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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Lage der Türkei

gewann, man wolle nicht eingreifen. Dieser Eindruck hat sich während der
ganzen zwei Monate dauernden Verhandlungen erhalten. Es scheint fast, als
ob auch die nachträgliche, der Türkei wenigstens der Form nach nicht ungünstige
provisorische Lösung der Frage nicht imstande gewesen ist, die Zweifel an der
Ehrlichkeit der Freundschaft der Schutzmächte zu beseitigen.

Ganz entgegengesetzt war von Anfang an die Haltung der türkischen
Negierung, die schnell entschlossen handelte und kein Mißverständnis über ihre
Auffassung der Frage aufkommen ließ. Nur der Besonnenheit der türkischen
Regierung ist es zu verdanken, daß es nicht zum Kriege kam. Aber den
unblutigen Krieg hat das türkische Volk spontan erklärt, den Boykott gegen alle
griechischen oder auf griechischen Schiffen transportierten Waren, und diesen
Boykott mit einer Zähigkeit und Konsequenz durchgeführt, die wohl einzig in
der Geschichte dasteht. -- Es ist zweifellos, daß den Boykottierten große
ökonomische Schäden zugefügt worden sind und daß manches griechische Unter¬
nehmen dem Zusammenbruch nahe ist.

Von allgemeinem politischen Interesse ist hierbei, daß man sich mit dem
Boykott der Griechen bewußt war, auch ihre Freunde, die Engländer, zu treffen.
In der Tat dürfte neben griechischem besonders das englische Kapital zu
leiden gehabt haben. Besonderes Mitleid haben jedoch die Engländer in weiten
Kreisen kaum gefunden; denn gerade ihnen schiebt man ein gut Teil der Schuld
an der lässigen Behandlung der Kretafrage zu. Ja, in einem Teil der Presse
werden Stimmen laut, die der Regierung offen die Politik der letzten Jahre,
d. i. die der Freundschaft mit England zum Vorwurf machen. Die Kretafrage
scheint also für das Verhältnis der Türkei zu den Staaten nicht ohne Einfluß
zu sein. Sie trägt dazu bei, daß man mehr und mehr nüchterne Beurteilung
an die Stelle schwärmerischer Begeisterung oder unbegründeter Abneigung
treten läßt.

Nimmt man von diesem Gesichtspunkt aus einmal die Beziehungen der
Türkei zu den einzelnen Staaten unter die Lupe, so kann man den Umschwung
der öffentlichen Meinung nur zu gut verstehen. Denn was war die ganze
Freundschaft zu England anders als die Begeisterung für den konstitutionellen
Staat, als dessen Ideal den Jungtürken England galt, dank der ihnen von den
Gebildeten Ägyptens suggerierten Ideen. Die Kälte gegen Deutschland war
dagegen nichts anderes als der Haß gegen den Freund des Hamidischen Systems,
wenn man nicht gar an eine direkte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch
England denken will.

Jedermann weiß, daß England große muselmanische Ländergebiete um¬
klammert hält und nur auf den rechten Augenblick wartet, sie dem britischen
Weltreiche in aller Form einzuverleiben. Der Besitz Ägyptens und des Roten
Meeres gilt den Engländern als Basis für die Erhaltung und Erweiterung ihrer
Herrschaft in Indien und die Okkupation des persischen Reiches. Im Süden
des Os manischen Reiches muß also England schon aus politischen: Eigeninteresse


Die politische Lage der Türkei

gewann, man wolle nicht eingreifen. Dieser Eindruck hat sich während der
ganzen zwei Monate dauernden Verhandlungen erhalten. Es scheint fast, als
ob auch die nachträgliche, der Türkei wenigstens der Form nach nicht ungünstige
provisorische Lösung der Frage nicht imstande gewesen ist, die Zweifel an der
Ehrlichkeit der Freundschaft der Schutzmächte zu beseitigen.

Ganz entgegengesetzt war von Anfang an die Haltung der türkischen
Negierung, die schnell entschlossen handelte und kein Mißverständnis über ihre
Auffassung der Frage aufkommen ließ. Nur der Besonnenheit der türkischen
Regierung ist es zu verdanken, daß es nicht zum Kriege kam. Aber den
unblutigen Krieg hat das türkische Volk spontan erklärt, den Boykott gegen alle
griechischen oder auf griechischen Schiffen transportierten Waren, und diesen
Boykott mit einer Zähigkeit und Konsequenz durchgeführt, die wohl einzig in
der Geschichte dasteht. — Es ist zweifellos, daß den Boykottierten große
ökonomische Schäden zugefügt worden sind und daß manches griechische Unter¬
nehmen dem Zusammenbruch nahe ist.

Von allgemeinem politischen Interesse ist hierbei, daß man sich mit dem
Boykott der Griechen bewußt war, auch ihre Freunde, die Engländer, zu treffen.
In der Tat dürfte neben griechischem besonders das englische Kapital zu
leiden gehabt haben. Besonderes Mitleid haben jedoch die Engländer in weiten
Kreisen kaum gefunden; denn gerade ihnen schiebt man ein gut Teil der Schuld
an der lässigen Behandlung der Kretafrage zu. Ja, in einem Teil der Presse
werden Stimmen laut, die der Regierung offen die Politik der letzten Jahre,
d. i. die der Freundschaft mit England zum Vorwurf machen. Die Kretafrage
scheint also für das Verhältnis der Türkei zu den Staaten nicht ohne Einfluß
zu sein. Sie trägt dazu bei, daß man mehr und mehr nüchterne Beurteilung
an die Stelle schwärmerischer Begeisterung oder unbegründeter Abneigung
treten läßt.

Nimmt man von diesem Gesichtspunkt aus einmal die Beziehungen der
Türkei zu den einzelnen Staaten unter die Lupe, so kann man den Umschwung
der öffentlichen Meinung nur zu gut verstehen. Denn was war die ganze
Freundschaft zu England anders als die Begeisterung für den konstitutionellen
Staat, als dessen Ideal den Jungtürken England galt, dank der ihnen von den
Gebildeten Ägyptens suggerierten Ideen. Die Kälte gegen Deutschland war
dagegen nichts anderes als der Haß gegen den Freund des Hamidischen Systems,
wenn man nicht gar an eine direkte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch
England denken will.

Jedermann weiß, daß England große muselmanische Ländergebiete um¬
klammert hält und nur auf den rechten Augenblick wartet, sie dem britischen
Weltreiche in aller Form einzuverleiben. Der Besitz Ägyptens und des Roten
Meeres gilt den Engländern als Basis für die Erhaltung und Erweiterung ihrer
Herrschaft in Indien und die Okkupation des persischen Reiches. Im Süden
des Os manischen Reiches muß also England schon aus politischen: Eigeninteresse


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[0329] Die politische Lage der Türkei gewann, man wolle nicht eingreifen. Dieser Eindruck hat sich während der ganzen zwei Monate dauernden Verhandlungen erhalten. Es scheint fast, als ob auch die nachträgliche, der Türkei wenigstens der Form nach nicht ungünstige provisorische Lösung der Frage nicht imstande gewesen ist, die Zweifel an der Ehrlichkeit der Freundschaft der Schutzmächte zu beseitigen. Ganz entgegengesetzt war von Anfang an die Haltung der türkischen Negierung, die schnell entschlossen handelte und kein Mißverständnis über ihre Auffassung der Frage aufkommen ließ. Nur der Besonnenheit der türkischen Regierung ist es zu verdanken, daß es nicht zum Kriege kam. Aber den unblutigen Krieg hat das türkische Volk spontan erklärt, den Boykott gegen alle griechischen oder auf griechischen Schiffen transportierten Waren, und diesen Boykott mit einer Zähigkeit und Konsequenz durchgeführt, die wohl einzig in der Geschichte dasteht. — Es ist zweifellos, daß den Boykottierten große ökonomische Schäden zugefügt worden sind und daß manches griechische Unter¬ nehmen dem Zusammenbruch nahe ist. Von allgemeinem politischen Interesse ist hierbei, daß man sich mit dem Boykott der Griechen bewußt war, auch ihre Freunde, die Engländer, zu treffen. In der Tat dürfte neben griechischem besonders das englische Kapital zu leiden gehabt haben. Besonderes Mitleid haben jedoch die Engländer in weiten Kreisen kaum gefunden; denn gerade ihnen schiebt man ein gut Teil der Schuld an der lässigen Behandlung der Kretafrage zu. Ja, in einem Teil der Presse werden Stimmen laut, die der Regierung offen die Politik der letzten Jahre, d. i. die der Freundschaft mit England zum Vorwurf machen. Die Kretafrage scheint also für das Verhältnis der Türkei zu den Staaten nicht ohne Einfluß zu sein. Sie trägt dazu bei, daß man mehr und mehr nüchterne Beurteilung an die Stelle schwärmerischer Begeisterung oder unbegründeter Abneigung treten läßt. Nimmt man von diesem Gesichtspunkt aus einmal die Beziehungen der Türkei zu den einzelnen Staaten unter die Lupe, so kann man den Umschwung der öffentlichen Meinung nur zu gut verstehen. Denn was war die ganze Freundschaft zu England anders als die Begeisterung für den konstitutionellen Staat, als dessen Ideal den Jungtürken England galt, dank der ihnen von den Gebildeten Ägyptens suggerierten Ideen. Die Kälte gegen Deutschland war dagegen nichts anderes als der Haß gegen den Freund des Hamidischen Systems, wenn man nicht gar an eine direkte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch England denken will. Jedermann weiß, daß England große muselmanische Ländergebiete um¬ klammert hält und nur auf den rechten Augenblick wartet, sie dem britischen Weltreiche in aller Form einzuverleiben. Der Besitz Ägyptens und des Roten Meeres gilt den Engländern als Basis für die Erhaltung und Erweiterung ihrer Herrschaft in Indien und die Okkupation des persischen Reiches. Im Süden des Os manischen Reiches muß also England schon aus politischen: Eigeninteresse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/329>, abgerufen am 03.07.2024.