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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Beiträge

Genugtuung haben will, welcher auf seine Privatrache nur verzichtet, weil er zu
dem staatlichen Ahndungsrechte Vertrauen hat, und welcher nichts von Genugtuung
und Ahndung sieht, wenn die Strafe ausgesetzt wird und der Verurteilte vergnügt
nach Hause wandert, um sie voraussichtlich niemals anzutreten. Man möge den
Vormurf der Klassenjustiz, der sich auch bei größtem Streben der Richter nach
Objektivität unvermeidlich an diese Einrichtung knüpfen wird (denn die mehrfach
Vorbestraften und deshalb der Strafaussetzung Unwürdigen werden überwiegend
den unteren Volksschichten angehören), nicht zu gering veranschlagen!

Ganz anders liegt es natürlich bei den Jugendlichen. Hier dürfen die
bekannten Gesichtspunkte der nachteiligen Einwirkung der Strafvollstreckuug, des
schlechten Einflusses der Mitgefangenen, des Makels der Strafhaft für das
ganze Leben volle Geltung beanspruchen. Hier haben wir auch anderseits die
Möglichkeit, ein Korrelat der Strafhaft in Fürsorge- und anderweitiger Erziehung
zu schaffen.

Dieselben Bedenken, welche gegen die bedingte Strafaussetzung bei Erwachsenen
vorliegen, sind in noch anderer Weise gegen die Neuerungen des § 83 V.E.
zu erheben. Nachdem Z 82 bereits die mildernden Umstände geregelt hat.
bestimmt Z 83:


"In besonders leichten Fällen darf das Gericht die Strafe nach
freiem Ermessen mildern und, wo dies ausdrücklich zugelassen ist, von
einer Strafe überhaupt absehen."

Ausdrücklich zugelassen ist aber diese Schaffung einer Straffreiheit bei allen
Versuchshandlungen, bei Abgabe einer falschen uneidlichen Aussage, bei ein¬
facher Körperverletzung, Beleidigung, Nahrungs- und Genußmitteldiebstahl, Fisch-
wilderei und bei allen Übertretungen.

Der Gesichtspunkt, aus welchem der Vorentwurf die Grenzen zwischen
richterlicher Strafgewalt und königlicher Gnade verwischt, ist gewiß ein anerkennens¬
werter. Trotz aller Sorgfalt bei der Formulierung der Tatbestände der einzelnen
Delikte läßt es sich nämlich nicht ausschließen, daß in außergewöhnlich gearteten
Fällen zwar die Begriffsbestimmung, nicht aber der Gedanke und Zweck des
Gesetzes zutrifft, so daß die im Gesetz vorgesehene Strafandrohung an sich oder
nach Art und Maß als eine Härte empfunden wird. Solche Fälle ergeben
Verurteilungen, die als unbillig angesehen werden und die öffentliche Meinung
gegen die Rechtspflege verstimmen. Es muß auch zugegeben werden, daß sich
solche Fälle durch keine Mühe bei Fassung der gesetzlichen Begriffsbestimmungen
vermeiden lassen. Dies reicht aber meines Erachtens zur Schaffung einer so
weitgehenden diskretiouären richterlichen Gewalt, wie sie Z 83 V.E. vorsieht,
nicht aus. Der Mißbrauch, der aller Voraussicht nach mit dieser Bestimmung
getrieben werden wird, wird ihren Nutzen bei weitem überwiegen. Der Vor¬
entwurf glaubt hier den Mißbrauch dadurch ausschließen zu können, daß er den
Begriff des besonders leichten Falles definiert. Er erklärt einen solchen nur
für vorliegend, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind und


Kritische Beiträge

Genugtuung haben will, welcher auf seine Privatrache nur verzichtet, weil er zu
dem staatlichen Ahndungsrechte Vertrauen hat, und welcher nichts von Genugtuung
und Ahndung sieht, wenn die Strafe ausgesetzt wird und der Verurteilte vergnügt
nach Hause wandert, um sie voraussichtlich niemals anzutreten. Man möge den
Vormurf der Klassenjustiz, der sich auch bei größtem Streben der Richter nach
Objektivität unvermeidlich an diese Einrichtung knüpfen wird (denn die mehrfach
Vorbestraften und deshalb der Strafaussetzung Unwürdigen werden überwiegend
den unteren Volksschichten angehören), nicht zu gering veranschlagen!

Ganz anders liegt es natürlich bei den Jugendlichen. Hier dürfen die
bekannten Gesichtspunkte der nachteiligen Einwirkung der Strafvollstreckuug, des
schlechten Einflusses der Mitgefangenen, des Makels der Strafhaft für das
ganze Leben volle Geltung beanspruchen. Hier haben wir auch anderseits die
Möglichkeit, ein Korrelat der Strafhaft in Fürsorge- und anderweitiger Erziehung
zu schaffen.

Dieselben Bedenken, welche gegen die bedingte Strafaussetzung bei Erwachsenen
vorliegen, sind in noch anderer Weise gegen die Neuerungen des § 83 V.E.
zu erheben. Nachdem Z 82 bereits die mildernden Umstände geregelt hat.
bestimmt Z 83:


„In besonders leichten Fällen darf das Gericht die Strafe nach
freiem Ermessen mildern und, wo dies ausdrücklich zugelassen ist, von
einer Strafe überhaupt absehen."

Ausdrücklich zugelassen ist aber diese Schaffung einer Straffreiheit bei allen
Versuchshandlungen, bei Abgabe einer falschen uneidlichen Aussage, bei ein¬
facher Körperverletzung, Beleidigung, Nahrungs- und Genußmitteldiebstahl, Fisch-
wilderei und bei allen Übertretungen.

Der Gesichtspunkt, aus welchem der Vorentwurf die Grenzen zwischen
richterlicher Strafgewalt und königlicher Gnade verwischt, ist gewiß ein anerkennens¬
werter. Trotz aller Sorgfalt bei der Formulierung der Tatbestände der einzelnen
Delikte läßt es sich nämlich nicht ausschließen, daß in außergewöhnlich gearteten
Fällen zwar die Begriffsbestimmung, nicht aber der Gedanke und Zweck des
Gesetzes zutrifft, so daß die im Gesetz vorgesehene Strafandrohung an sich oder
nach Art und Maß als eine Härte empfunden wird. Solche Fälle ergeben
Verurteilungen, die als unbillig angesehen werden und die öffentliche Meinung
gegen die Rechtspflege verstimmen. Es muß auch zugegeben werden, daß sich
solche Fälle durch keine Mühe bei Fassung der gesetzlichen Begriffsbestimmungen
vermeiden lassen. Dies reicht aber meines Erachtens zur Schaffung einer so
weitgehenden diskretiouären richterlichen Gewalt, wie sie Z 83 V.E. vorsieht,
nicht aus. Der Mißbrauch, der aller Voraussicht nach mit dieser Bestimmung
getrieben werden wird, wird ihren Nutzen bei weitem überwiegen. Der Vor¬
entwurf glaubt hier den Mißbrauch dadurch ausschließen zu können, daß er den
Begriff des besonders leichten Falles definiert. Er erklärt einen solchen nur
für vorliegend, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/33>, abgerufen am 03.07.2024.