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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Lage der Türkei

Aber es ist nicht allem der Tiefstand der politischen Bildung, der den
Übergang zum Parlamentarismus sich so klanglos vollziehen ließ. Der Wahnsinn
des Hcnnidischen Systems selber ist es gewesen, der den juugtürkischen Neuereru
den Weg chüele. Die lächerliche Angst um seine persönliche Sicherheit, das
dadurch bedingte häßliche- Spiouagesystem, das die letzten Jahre des unseligen
Sultans unerträglich machte, hatten ihm alle Freunde genommen. So blieb
ihm denn auch kaum seine nächste Umgebung treu, als die jungtürkischen Truppen
Jildis bedrohten Ganz Konstantinopel jubelte den Befreiern zu.

Aber nichts wäre verkehrter als anzunehmen, aus der Türkei wäre mit
einem Schlag ein moderner Staat geworden. Man kann sogar billig bezweifeln,
ob eine solche Umwandlung überhaupt möglich ist; denn wie könnte man glauben,
die Mohammedaner wollten einmal Christen werden! Die Aufgabe der Jung¬
türken kann daher auch nicht die sein, eine Kopie der westeuropäischen Staaten
herzustellen, sie muß vielmehr dahin charakterisiert werden, die Massen der
geistig völlig stumpfen und des zielbewußter Arbeitens unkundigen orientalischen
Bevölkerung aufzuwecken und zur Anspannung ihrer Kräfte zu erziehen. In
welche Richtung dann die Kultur des türkischen Volkes drängt, muß die Zukunft
zeigen. Es mag zwar in gewissem Grade von der größeren oder kleineren
Dosis europäischer Ideen abhängen, welche die Führer der Jungtürken in die
gegenwärtige Bewegung einspritzen, wird aber doch von fundamentaleren Faktoren,
nicht zuletzt von der inneren Kraft der mohammedanischen Religion entschieden
werden. -- Ob die jungtürkische Partei ihrer Kulturaufgabe in den: angedeuteten
Sinne vorsteht, dürfte schwer zu beantworten sein. Es ist jedoch unzweifelhaft,
daß das konstitutionelle System und die Europäisierung des äußeren Lebens
schon jetzt anregend und erzieherisch gewirkt haben. Insbesondere hat es seinen
Einfluß auf das Beamtentum in allen Zweigen der Verwaltung nicht verfehlt;
mit Freude konstatiert man, daß eine Art Beamtenstolz im Begriff ist sich
zu bilden. Die Entwicklung des Post-, Telegraphen- und Heerwesens macht
schnelle Fortschritte und die Verwaltung der Provinzen ordnet sich mehr und
mehr dem Gefüge der Zentralregierung ein. Nach einem Jahrzehnt der Budget-
losigkeit ist nunmehr schon zweimal eine ernsthafte Rechnungsablage vor dem
Parlament erfolgt, die, wenn die Bilanz auch noch mangelhaft und das Defizit
fast gleich einem Viertel der Einnahmen ist, doch als großer Fortschritt gewürdigt
werden muß.

Kurz, das parlamentarische System, das schon jetzt weite Kreise zur Mit¬
arbeit an der Regierung des Staates heranzieht und die Diskusston über die
wichtigsten Fragen der inneren Verwaltung, der Rechtsprechung, des Unterrichtes,
der Besteuerung usw. in die Öffentlichkeit trägt, muß, selbst wenn die Beschlüsse
des Parlaments im einzelnen mangelhaft sind, als der richtige Weg zu einer
ökonomischen und geistigen Belebung des türkischen Staates bezeichnet werden.
Der Einwand, die Türkei sei noch nicht reif für den Konstitutionalismus, wird
schon durch die ersten beiden Jahre der Konstitution gänzlich widerlegt, und


Die politische Lage der Türkei

Aber es ist nicht allem der Tiefstand der politischen Bildung, der den
Übergang zum Parlamentarismus sich so klanglos vollziehen ließ. Der Wahnsinn
des Hcnnidischen Systems selber ist es gewesen, der den juugtürkischen Neuereru
den Weg chüele. Die lächerliche Angst um seine persönliche Sicherheit, das
dadurch bedingte häßliche- Spiouagesystem, das die letzten Jahre des unseligen
Sultans unerträglich machte, hatten ihm alle Freunde genommen. So blieb
ihm denn auch kaum seine nächste Umgebung treu, als die jungtürkischen Truppen
Jildis bedrohten Ganz Konstantinopel jubelte den Befreiern zu.

Aber nichts wäre verkehrter als anzunehmen, aus der Türkei wäre mit
einem Schlag ein moderner Staat geworden. Man kann sogar billig bezweifeln,
ob eine solche Umwandlung überhaupt möglich ist; denn wie könnte man glauben,
die Mohammedaner wollten einmal Christen werden! Die Aufgabe der Jung¬
türken kann daher auch nicht die sein, eine Kopie der westeuropäischen Staaten
herzustellen, sie muß vielmehr dahin charakterisiert werden, die Massen der
geistig völlig stumpfen und des zielbewußter Arbeitens unkundigen orientalischen
Bevölkerung aufzuwecken und zur Anspannung ihrer Kräfte zu erziehen. In
welche Richtung dann die Kultur des türkischen Volkes drängt, muß die Zukunft
zeigen. Es mag zwar in gewissem Grade von der größeren oder kleineren
Dosis europäischer Ideen abhängen, welche die Führer der Jungtürken in die
gegenwärtige Bewegung einspritzen, wird aber doch von fundamentaleren Faktoren,
nicht zuletzt von der inneren Kraft der mohammedanischen Religion entschieden
werden. — Ob die jungtürkische Partei ihrer Kulturaufgabe in den: angedeuteten
Sinne vorsteht, dürfte schwer zu beantworten sein. Es ist jedoch unzweifelhaft,
daß das konstitutionelle System und die Europäisierung des äußeren Lebens
schon jetzt anregend und erzieherisch gewirkt haben. Insbesondere hat es seinen
Einfluß auf das Beamtentum in allen Zweigen der Verwaltung nicht verfehlt;
mit Freude konstatiert man, daß eine Art Beamtenstolz im Begriff ist sich
zu bilden. Die Entwicklung des Post-, Telegraphen- und Heerwesens macht
schnelle Fortschritte und die Verwaltung der Provinzen ordnet sich mehr und
mehr dem Gefüge der Zentralregierung ein. Nach einem Jahrzehnt der Budget-
losigkeit ist nunmehr schon zweimal eine ernsthafte Rechnungsablage vor dem
Parlament erfolgt, die, wenn die Bilanz auch noch mangelhaft und das Defizit
fast gleich einem Viertel der Einnahmen ist, doch als großer Fortschritt gewürdigt
werden muß.

Kurz, das parlamentarische System, das schon jetzt weite Kreise zur Mit¬
arbeit an der Regierung des Staates heranzieht und die Diskusston über die
wichtigsten Fragen der inneren Verwaltung, der Rechtsprechung, des Unterrichtes,
der Besteuerung usw. in die Öffentlichkeit trägt, muß, selbst wenn die Beschlüsse
des Parlaments im einzelnen mangelhaft sind, als der richtige Weg zu einer
ökonomischen und geistigen Belebung des türkischen Staates bezeichnet werden.
Der Einwand, die Türkei sei noch nicht reif für den Konstitutionalismus, wird
schon durch die ersten beiden Jahre der Konstitution gänzlich widerlegt, und


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[0326] Die politische Lage der Türkei Aber es ist nicht allem der Tiefstand der politischen Bildung, der den Übergang zum Parlamentarismus sich so klanglos vollziehen ließ. Der Wahnsinn des Hcnnidischen Systems selber ist es gewesen, der den juugtürkischen Neuereru den Weg chüele. Die lächerliche Angst um seine persönliche Sicherheit, das dadurch bedingte häßliche- Spiouagesystem, das die letzten Jahre des unseligen Sultans unerträglich machte, hatten ihm alle Freunde genommen. So blieb ihm denn auch kaum seine nächste Umgebung treu, als die jungtürkischen Truppen Jildis bedrohten Ganz Konstantinopel jubelte den Befreiern zu. Aber nichts wäre verkehrter als anzunehmen, aus der Türkei wäre mit einem Schlag ein moderner Staat geworden. Man kann sogar billig bezweifeln, ob eine solche Umwandlung überhaupt möglich ist; denn wie könnte man glauben, die Mohammedaner wollten einmal Christen werden! Die Aufgabe der Jung¬ türken kann daher auch nicht die sein, eine Kopie der westeuropäischen Staaten herzustellen, sie muß vielmehr dahin charakterisiert werden, die Massen der geistig völlig stumpfen und des zielbewußter Arbeitens unkundigen orientalischen Bevölkerung aufzuwecken und zur Anspannung ihrer Kräfte zu erziehen. In welche Richtung dann die Kultur des türkischen Volkes drängt, muß die Zukunft zeigen. Es mag zwar in gewissem Grade von der größeren oder kleineren Dosis europäischer Ideen abhängen, welche die Führer der Jungtürken in die gegenwärtige Bewegung einspritzen, wird aber doch von fundamentaleren Faktoren, nicht zuletzt von der inneren Kraft der mohammedanischen Religion entschieden werden. — Ob die jungtürkische Partei ihrer Kulturaufgabe in den: angedeuteten Sinne vorsteht, dürfte schwer zu beantworten sein. Es ist jedoch unzweifelhaft, daß das konstitutionelle System und die Europäisierung des äußeren Lebens schon jetzt anregend und erzieherisch gewirkt haben. Insbesondere hat es seinen Einfluß auf das Beamtentum in allen Zweigen der Verwaltung nicht verfehlt; mit Freude konstatiert man, daß eine Art Beamtenstolz im Begriff ist sich zu bilden. Die Entwicklung des Post-, Telegraphen- und Heerwesens macht schnelle Fortschritte und die Verwaltung der Provinzen ordnet sich mehr und mehr dem Gefüge der Zentralregierung ein. Nach einem Jahrzehnt der Budget- losigkeit ist nunmehr schon zweimal eine ernsthafte Rechnungsablage vor dem Parlament erfolgt, die, wenn die Bilanz auch noch mangelhaft und das Defizit fast gleich einem Viertel der Einnahmen ist, doch als großer Fortschritt gewürdigt werden muß. Kurz, das parlamentarische System, das schon jetzt weite Kreise zur Mit¬ arbeit an der Regierung des Staates heranzieht und die Diskusston über die wichtigsten Fragen der inneren Verwaltung, der Rechtsprechung, des Unterrichtes, der Besteuerung usw. in die Öffentlichkeit trägt, muß, selbst wenn die Beschlüsse des Parlaments im einzelnen mangelhaft sind, als der richtige Weg zu einer ökonomischen und geistigen Belebung des türkischen Staates bezeichnet werden. Der Einwand, die Türkei sei noch nicht reif für den Konstitutionalismus, wird schon durch die ersten beiden Jahre der Konstitution gänzlich widerlegt, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/326>, abgerufen am 01.07.2024.