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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Das neue vcrsichcrilngsrccht

Vertragsgesetz am 1. Januar d. Is. in Kraft getreten sind, so daß es sich in der
Tat um eine durchgreifende Reform des gesamten Rechtszustandes handelt. Es
gibt also zurzeit kaum ein aktuelleres Thema, mit dein sich ein Verein zur
Verbreitung von Rechtskeuntnissen beschäftigen könnte.

An sich gilt dieses neue Recht nur für die seit dem 1. Januar 1910 neu
abgeschlossenen Versicherungsverträge; auch das Gesetz verleiht nur wenigen
seiner Vorschriften rückwirkende Kraft für die bestehenden Versicherungsverträge.
Es sind aber Bestrebungen im Gange, die neuen Bedingungen auch den alten
Versicherten zugute kommen zu lassen. Da es sich insoweit um die Abänderung
eines bestehenden Vertrages handelt, gehört hierzu die ausdrückliche Einwilligung
jedes einzelnen Versicherten. Wenn also jetzt die Versicherungsgesellschaften ihren
Versicherten die neuen Versicherungsbedingungen zur Unterschrift zusenden, so
handelt es sich nicht, wie neulich im Sprechsaal des "Tages" angenommen wurde,
um einen Versuch der Gesellschaften, dabei besondere Vorteile für sich heraus¬
zuschlagen, sondern eben um die vollständige Durchführung der Reform, die im
ganzen genommen den Versicherten erhebliche Vorteile bringt und dementsprechend
die Gesellschaften zum Teil empfindlich belastet.

Das Versicherungsvertragsrecht selbst, wie es sich auf der Grundlage des
Gesetzes und der Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergibt, ist ein außer¬
ordentlich umfangreiches Gebiet, aus dem nur einige allgemeine Gesichtspunkte
und einige besonders hervorstechende Einzelheiten hervorgehoben werden können.

Wer einen Versicherungsanspruch geltend macht, ist leicht geneigt, dafür ein
besonderes Entgegenkommen seiner Gesellschaft zu erwarten und über Schikane
M klagen, wenn auf die vertragsmäßig festgesetzten Beschränkungen des Ent¬
schädigungsanspruchs zurückgegriffen wird. Es scheint auch die Erwägung ver¬
führerisch nahezuliegen, daß die Entschädigungssumme für den einzelnen Fall
im Vergleich zu dem Gesamtumsatz der Versicherungsgesellschaft gar nicht ins
Gewicht fällt. Tatsächlich werden auch in vielen Fällen reine Kulanz¬
entschädigungen gewährt -- man darf aber nicht vergessen, daß die Sache für
die Versicherungsgesellschaft ein ganz anderes Gesicht hat: für diese handelt es
sich nicht um den einzelnen Fall, sondern um Hunderte oder Tausende gleich¬
artiger Fälle, die nicht mit verschiedenem Maße gemessen werden können und
dürfen. Dies führt auf die Grundlage, auf die am letzten Ende jeder Ver¬
sicherungsbetrieb zurückgeht, nämlich auf die sorgfältige Abmessung von Leistung
und Gegenleistung, ohne die auf die Dauer eine Versicherung gar nicht bestehen
kann. Jeder Verhinderer, der sein Geschäft anfängt, muß in seinem Geschäfts¬
plan, der übrigens auch die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erfordert, genau
festlegen, für welche scharf abgegrenzten Versicherungsfälle er Entschädigung
leisten will; auf Grund seiner eigenen Erfahrungen und der seiner Vorgänger
läßt sich dann mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung ermitteln, in welcher
Höhe er von seinen Versicherungsnehmern die Gegenleistung, die Prämie, erheben
muß, um auszukommen. Am vollkommensten ist dieses System bei der Lebens-


Das neue vcrsichcrilngsrccht

Vertragsgesetz am 1. Januar d. Is. in Kraft getreten sind, so daß es sich in der
Tat um eine durchgreifende Reform des gesamten Rechtszustandes handelt. Es
gibt also zurzeit kaum ein aktuelleres Thema, mit dein sich ein Verein zur
Verbreitung von Rechtskeuntnissen beschäftigen könnte.

An sich gilt dieses neue Recht nur für die seit dem 1. Januar 1910 neu
abgeschlossenen Versicherungsverträge; auch das Gesetz verleiht nur wenigen
seiner Vorschriften rückwirkende Kraft für die bestehenden Versicherungsverträge.
Es sind aber Bestrebungen im Gange, die neuen Bedingungen auch den alten
Versicherten zugute kommen zu lassen. Da es sich insoweit um die Abänderung
eines bestehenden Vertrages handelt, gehört hierzu die ausdrückliche Einwilligung
jedes einzelnen Versicherten. Wenn also jetzt die Versicherungsgesellschaften ihren
Versicherten die neuen Versicherungsbedingungen zur Unterschrift zusenden, so
handelt es sich nicht, wie neulich im Sprechsaal des „Tages" angenommen wurde,
um einen Versuch der Gesellschaften, dabei besondere Vorteile für sich heraus¬
zuschlagen, sondern eben um die vollständige Durchführung der Reform, die im
ganzen genommen den Versicherten erhebliche Vorteile bringt und dementsprechend
die Gesellschaften zum Teil empfindlich belastet.

Das Versicherungsvertragsrecht selbst, wie es sich auf der Grundlage des
Gesetzes und der Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergibt, ist ein außer¬
ordentlich umfangreiches Gebiet, aus dem nur einige allgemeine Gesichtspunkte
und einige besonders hervorstechende Einzelheiten hervorgehoben werden können.

Wer einen Versicherungsanspruch geltend macht, ist leicht geneigt, dafür ein
besonderes Entgegenkommen seiner Gesellschaft zu erwarten und über Schikane
M klagen, wenn auf die vertragsmäßig festgesetzten Beschränkungen des Ent¬
schädigungsanspruchs zurückgegriffen wird. Es scheint auch die Erwägung ver¬
führerisch nahezuliegen, daß die Entschädigungssumme für den einzelnen Fall
im Vergleich zu dem Gesamtumsatz der Versicherungsgesellschaft gar nicht ins
Gewicht fällt. Tatsächlich werden auch in vielen Fällen reine Kulanz¬
entschädigungen gewährt — man darf aber nicht vergessen, daß die Sache für
die Versicherungsgesellschaft ein ganz anderes Gesicht hat: für diese handelt es
sich nicht um den einzelnen Fall, sondern um Hunderte oder Tausende gleich¬
artiger Fälle, die nicht mit verschiedenem Maße gemessen werden können und
dürfen. Dies führt auf die Grundlage, auf die am letzten Ende jeder Ver¬
sicherungsbetrieb zurückgeht, nämlich auf die sorgfältige Abmessung von Leistung
und Gegenleistung, ohne die auf die Dauer eine Versicherung gar nicht bestehen
kann. Jeder Verhinderer, der sein Geschäft anfängt, muß in seinem Geschäfts¬
plan, der übrigens auch die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erfordert, genau
festlegen, für welche scharf abgegrenzten Versicherungsfälle er Entschädigung
leisten will; auf Grund seiner eigenen Erfahrungen und der seiner Vorgänger
läßt sich dann mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung ermitteln, in welcher
Höhe er von seinen Versicherungsnehmern die Gegenleistung, die Prämie, erheben
muß, um auszukommen. Am vollkommensten ist dieses System bei der Lebens-


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[0337] Das neue vcrsichcrilngsrccht Vertragsgesetz am 1. Januar d. Is. in Kraft getreten sind, so daß es sich in der Tat um eine durchgreifende Reform des gesamten Rechtszustandes handelt. Es gibt also zurzeit kaum ein aktuelleres Thema, mit dein sich ein Verein zur Verbreitung von Rechtskeuntnissen beschäftigen könnte. An sich gilt dieses neue Recht nur für die seit dem 1. Januar 1910 neu abgeschlossenen Versicherungsverträge; auch das Gesetz verleiht nur wenigen seiner Vorschriften rückwirkende Kraft für die bestehenden Versicherungsverträge. Es sind aber Bestrebungen im Gange, die neuen Bedingungen auch den alten Versicherten zugute kommen zu lassen. Da es sich insoweit um die Abänderung eines bestehenden Vertrages handelt, gehört hierzu die ausdrückliche Einwilligung jedes einzelnen Versicherten. Wenn also jetzt die Versicherungsgesellschaften ihren Versicherten die neuen Versicherungsbedingungen zur Unterschrift zusenden, so handelt es sich nicht, wie neulich im Sprechsaal des „Tages" angenommen wurde, um einen Versuch der Gesellschaften, dabei besondere Vorteile für sich heraus¬ zuschlagen, sondern eben um die vollständige Durchführung der Reform, die im ganzen genommen den Versicherten erhebliche Vorteile bringt und dementsprechend die Gesellschaften zum Teil empfindlich belastet. Das Versicherungsvertragsrecht selbst, wie es sich auf der Grundlage des Gesetzes und der Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergibt, ist ein außer¬ ordentlich umfangreiches Gebiet, aus dem nur einige allgemeine Gesichtspunkte und einige besonders hervorstechende Einzelheiten hervorgehoben werden können. Wer einen Versicherungsanspruch geltend macht, ist leicht geneigt, dafür ein besonderes Entgegenkommen seiner Gesellschaft zu erwarten und über Schikane M klagen, wenn auf die vertragsmäßig festgesetzten Beschränkungen des Ent¬ schädigungsanspruchs zurückgegriffen wird. Es scheint auch die Erwägung ver¬ führerisch nahezuliegen, daß die Entschädigungssumme für den einzelnen Fall im Vergleich zu dem Gesamtumsatz der Versicherungsgesellschaft gar nicht ins Gewicht fällt. Tatsächlich werden auch in vielen Fällen reine Kulanz¬ entschädigungen gewährt — man darf aber nicht vergessen, daß die Sache für die Versicherungsgesellschaft ein ganz anderes Gesicht hat: für diese handelt es sich nicht um den einzelnen Fall, sondern um Hunderte oder Tausende gleich¬ artiger Fälle, die nicht mit verschiedenem Maße gemessen werden können und dürfen. Dies führt auf die Grundlage, auf die am letzten Ende jeder Ver¬ sicherungsbetrieb zurückgeht, nämlich auf die sorgfältige Abmessung von Leistung und Gegenleistung, ohne die auf die Dauer eine Versicherung gar nicht bestehen kann. Jeder Verhinderer, der sein Geschäft anfängt, muß in seinem Geschäfts¬ plan, der übrigens auch die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erfordert, genau festlegen, für welche scharf abgegrenzten Versicherungsfälle er Entschädigung leisten will; auf Grund seiner eigenen Erfahrungen und der seiner Vorgänger läßt sich dann mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung ermitteln, in welcher Höhe er von seinen Versicherungsnehmern die Gegenleistung, die Prämie, erheben muß, um auszukommen. Am vollkommensten ist dieses System bei der Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/337>, abgerufen am 25.08.2024.