeklagten jede Strafe oder eine bestimmte Strafart fernhalten<lb/>
wollen. Der Laie ist eben vielfach noch nicht juristisch reif genug, um<lb/>
Recht und Gnade auseinanderhalten zu können. Grade in demselben Augen¬<lb/>
blicke, in welchem die neue Strafprozeßordnung alle erstinstanzlichen Gerichte mit<lb/>
Laien durchsetzt, soll die Kompetenz dieser neuen Gerichte bis zur Begnadigung<lb/>
erweitert werden! Nun lasse man, wie es unvermeidlich sein wird, die Gnade<lb/>
des ß 83 in einer Reihe von Fällen Angehörigen der wohlhabenden Stände<lb/>
zuteil werden, und das Geschrei, daß die Gerichte Klassenjustiz treiben, wird<lb/>
überhaupt nicht mehr zum Verstummen gebracht werden können. Aber wenn<lb/>
selbst diese Rücksicht unbeachtlich erscheinen sollte, so bleiben doch noch zwei<lb/>
andere Gesichtspunkte, welche meines Erachtens zwingend gegen die Einführung<lb/>
eines richterlichen Gnadenrechts sprechen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_89" next="#ID_90"> Einer der Hauptzwecke und Wirkungen der verkündeten Strafgesetze auf die<lb/>
Volkspsyche ist die Abschreckung. So wie wir in unseren Grubenbezirken die<lb/>
vom Bergbau unterwühlten Grubenfelder mit einem Drahtzaun umgeben und<lb/>
Tafeln mit gemaltem Totengebein aufrichten, zum Zeichen dessen, daß jeder,<lb/>
der diesen Zaun übertritt, Gefahr läuft, rettungslos zu versinken, so soll das<lb/>
Strafgesetz wie eine Warnungstafel aufgerichtet sein, daß jeder, der es wagt,<lb/>
es zu übertreten, notwendig der Strafe verfällt. Wenn heute das Mädchen,<lb/>
dem zum ersten Male das Gelüst kommt, ausgelegte Eßwaren zu stehlen, die<lb/>
Dame, welche wünscht, eine Nebenbuhlerin durch einen anonymen Brief zu<lb/>
kränken, die Burschen, welche die Lust verspüren, ohne Not den Feuermelder zu<lb/>
ziehen, wenn alle diese den Kampf zwischen ihren religiösen und moralischen<lb/>
Hemmungen einerseits und ihrer verbrecherischen Neigung anderseits kämpfen,<lb/>
so fällt gegenüber der Strafandrohung des Gesetzes in der einen Schale in die<lb/>
andere Schale nnr die Hoffnung, daß sie bei ihrer Tat nicht ertappt werden.<lb/>
Kommt aber nach dem Neuen Rechte noch die Hoffnung hinzu: &#x201E;und wenn du<lb/>
ertappt wirst, so bist du ja unbestraft, und da kann dein Fall wohl so leicht<lb/>
angesehen werden, daß das Gericht von einer Strafe überhaupt absieht &#x2014;" &#x2014;<lb/>
wie oft wird dann die schwarze Schale des Entschlusses zum Verbrechen sinken,<lb/>
wo sie in früheren Fällen ohne dieses Übergewicht nicht gesunken wäre. Darüber<lb/>
wird sich natürlich nie eine Statistik aufstellen lassen. Aber wenn man jahre¬<lb/>
lang mit dein kriminellen Teile des Publikums zu tun gehabt hat. so weiß</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0034] Kritische Beiträge der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde. Aber sind nicht bei den meisten Übertretungen die Tatfolgen unbedeutend und der verbrecherische Wille gering? Kann nicht ein zur Milde geneigtes Gericht solche Übertretungen so oft es will entschuldbar und die gesetzliche Strafe für zu hart befinden? Man erinnere sich nur der Neigung unserer Geschworenen, schon heut, wenn das Gefühl mit ihnen durchgeht oder ein geschickter Verteidiger sie zu fasziuieren versteht, sich über das Recht hinwegzusetzen und eine klare Schuldfrage zu verneinen, weil sie von diesem Angeklagten jede Strafe oder eine bestimmte Strafart fernhalten wollen. Der Laie ist eben vielfach noch nicht juristisch reif genug, um Recht und Gnade auseinanderhalten zu können. Grade in demselben Augen¬ blicke, in welchem die neue Strafprozeßordnung alle erstinstanzlichen Gerichte mit Laien durchsetzt, soll die Kompetenz dieser neuen Gerichte bis zur Begnadigung erweitert werden! Nun lasse man, wie es unvermeidlich sein wird, die Gnade des ß 83 in einer Reihe von Fällen Angehörigen der wohlhabenden Stände zuteil werden, und das Geschrei, daß die Gerichte Klassenjustiz treiben, wird überhaupt nicht mehr zum Verstummen gebracht werden können. Aber wenn selbst diese Rücksicht unbeachtlich erscheinen sollte, so bleiben doch noch zwei andere Gesichtspunkte, welche meines Erachtens zwingend gegen die Einführung eines richterlichen Gnadenrechts sprechen. Einer der Hauptzwecke und Wirkungen der verkündeten Strafgesetze auf die Volkspsyche ist die Abschreckung. So wie wir in unseren Grubenbezirken die vom Bergbau unterwühlten Grubenfelder mit einem Drahtzaun umgeben und Tafeln mit gemaltem Totengebein aufrichten, zum Zeichen dessen, daß jeder, der diesen Zaun übertritt, Gefahr läuft, rettungslos zu versinken, so soll das Strafgesetz wie eine Warnungstafel aufgerichtet sein, daß jeder, der es wagt, es zu übertreten, notwendig der Strafe verfällt. Wenn heute das Mädchen, dem zum ersten Male das Gelüst kommt, ausgelegte Eßwaren zu stehlen, die Dame, welche wünscht, eine Nebenbuhlerin durch einen anonymen Brief zu kränken, die Burschen, welche die Lust verspüren, ohne Not den Feuermelder zu ziehen, wenn alle diese den Kampf zwischen ihren religiösen und moralischen Hemmungen einerseits und ihrer verbrecherischen Neigung anderseits kämpfen, so fällt gegenüber der Strafandrohung des Gesetzes in der einen Schale in die andere Schale nnr die Hoffnung, daß sie bei ihrer Tat nicht ertappt werden. Kommt aber nach dem Neuen Rechte noch die Hoffnung hinzu: „und wenn du ertappt wirst, so bist du ja unbestraft, und da kann dein Fall wohl so leicht angesehen werden, daß das Gericht von einer Strafe überhaupt absieht —" — wie oft wird dann die schwarze Schale des Entschlusses zum Verbrechen sinken, wo sie in früheren Fällen ohne dieses Übergewicht nicht gesunken wäre. Darüber wird sich natürlich nie eine Statistik aufstellen lassen. Aber wenn man jahre¬ lang mit dein kriminellen Teile des Publikums zu tun gehabt hat. so weiß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/34
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/34>, abgerufen am 03.07.2024.