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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Lage der Türkei

fast die ganze türkische und ausländische Presse ist sich am zweiten Jahrestage
der Einführung der Verfassung einig, den Segen der konstitutionellen Regierung
anzuerkennen. -- Freilich besteht die Gefahr, daß man die für die Verwirklichung
der neuen hohen Ziele notwendigen realen Mittel nicht richtig wertet. In
diesem Puukt kann die Entwicklung der Dinge in: Orient zu ernstlichen Bedenken
Anlaß bieten, denn die finanzielle Grundlage des Landes ist einstweilen keines¬
wegs glänzend und der kaufmännische Sinn des gegenwärtigen Parlaments
durch nichts bewiesen. Die Türkei kann die geplanten Reorganisationen nicht
durchführen, ohne andauernd neue Schulden zu kontrahieren. Sie zwingt dadurch
die europäischen Gläubigerstaaten zur Aufrechterhaltung der internationalen
Finanzkontrolle und weitgehender Einmischung in die politischen und wirtschaft¬
lichen Angelegenheiten des Landes.

Aus diese Weise gestaltet sich die politische Stellung der Türkei zum Aus¬
lande als eine wenig beneidenswerte und man muß sie sogar als eine recht
prekäre bezeichnen, wenn man die Unsicherheit der Landesgrenzen in Rechnung
zieht. In: Norden ist es die alte Frage der politischen Einteilung der Balkan-
Halbinsel, die Politiker und Volk in Spannung hält. Im Westen ist es
Griechenland, das mit seinen fortgesetzten politischen Intrigen und seiner zähen
nationalistischen Agitation den Frieden bedroht. In Ägypten und am Roten
Meere ist mit dem souveränen Auftreten Englands keineswegs eine endgültige
Situation geschaffen. Im Innern Arabiens endlich und gegen das persische
Reich hin sind die Einflüsse der Konstcmtinopeler Regierung noch immer so
gering, daß man hier kaum eine deutliche Grenze des Osmanischen Reiches zu
ziehen vermag. Es ist keineswegs Freude an den Waffen oder Liebe zum
Kampf, wenn angesichts einer solchen Lage Regierung und Volk schwärmerische
Begeisterung und große Opferwilligkeit für das Heer hegen. Die nüchterne
Beurteilung der politischen Lage des Landes ist es vielmehr, die dazu treibt.
Daß das türkische Volk seit den Tagen der Konstitution mehr deun je gewillt
ist, sein Hoheitsgebiet zu verteidigen und alle Angriffe darauf zurückzuweisen,
ist ein Beweis des erwachten nationalen Selbstbewußtseins. Die Besitzergreifung
Bosniens und der Herzegowina ertrug man, weil ein Krieg gegen den mächtigen
Usurpator in dein Augenblick der inneren Umwälzung unmöglich schien. Polnischer
Gleichgültigkeit konnte wahrlich das türkische Volk nicht beschuldigt werden, wie
der Bovkott der österreichischen Waren in allen Häfen des Osmanischen Reiches
deutlich gezeigt hat. Ähnlich war der Hergang der Dinge bei der Souveränitäts-
erklürung Bulgariens. Auch hierbei schickte man sich nur mit Widerstreben in
das Unvermeidliche.

Ganz anders sahen die Dinge schon bei dem Konflikt um Kreta aus, an
die Niederwerfung des Albanestschen Aufstandes gar nicht zu denken. Das neue
Regime hatte Zeit gehabt, innerlich zu erstarken; es brauchte nicht zu fürchten,
im Falle einer Verwicklung in einen Krieg das Vertrauen der Bevölkerung zu
verlieren. Nicht nur die liberalen Kreise Konstantinopels, auch die große Masse


Die politische Lage der Türkei

fast die ganze türkische und ausländische Presse ist sich am zweiten Jahrestage
der Einführung der Verfassung einig, den Segen der konstitutionellen Regierung
anzuerkennen. — Freilich besteht die Gefahr, daß man die für die Verwirklichung
der neuen hohen Ziele notwendigen realen Mittel nicht richtig wertet. In
diesem Puukt kann die Entwicklung der Dinge in: Orient zu ernstlichen Bedenken
Anlaß bieten, denn die finanzielle Grundlage des Landes ist einstweilen keines¬
wegs glänzend und der kaufmännische Sinn des gegenwärtigen Parlaments
durch nichts bewiesen. Die Türkei kann die geplanten Reorganisationen nicht
durchführen, ohne andauernd neue Schulden zu kontrahieren. Sie zwingt dadurch
die europäischen Gläubigerstaaten zur Aufrechterhaltung der internationalen
Finanzkontrolle und weitgehender Einmischung in die politischen und wirtschaft¬
lichen Angelegenheiten des Landes.

Aus diese Weise gestaltet sich die politische Stellung der Türkei zum Aus¬
lande als eine wenig beneidenswerte und man muß sie sogar als eine recht
prekäre bezeichnen, wenn man die Unsicherheit der Landesgrenzen in Rechnung
zieht. In: Norden ist es die alte Frage der politischen Einteilung der Balkan-
Halbinsel, die Politiker und Volk in Spannung hält. Im Westen ist es
Griechenland, das mit seinen fortgesetzten politischen Intrigen und seiner zähen
nationalistischen Agitation den Frieden bedroht. In Ägypten und am Roten
Meere ist mit dem souveränen Auftreten Englands keineswegs eine endgültige
Situation geschaffen. Im Innern Arabiens endlich und gegen das persische
Reich hin sind die Einflüsse der Konstcmtinopeler Regierung noch immer so
gering, daß man hier kaum eine deutliche Grenze des Osmanischen Reiches zu
ziehen vermag. Es ist keineswegs Freude an den Waffen oder Liebe zum
Kampf, wenn angesichts einer solchen Lage Regierung und Volk schwärmerische
Begeisterung und große Opferwilligkeit für das Heer hegen. Die nüchterne
Beurteilung der politischen Lage des Landes ist es vielmehr, die dazu treibt.
Daß das türkische Volk seit den Tagen der Konstitution mehr deun je gewillt
ist, sein Hoheitsgebiet zu verteidigen und alle Angriffe darauf zurückzuweisen,
ist ein Beweis des erwachten nationalen Selbstbewußtseins. Die Besitzergreifung
Bosniens und der Herzegowina ertrug man, weil ein Krieg gegen den mächtigen
Usurpator in dein Augenblick der inneren Umwälzung unmöglich schien. Polnischer
Gleichgültigkeit konnte wahrlich das türkische Volk nicht beschuldigt werden, wie
der Bovkott der österreichischen Waren in allen Häfen des Osmanischen Reiches
deutlich gezeigt hat. Ähnlich war der Hergang der Dinge bei der Souveränitäts-
erklürung Bulgariens. Auch hierbei schickte man sich nur mit Widerstreben in
das Unvermeidliche.

Ganz anders sahen die Dinge schon bei dem Konflikt um Kreta aus, an
die Niederwerfung des Albanestschen Aufstandes gar nicht zu denken. Das neue
Regime hatte Zeit gehabt, innerlich zu erstarken; es brauchte nicht zu fürchten,
im Falle einer Verwicklung in einen Krieg das Vertrauen der Bevölkerung zu
verlieren. Nicht nur die liberalen Kreise Konstantinopels, auch die große Masse


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[0327] Die politische Lage der Türkei fast die ganze türkische und ausländische Presse ist sich am zweiten Jahrestage der Einführung der Verfassung einig, den Segen der konstitutionellen Regierung anzuerkennen. — Freilich besteht die Gefahr, daß man die für die Verwirklichung der neuen hohen Ziele notwendigen realen Mittel nicht richtig wertet. In diesem Puukt kann die Entwicklung der Dinge in: Orient zu ernstlichen Bedenken Anlaß bieten, denn die finanzielle Grundlage des Landes ist einstweilen keines¬ wegs glänzend und der kaufmännische Sinn des gegenwärtigen Parlaments durch nichts bewiesen. Die Türkei kann die geplanten Reorganisationen nicht durchführen, ohne andauernd neue Schulden zu kontrahieren. Sie zwingt dadurch die europäischen Gläubigerstaaten zur Aufrechterhaltung der internationalen Finanzkontrolle und weitgehender Einmischung in die politischen und wirtschaft¬ lichen Angelegenheiten des Landes. Aus diese Weise gestaltet sich die politische Stellung der Türkei zum Aus¬ lande als eine wenig beneidenswerte und man muß sie sogar als eine recht prekäre bezeichnen, wenn man die Unsicherheit der Landesgrenzen in Rechnung zieht. In: Norden ist es die alte Frage der politischen Einteilung der Balkan- Halbinsel, die Politiker und Volk in Spannung hält. Im Westen ist es Griechenland, das mit seinen fortgesetzten politischen Intrigen und seiner zähen nationalistischen Agitation den Frieden bedroht. In Ägypten und am Roten Meere ist mit dem souveränen Auftreten Englands keineswegs eine endgültige Situation geschaffen. Im Innern Arabiens endlich und gegen das persische Reich hin sind die Einflüsse der Konstcmtinopeler Regierung noch immer so gering, daß man hier kaum eine deutliche Grenze des Osmanischen Reiches zu ziehen vermag. Es ist keineswegs Freude an den Waffen oder Liebe zum Kampf, wenn angesichts einer solchen Lage Regierung und Volk schwärmerische Begeisterung und große Opferwilligkeit für das Heer hegen. Die nüchterne Beurteilung der politischen Lage des Landes ist es vielmehr, die dazu treibt. Daß das türkische Volk seit den Tagen der Konstitution mehr deun je gewillt ist, sein Hoheitsgebiet zu verteidigen und alle Angriffe darauf zurückzuweisen, ist ein Beweis des erwachten nationalen Selbstbewußtseins. Die Besitzergreifung Bosniens und der Herzegowina ertrug man, weil ein Krieg gegen den mächtigen Usurpator in dein Augenblick der inneren Umwälzung unmöglich schien. Polnischer Gleichgültigkeit konnte wahrlich das türkische Volk nicht beschuldigt werden, wie der Bovkott der österreichischen Waren in allen Häfen des Osmanischen Reiches deutlich gezeigt hat. Ähnlich war der Hergang der Dinge bei der Souveränitäts- erklürung Bulgariens. Auch hierbei schickte man sich nur mit Widerstreben in das Unvermeidliche. Ganz anders sahen die Dinge schon bei dem Konflikt um Kreta aus, an die Niederwerfung des Albanestschen Aufstandes gar nicht zu denken. Das neue Regime hatte Zeit gehabt, innerlich zu erstarken; es brauchte nicht zu fürchten, im Falle einer Verwicklung in einen Krieg das Vertrauen der Bevölkerung zu verlieren. Nicht nur die liberalen Kreise Konstantinopels, auch die große Masse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/327>, abgerufen am 03.07.2024.