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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Beiträge

man, wie oft dieses vor der Tat eine Kalkulation über die zu erwartende
Strafe anstellt und nach dem Ausfall dieser Schätzung (es kostet ja nnr 30 Mark
oder nur acht Tage) sich zur Tat entschließt oder sie unterläßt. Demgegenüber
scheint die absolut angedrohte Strafe denn doch unentbehrlich.

Weiter noch ein anderes. Man kann es jeden Tag vor den Straf-
abteilnngen unserer Gerichte beobachten, wie der durch die Tat Verletzte sich
ganz als Partei im Sinne eines Zivilprozesses und nicht als Zeuge fühlt und
wie er den Ausgang dieses Prozesses je nach Verurteilung oder Freisprechung
des Angeklagten als persönliche Genugtuung oder als Kränkung empfindet. Die
Vorstellung von den öffentlich rechtlichen Gesichtspunkten, unter denen die Strafe
verhängt wird, hat im Volke noch wenig Fuß gefaßt. Und nun vergegen¬
wärtige man sich, daß das Gericht feststellt, der Angeklagte habe sich einer
Beleidigung oder einer Körperverletzung oder einer Verringerung des Grund¬
stücks durch Abpflügen des Grenzrains schuldig gemacht, der Fall liege aber so
leicht, daß der Angeklagte sür straffrei erklärt werden könne, so wird der Ver¬
letzte das nie begreifen und an der Gerechtigkeit unserer Rechtspflege irre
werden. Gewiß sind z. B. die kleinlichen Schimpfereien, wie sie zwischen Weibern
der niederen Stände gang und gäbe sind, Bagatellsachen, bei denen man als
Richter das Empfinden hat, daß mit ihrer Verhandlung fast das Amt herab¬
gewürdigt wird. Allein die Verletzten lassen sich doch von der Privatgenugtuung
nur abhalten, wenn ihnen der Staat, und sei es auch nur mit einer Geldstrafe
von 3 Mark, Genugtuung verschafft. Sollte künftig eine Reihe Verletzter vom
Gericht heruntergehen müssen mit dem Empfinden, die mir mit dein Worte
"Lump" oder "Hure" zugefügte Beleidigung ist für so geringfügig erachtet
worden, daß der Beleidiger für straffrei erklärt worden ist, dann werden sich
die Privatgenugtuungen in Form von Körperverletzungen erschreckend mehren.
Welches Wasser würde vollends mit dieser Praxis auf die Mühle der Duell¬
freunde geleitet. Mit wie viel mehr Anschein von Recht würden sie sagen, wir
müssen uns unsere Genugtuung für Beleidigungen mit Säbel und Pistole holen,
da wir andernfalls gewärtigen, daß der Beleidiger straffrei ausgeht.

Als der Staat die Privatrache abschaffte und die Vergeltung in seine Hand
nahm, übernahm er als Korrelat dazu die Pflicht, dort zu strafen, wo er eine
strafbare Handlung festgestellt hat. Ergebt dabei einmal ausnahmsweise eine
Verurteilung, welche nur dem Buchstaben eines Strafgesetzes entspricht, seinem
Geiste aber widerspricht, so mag die Einrichtung der Begnadigung den erforder¬
lichen Ausgleich Herstellen. Sollte übrigens die neue Strafprozeßordnung an
Stelle des jetzigen Anklagezwanges das Opportunitätsprinzip übernehmen, nach
welchem die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen von der Anklage absehen
darf, so ist vollends für die Straffreiheitserklärung des § 83 kein Bedürfnis
vorhanden.




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man, wie oft dieses vor der Tat eine Kalkulation über die zu erwartende
Strafe anstellt und nach dem Ausfall dieser Schätzung (es kostet ja nnr 30 Mark
oder nur acht Tage) sich zur Tat entschließt oder sie unterläßt. Demgegenüber
scheint die absolut angedrohte Strafe denn doch unentbehrlich.

Weiter noch ein anderes. Man kann es jeden Tag vor den Straf-
abteilnngen unserer Gerichte beobachten, wie der durch die Tat Verletzte sich
ganz als Partei im Sinne eines Zivilprozesses und nicht als Zeuge fühlt und
wie er den Ausgang dieses Prozesses je nach Verurteilung oder Freisprechung
des Angeklagten als persönliche Genugtuung oder als Kränkung empfindet. Die
Vorstellung von den öffentlich rechtlichen Gesichtspunkten, unter denen die Strafe
verhängt wird, hat im Volke noch wenig Fuß gefaßt. Und nun vergegen¬
wärtige man sich, daß das Gericht feststellt, der Angeklagte habe sich einer
Beleidigung oder einer Körperverletzung oder einer Verringerung des Grund¬
stücks durch Abpflügen des Grenzrains schuldig gemacht, der Fall liege aber so
leicht, daß der Angeklagte sür straffrei erklärt werden könne, so wird der Ver¬
letzte das nie begreifen und an der Gerechtigkeit unserer Rechtspflege irre
werden. Gewiß sind z. B. die kleinlichen Schimpfereien, wie sie zwischen Weibern
der niederen Stände gang und gäbe sind, Bagatellsachen, bei denen man als
Richter das Empfinden hat, daß mit ihrer Verhandlung fast das Amt herab¬
gewürdigt wird. Allein die Verletzten lassen sich doch von der Privatgenugtuung
nur abhalten, wenn ihnen der Staat, und sei es auch nur mit einer Geldstrafe
von 3 Mark, Genugtuung verschafft. Sollte künftig eine Reihe Verletzter vom
Gericht heruntergehen müssen mit dem Empfinden, die mir mit dein Worte
„Lump" oder „Hure" zugefügte Beleidigung ist für so geringfügig erachtet
worden, daß der Beleidiger für straffrei erklärt worden ist, dann werden sich
die Privatgenugtuungen in Form von Körperverletzungen erschreckend mehren.
Welches Wasser würde vollends mit dieser Praxis auf die Mühle der Duell¬
freunde geleitet. Mit wie viel mehr Anschein von Recht würden sie sagen, wir
müssen uns unsere Genugtuung für Beleidigungen mit Säbel und Pistole holen,
da wir andernfalls gewärtigen, daß der Beleidiger straffrei ausgeht.

Als der Staat die Privatrache abschaffte und die Vergeltung in seine Hand
nahm, übernahm er als Korrelat dazu die Pflicht, dort zu strafen, wo er eine
strafbare Handlung festgestellt hat. Ergebt dabei einmal ausnahmsweise eine
Verurteilung, welche nur dem Buchstaben eines Strafgesetzes entspricht, seinem
Geiste aber widerspricht, so mag die Einrichtung der Begnadigung den erforder¬
lichen Ausgleich Herstellen. Sollte übrigens die neue Strafprozeßordnung an
Stelle des jetzigen Anklagezwanges das Opportunitätsprinzip übernehmen, nach
welchem die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen von der Anklage absehen
darf, so ist vollends für die Straffreiheitserklärung des § 83 kein Bedürfnis
vorhanden.




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[0035] Kritische Beiträge man, wie oft dieses vor der Tat eine Kalkulation über die zu erwartende Strafe anstellt und nach dem Ausfall dieser Schätzung (es kostet ja nnr 30 Mark oder nur acht Tage) sich zur Tat entschließt oder sie unterläßt. Demgegenüber scheint die absolut angedrohte Strafe denn doch unentbehrlich. Weiter noch ein anderes. Man kann es jeden Tag vor den Straf- abteilnngen unserer Gerichte beobachten, wie der durch die Tat Verletzte sich ganz als Partei im Sinne eines Zivilprozesses und nicht als Zeuge fühlt und wie er den Ausgang dieses Prozesses je nach Verurteilung oder Freisprechung des Angeklagten als persönliche Genugtuung oder als Kränkung empfindet. Die Vorstellung von den öffentlich rechtlichen Gesichtspunkten, unter denen die Strafe verhängt wird, hat im Volke noch wenig Fuß gefaßt. Und nun vergegen¬ wärtige man sich, daß das Gericht feststellt, der Angeklagte habe sich einer Beleidigung oder einer Körperverletzung oder einer Verringerung des Grund¬ stücks durch Abpflügen des Grenzrains schuldig gemacht, der Fall liege aber so leicht, daß der Angeklagte sür straffrei erklärt werden könne, so wird der Ver¬ letzte das nie begreifen und an der Gerechtigkeit unserer Rechtspflege irre werden. Gewiß sind z. B. die kleinlichen Schimpfereien, wie sie zwischen Weibern der niederen Stände gang und gäbe sind, Bagatellsachen, bei denen man als Richter das Empfinden hat, daß mit ihrer Verhandlung fast das Amt herab¬ gewürdigt wird. Allein die Verletzten lassen sich doch von der Privatgenugtuung nur abhalten, wenn ihnen der Staat, und sei es auch nur mit einer Geldstrafe von 3 Mark, Genugtuung verschafft. Sollte künftig eine Reihe Verletzter vom Gericht heruntergehen müssen mit dem Empfinden, die mir mit dein Worte „Lump" oder „Hure" zugefügte Beleidigung ist für so geringfügig erachtet worden, daß der Beleidiger für straffrei erklärt worden ist, dann werden sich die Privatgenugtuungen in Form von Körperverletzungen erschreckend mehren. Welches Wasser würde vollends mit dieser Praxis auf die Mühle der Duell¬ freunde geleitet. Mit wie viel mehr Anschein von Recht würden sie sagen, wir müssen uns unsere Genugtuung für Beleidigungen mit Säbel und Pistole holen, da wir andernfalls gewärtigen, daß der Beleidiger straffrei ausgeht. Als der Staat die Privatrache abschaffte und die Vergeltung in seine Hand nahm, übernahm er als Korrelat dazu die Pflicht, dort zu strafen, wo er eine strafbare Handlung festgestellt hat. Ergebt dabei einmal ausnahmsweise eine Verurteilung, welche nur dem Buchstaben eines Strafgesetzes entspricht, seinem Geiste aber widerspricht, so mag die Einrichtung der Begnadigung den erforder¬ lichen Ausgleich Herstellen. Sollte übrigens die neue Strafprozeßordnung an Stelle des jetzigen Anklagezwanges das Opportunitätsprinzip übernehmen, nach welchem die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen von der Anklage absehen darf, so ist vollends für die Straffreiheitserklärung des § 83 kein Bedürfnis vorhanden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/35>, abgerufen am 08.01.2025.