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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Lage der Türkei

der Anhänger Mohammeds, die sonst den Bestrebungen des liberalen Kon¬
stitutionalismus eine schwer berechenbare Gefahr bedeuten, forderten energisches
Vorgehen gegen die Beleidigungen der Kreter. Freilich wurde die Frage von
den beiden Gruppen nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt. Die
Regierung und der europäisch gesinnte Teil der Osmanen sahen in den Heraus¬
forderungen der Kreter eine Verletzung der Hoheitsrechte des türkischen Staates,
die man aus Gründen nationalen Ehrgefühls und der Zurückweisung politischen
Unrechts nicht hinnehmen zu können glaubte. Die Mohammedaner erblickten
in dem Vorgehen der Kreter vor allen Dingen eine Zurücksetzung ihrer Glaubens¬
genossen durch die gehaßten Christen.

Aber nicht nur die Türkei selbst bot ein anderes Bild, wie zur Zeit des
österreichisch-bulgarischen Konfliktes. Der ganze politische Horizont war ver¬
ändert. Die Politiker des Osmanischen Reiches hatten zwei Jahre Zeit gehabt,
die Haltung der europäischen Mächte gegenüber dem werdenden Staatswesen
zu beobachten, und fingen langsam an, Freundschaft und Abneigung nicht wie
in den Anfängen der konstitutionellen Ära nach sentimentalen Stimmungen
abzuwägen, sondern auf Grund nüchterner Beurteilung der Interessen der
einzelnen Staaten gegenüber der Türkei. Der Groll gegen Österreich-Ungarn
hatte mehr und mehr dem Empfinden Platz gemacht, daß man in diesen: Lande
einen selbst interessierten und deshalb sicheren Bundesgenossen gegen die von
Rußland seit Jahrzehnten unterstützten panslawistischen Umtriebe besäße. Deutsch¬
land, das wegen seiner Freundschaft zu Abdul Hamid von den Jungtürken mit
großer Kälte behandelt wurde, hatte langsam wieder Terrain gewonnen und
Dank seiner mutigen Einmischung in die persischen Angelegenheiten sogar viele
ausgesprochene Freunde bekommen. Auf der andren Seite war die Sympathie
zu den Schutzmächten der rebellischen Insel, insbesondere zu England, Rußland
und dem mit Griechenland liebäugelnden Italien, erheblich erkaltet. Wer
noch Vertrauen in die Freundschaft der Schutzmächte setzte, den mußte ihre
anfängliche Haltung stutzig machen.

Die offiziellen Beschützer der Hoheitsrechte des Sultans ließen es geschehen,
daß die Kreter offen die Annexion der Insel an Griechenland aussprachen, daß
die Abgeordneten dem Könige von Griechenland den Treueid schwuren, daß
man Münzen mit seinem Bilde prägte und Recht in seinem Namen sprach.
War es ein ernst gemeinter Schutz der Interessen der Türkei, wenn man das
alles nicht bemerkte und sich erst von der türkischen Regierung darauf hinweisen
lassen mußte? Wozu hätte man später so lange Zeit Ma Überlegen nötig
gehabt, wenn man entschlossen gewesen wäre, die Kreter in die Bahnen der
ihnen zustehenden Rechte zurückzuweisen? Es würde nur der Ausschiffung von
einigen hundert Soldaten bedurft haben, um den Kretern die Möglichkeit zu
nehmen, die Rechte der muselmanischen Jnselbewohner und des türkischen Staates
mit Füßen zu treten. Aber man zögerte -- aus welchen Gründen, ist hier
gleichgültig -- und trug so dazu bei, daß das türkische Volk den Glauben.


Die politische Lage der Türkei

der Anhänger Mohammeds, die sonst den Bestrebungen des liberalen Kon¬
stitutionalismus eine schwer berechenbare Gefahr bedeuten, forderten energisches
Vorgehen gegen die Beleidigungen der Kreter. Freilich wurde die Frage von
den beiden Gruppen nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt. Die
Regierung und der europäisch gesinnte Teil der Osmanen sahen in den Heraus¬
forderungen der Kreter eine Verletzung der Hoheitsrechte des türkischen Staates,
die man aus Gründen nationalen Ehrgefühls und der Zurückweisung politischen
Unrechts nicht hinnehmen zu können glaubte. Die Mohammedaner erblickten
in dem Vorgehen der Kreter vor allen Dingen eine Zurücksetzung ihrer Glaubens¬
genossen durch die gehaßten Christen.

Aber nicht nur die Türkei selbst bot ein anderes Bild, wie zur Zeit des
österreichisch-bulgarischen Konfliktes. Der ganze politische Horizont war ver¬
ändert. Die Politiker des Osmanischen Reiches hatten zwei Jahre Zeit gehabt,
die Haltung der europäischen Mächte gegenüber dem werdenden Staatswesen
zu beobachten, und fingen langsam an, Freundschaft und Abneigung nicht wie
in den Anfängen der konstitutionellen Ära nach sentimentalen Stimmungen
abzuwägen, sondern auf Grund nüchterner Beurteilung der Interessen der
einzelnen Staaten gegenüber der Türkei. Der Groll gegen Österreich-Ungarn
hatte mehr und mehr dem Empfinden Platz gemacht, daß man in diesen: Lande
einen selbst interessierten und deshalb sicheren Bundesgenossen gegen die von
Rußland seit Jahrzehnten unterstützten panslawistischen Umtriebe besäße. Deutsch¬
land, das wegen seiner Freundschaft zu Abdul Hamid von den Jungtürken mit
großer Kälte behandelt wurde, hatte langsam wieder Terrain gewonnen und
Dank seiner mutigen Einmischung in die persischen Angelegenheiten sogar viele
ausgesprochene Freunde bekommen. Auf der andren Seite war die Sympathie
zu den Schutzmächten der rebellischen Insel, insbesondere zu England, Rußland
und dem mit Griechenland liebäugelnden Italien, erheblich erkaltet. Wer
noch Vertrauen in die Freundschaft der Schutzmächte setzte, den mußte ihre
anfängliche Haltung stutzig machen.

Die offiziellen Beschützer der Hoheitsrechte des Sultans ließen es geschehen,
daß die Kreter offen die Annexion der Insel an Griechenland aussprachen, daß
die Abgeordneten dem Könige von Griechenland den Treueid schwuren, daß
man Münzen mit seinem Bilde prägte und Recht in seinem Namen sprach.
War es ein ernst gemeinter Schutz der Interessen der Türkei, wenn man das
alles nicht bemerkte und sich erst von der türkischen Regierung darauf hinweisen
lassen mußte? Wozu hätte man später so lange Zeit Ma Überlegen nötig
gehabt, wenn man entschlossen gewesen wäre, die Kreter in die Bahnen der
ihnen zustehenden Rechte zurückzuweisen? Es würde nur der Ausschiffung von
einigen hundert Soldaten bedurft haben, um den Kretern die Möglichkeit zu
nehmen, die Rechte der muselmanischen Jnselbewohner und des türkischen Staates
mit Füßen zu treten. Aber man zögerte — aus welchen Gründen, ist hier
gleichgültig — und trug so dazu bei, daß das türkische Volk den Glauben.


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[0328] Die politische Lage der Türkei der Anhänger Mohammeds, die sonst den Bestrebungen des liberalen Kon¬ stitutionalismus eine schwer berechenbare Gefahr bedeuten, forderten energisches Vorgehen gegen die Beleidigungen der Kreter. Freilich wurde die Frage von den beiden Gruppen nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt. Die Regierung und der europäisch gesinnte Teil der Osmanen sahen in den Heraus¬ forderungen der Kreter eine Verletzung der Hoheitsrechte des türkischen Staates, die man aus Gründen nationalen Ehrgefühls und der Zurückweisung politischen Unrechts nicht hinnehmen zu können glaubte. Die Mohammedaner erblickten in dem Vorgehen der Kreter vor allen Dingen eine Zurücksetzung ihrer Glaubens¬ genossen durch die gehaßten Christen. Aber nicht nur die Türkei selbst bot ein anderes Bild, wie zur Zeit des österreichisch-bulgarischen Konfliktes. Der ganze politische Horizont war ver¬ ändert. Die Politiker des Osmanischen Reiches hatten zwei Jahre Zeit gehabt, die Haltung der europäischen Mächte gegenüber dem werdenden Staatswesen zu beobachten, und fingen langsam an, Freundschaft und Abneigung nicht wie in den Anfängen der konstitutionellen Ära nach sentimentalen Stimmungen abzuwägen, sondern auf Grund nüchterner Beurteilung der Interessen der einzelnen Staaten gegenüber der Türkei. Der Groll gegen Österreich-Ungarn hatte mehr und mehr dem Empfinden Platz gemacht, daß man in diesen: Lande einen selbst interessierten und deshalb sicheren Bundesgenossen gegen die von Rußland seit Jahrzehnten unterstützten panslawistischen Umtriebe besäße. Deutsch¬ land, das wegen seiner Freundschaft zu Abdul Hamid von den Jungtürken mit großer Kälte behandelt wurde, hatte langsam wieder Terrain gewonnen und Dank seiner mutigen Einmischung in die persischen Angelegenheiten sogar viele ausgesprochene Freunde bekommen. Auf der andren Seite war die Sympathie zu den Schutzmächten der rebellischen Insel, insbesondere zu England, Rußland und dem mit Griechenland liebäugelnden Italien, erheblich erkaltet. Wer noch Vertrauen in die Freundschaft der Schutzmächte setzte, den mußte ihre anfängliche Haltung stutzig machen. Die offiziellen Beschützer der Hoheitsrechte des Sultans ließen es geschehen, daß die Kreter offen die Annexion der Insel an Griechenland aussprachen, daß die Abgeordneten dem Könige von Griechenland den Treueid schwuren, daß man Münzen mit seinem Bilde prägte und Recht in seinem Namen sprach. War es ein ernst gemeinter Schutz der Interessen der Türkei, wenn man das alles nicht bemerkte und sich erst von der türkischen Regierung darauf hinweisen lassen mußte? Wozu hätte man später so lange Zeit Ma Überlegen nötig gehabt, wenn man entschlossen gewesen wäre, die Kreter in die Bahnen der ihnen zustehenden Rechte zurückzuweisen? Es würde nur der Ausschiffung von einigen hundert Soldaten bedurft haben, um den Kretern die Möglichkeit zu nehmen, die Rechte der muselmanischen Jnselbewohner und des türkischen Staates mit Füßen zu treten. Aber man zögerte — aus welchen Gründen, ist hier gleichgültig — und trug so dazu bei, daß das türkische Volk den Glauben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/328>, abgerufen am 03.07.2024.