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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Lcwour

Erhaltung der öffentlichen Ordnung vereinbaren Freiheiten und Freiheit in den
Beziehungen von Kirche und Staat.

Daß trotzdem Cavour in der Zeit, als sein Land die von ihm befürworteten
Fortschritte zu machen begann, bei den sogenannten Liberalen und in den
unteren Volksschichten nichts weniger als Vertrauen genoß, ist befremdlich, aber
vielleicht aus seinem aristokratischen Namen und aus Erinnerungen an die
konservative Art seines Vaters, der lange Jahre Bürgermeister von Turin
gewesen, zu erklären. Als er zu Anfang Januar 1843 dafür eintrat, daß von
der regierenden Macht eine Verfassung gefordert werden müsse, die ihr eine
neue, dem Geiste der Zeit entsprechende Grundlage gebe, waren die Demokraten
dagegen, weil sie kein Vertrauen hatten zu dem, was von "Mylord Risorgimento"
ausging. Dennoch wußte Cavour so viel Hebel in Bewegung zu setzen, daß
Karl Albert nach zähen: Widerstreben am 4. März dem Lande eine Verfassung
gab. Cavour war es beschieden. Mitglied der Kommission zur Vorbereitung
des Wahlgesetzes und damit dessen Haupturheber zu werden. Der erste kon¬
stitutionelle Ministerpräsident war Cavours Freund. Graf Balbo, der Mit¬
begründer des "Risorgimento". Bei den ersten politischen Wahlen am 26. April
fiel jedoch Cavours Kandidatur infolge des fortbestehenden Mißtrauens der
Liberalen und Demokraten gegen ihn durch. In Ergäuzungswahlen am 26. Juni
wurde er dafür in nicht weniger als vier Kreisen gewählt. Er optierte für
Turin, dessen parlamentarischer Vertreter er, abgesehen von einer Pause im
Jahre 1849, dauernd blieb.

In der Deputiertenkammer saß Cavour auf der Rechten, und dies unbeschadet
seiner bereits gekennzeichneten, nie von ihm verleugneten liberalen Ideen. Dem
Ministerium versagte er in der Regel seine Stimme nicht, ohne darum seine
Unabhängigkeit und gegebenenfalls seine sachlicheOpposition irgend zu präjudizieren.
Am 7. März 1850 hielt er zugunsten eines vom Justizminister Siccardi ein¬
gebrachten Gesetzentwurfs betreffend die Abschaffung der zivil- und strafrechtlichen
Jurisdiktion der Kirche eine große Rede, die der Ausgangspunkt einer
bedeutenden Hebung seiner parlamentarischen Geltung wurde. Die Rechte schied sich
w Anhänger und Gegner Cavours, und es bildete sich die Gruppe des "rechten
Zentrums", deren Führerschaft Cavour zufiel. Als kurz darauf Pietro ti Santarosa
verstarb und das Ministerium für Landwirtschaft und Handel frei wurde, war
es für niemand überraschend, daß Massimo d'Azeglio im besonderen Ein¬
verständnis mit La Marmora Camillo Cavour dieses Portefeuille antrug. Das
Dekret der Ernennung Cavours zum Minister, dem Karl Albert nur wider¬
strebend seine Unterschrift gab. ist vom 11- Oktober 1850.

Wenige Monate später wurde Cavour auch das Finanzministerium anvertraut.
Seine Sorge war es, in erster Linie das Gleichgewicht der Einnahmen und
Ausgaben im Staatshaushalt herzustellen, und in zweiter Linie eine Entlastung
der ärmeren Volksklassen von den Steuern herbeizuführen. Das soziale Problem
immer vor Augen, tat er sodann viel für die Organisation der öffentlichen


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Erhaltung der öffentlichen Ordnung vereinbaren Freiheiten und Freiheit in den
Beziehungen von Kirche und Staat.

Daß trotzdem Cavour in der Zeit, als sein Land die von ihm befürworteten
Fortschritte zu machen begann, bei den sogenannten Liberalen und in den
unteren Volksschichten nichts weniger als Vertrauen genoß, ist befremdlich, aber
vielleicht aus seinem aristokratischen Namen und aus Erinnerungen an die
konservative Art seines Vaters, der lange Jahre Bürgermeister von Turin
gewesen, zu erklären. Als er zu Anfang Januar 1843 dafür eintrat, daß von
der regierenden Macht eine Verfassung gefordert werden müsse, die ihr eine
neue, dem Geiste der Zeit entsprechende Grundlage gebe, waren die Demokraten
dagegen, weil sie kein Vertrauen hatten zu dem, was von „Mylord Risorgimento"
ausging. Dennoch wußte Cavour so viel Hebel in Bewegung zu setzen, daß
Karl Albert nach zähen: Widerstreben am 4. März dem Lande eine Verfassung
gab. Cavour war es beschieden. Mitglied der Kommission zur Vorbereitung
des Wahlgesetzes und damit dessen Haupturheber zu werden. Der erste kon¬
stitutionelle Ministerpräsident war Cavours Freund. Graf Balbo, der Mit¬
begründer des „Risorgimento". Bei den ersten politischen Wahlen am 26. April
fiel jedoch Cavours Kandidatur infolge des fortbestehenden Mißtrauens der
Liberalen und Demokraten gegen ihn durch. In Ergäuzungswahlen am 26. Juni
wurde er dafür in nicht weniger als vier Kreisen gewählt. Er optierte für
Turin, dessen parlamentarischer Vertreter er, abgesehen von einer Pause im
Jahre 1849, dauernd blieb.

In der Deputiertenkammer saß Cavour auf der Rechten, und dies unbeschadet
seiner bereits gekennzeichneten, nie von ihm verleugneten liberalen Ideen. Dem
Ministerium versagte er in der Regel seine Stimme nicht, ohne darum seine
Unabhängigkeit und gegebenenfalls seine sachlicheOpposition irgend zu präjudizieren.
Am 7. März 1850 hielt er zugunsten eines vom Justizminister Siccardi ein¬
gebrachten Gesetzentwurfs betreffend die Abschaffung der zivil- und strafrechtlichen
Jurisdiktion der Kirche eine große Rede, die der Ausgangspunkt einer
bedeutenden Hebung seiner parlamentarischen Geltung wurde. Die Rechte schied sich
w Anhänger und Gegner Cavours, und es bildete sich die Gruppe des „rechten
Zentrums", deren Führerschaft Cavour zufiel. Als kurz darauf Pietro ti Santarosa
verstarb und das Ministerium für Landwirtschaft und Handel frei wurde, war
es für niemand überraschend, daß Massimo d'Azeglio im besonderen Ein¬
verständnis mit La Marmora Camillo Cavour dieses Portefeuille antrug. Das
Dekret der Ernennung Cavours zum Minister, dem Karl Albert nur wider¬
strebend seine Unterschrift gab. ist vom 11- Oktober 1850.

Wenige Monate später wurde Cavour auch das Finanzministerium anvertraut.
Seine Sorge war es, in erster Linie das Gleichgewicht der Einnahmen und
Ausgaben im Staatshaushalt herzustellen, und in zweiter Linie eine Entlastung
der ärmeren Volksklassen von den Steuern herbeizuführen. Das soziale Problem
immer vor Augen, tat er sodann viel für die Organisation der öffentlichen


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[0265] Lcwour Erhaltung der öffentlichen Ordnung vereinbaren Freiheiten und Freiheit in den Beziehungen von Kirche und Staat. Daß trotzdem Cavour in der Zeit, als sein Land die von ihm befürworteten Fortschritte zu machen begann, bei den sogenannten Liberalen und in den unteren Volksschichten nichts weniger als Vertrauen genoß, ist befremdlich, aber vielleicht aus seinem aristokratischen Namen und aus Erinnerungen an die konservative Art seines Vaters, der lange Jahre Bürgermeister von Turin gewesen, zu erklären. Als er zu Anfang Januar 1843 dafür eintrat, daß von der regierenden Macht eine Verfassung gefordert werden müsse, die ihr eine neue, dem Geiste der Zeit entsprechende Grundlage gebe, waren die Demokraten dagegen, weil sie kein Vertrauen hatten zu dem, was von „Mylord Risorgimento" ausging. Dennoch wußte Cavour so viel Hebel in Bewegung zu setzen, daß Karl Albert nach zähen: Widerstreben am 4. März dem Lande eine Verfassung gab. Cavour war es beschieden. Mitglied der Kommission zur Vorbereitung des Wahlgesetzes und damit dessen Haupturheber zu werden. Der erste kon¬ stitutionelle Ministerpräsident war Cavours Freund. Graf Balbo, der Mit¬ begründer des „Risorgimento". Bei den ersten politischen Wahlen am 26. April fiel jedoch Cavours Kandidatur infolge des fortbestehenden Mißtrauens der Liberalen und Demokraten gegen ihn durch. In Ergäuzungswahlen am 26. Juni wurde er dafür in nicht weniger als vier Kreisen gewählt. Er optierte für Turin, dessen parlamentarischer Vertreter er, abgesehen von einer Pause im Jahre 1849, dauernd blieb. In der Deputiertenkammer saß Cavour auf der Rechten, und dies unbeschadet seiner bereits gekennzeichneten, nie von ihm verleugneten liberalen Ideen. Dem Ministerium versagte er in der Regel seine Stimme nicht, ohne darum seine Unabhängigkeit und gegebenenfalls seine sachlicheOpposition irgend zu präjudizieren. Am 7. März 1850 hielt er zugunsten eines vom Justizminister Siccardi ein¬ gebrachten Gesetzentwurfs betreffend die Abschaffung der zivil- und strafrechtlichen Jurisdiktion der Kirche eine große Rede, die der Ausgangspunkt einer bedeutenden Hebung seiner parlamentarischen Geltung wurde. Die Rechte schied sich w Anhänger und Gegner Cavours, und es bildete sich die Gruppe des „rechten Zentrums", deren Führerschaft Cavour zufiel. Als kurz darauf Pietro ti Santarosa verstarb und das Ministerium für Landwirtschaft und Handel frei wurde, war es für niemand überraschend, daß Massimo d'Azeglio im besonderen Ein¬ verständnis mit La Marmora Camillo Cavour dieses Portefeuille antrug. Das Dekret der Ernennung Cavours zum Minister, dem Karl Albert nur wider¬ strebend seine Unterschrift gab. ist vom 11- Oktober 1850. Wenige Monate später wurde Cavour auch das Finanzministerium anvertraut. Seine Sorge war es, in erster Linie das Gleichgewicht der Einnahmen und Ausgaben im Staatshaushalt herzustellen, und in zweiter Linie eine Entlastung der ärmeren Volksklassen von den Steuern herbeizuführen. Das soziale Problem immer vor Augen, tat er sodann viel für die Organisation der öffentlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/265>, abgerufen am 23.07.2024.