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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Lavour

das Recht der Kontrolle und der Vorstandsernennung der Associazimie behielt.
In dem der Associazione zugehörigen "Giornale" veröffentlichte Cavour mehrere
agrarpolitische und agronomische Aufsätze, übrigens seine publizistischen Erstlinge
in italienischer Sprache, und gelangte dadurch zu Ansehen als Wirtschafts¬
politiker. Nebenbei war er einer der ersten, die in Italien eine planmäßige,
wissenschaftliche Untersuchung volks- und staatswirtschaftlicher Probleme
forderten.

Mit einer Monographie "Lonsiciörations 8ur l'etat als 1'Irwncls et 8ur
son avenir" trat Cavour 1844 in das Feld der allgemeinen Politik. Man
sieht hier in jeder Zeile nächst einer Liebe zu der irländischen Bevölkerung ein
aufrichtiges Vertrauen in die Wirksamkeit weit ausgreifender wirtschaftlicher
Maßnahmen, in die Reform der bürgerlichen Gesetze und der Erziehung. 1845
veröffentlichte er eine Schrift über die staatliche Regulierung des englischen
Getreidehandels, in der die Vorteile des Freihandels für Zerealien außer für
England auch auf der Grundlage Smithscher Theorie allgemein hervorgehoben
werden. In einer zweiten, denselben Gegenstand mehr unter praktischem Gesichts¬
punkte behandelnden Schrift forderte Cavour auch für Italien den Freihandel.
1846 behandelte er aus Anlaß eines Buches des Grafen Petitti in einem viel
beachteten Aufsatze die moralischen Wirkungen der Eisenbahnen in Italien, die
ihm bei weitem bedeutsamer als die materiellen erschienen; er befürwortete ihren
Ausbau (auch mit Hilfe eines Durchstichs der Alpen) zum Vorteil der wirt¬
schaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Nation. Im Jahre 1846 boten
ein Zwist Piemonts mit Österreich und eine mit der Wahl Pius' des Neunten
zum Papst einsetzende Volksbewegung in Rom Cavour Gelegenheit, sich ma߬
gebend an der Politik zu beteiligen. Er gründete mit Balbo und anderen die
Zeitung "Il Risorgimento" und übernahm deren verantwortliche Redaktion.
Am 30. Oktober 1847 hatte Cavour die Genugtuung, daß Karl Albert nach
langem Widerstreben Reformen im Sinne einer Einschränkung der Regierungs¬
gewalt zugestand. Gegen Ende 1847 vertrat er im "Risorgimento" die Parole:
"freie Kirche im freien Staate", jene Parole, die 1861 im Zusammenhang mit
dem Anspruch auf Rom als Hauptstadt des geeinten Italiens zu einer bedeut¬
samen Rolle gelangte und die Cavour hier vorerst auf verschiedene Interessen
des öffentlichen Lebens in Piemont anzuwenden trachtete. Was ihn hierbei
bestimmte, war keineswegs antireligiöser oder auch nur antikatholischer Sinn;
im Gegenteil: "das religiöse Problem," so schrieb er einmal seinem Bruder, "wird
nie von den autoritären, empirischen, unvernünftigen Katholiken gelöst werden,
sondern von den Katholiken, welche Glauben und Vernunft, Glauben und Fort¬
schritt miteinander in Einklang zu bringen wissen, d. h. von den liberalen
Katholiken." Die Freiheit der Kirche bei Freiheit des Staates ihr gegenüber
war für Cavour, wie aus seinen parlamentarischen Reden vom 25. und
27. März 1861 erhellt, ein Bestandteil seines Systems der Freiheiten: wirt¬
schaftliche, administrative, volle und absolute Gewissensfreiheit, alle mit der


Lavour

das Recht der Kontrolle und der Vorstandsernennung der Associazimie behielt.
In dem der Associazione zugehörigen „Giornale" veröffentlichte Cavour mehrere
agrarpolitische und agronomische Aufsätze, übrigens seine publizistischen Erstlinge
in italienischer Sprache, und gelangte dadurch zu Ansehen als Wirtschafts¬
politiker. Nebenbei war er einer der ersten, die in Italien eine planmäßige,
wissenschaftliche Untersuchung volks- und staatswirtschaftlicher Probleme
forderten.

Mit einer Monographie „Lonsiciörations 8ur l'etat als 1'Irwncls et 8ur
son avenir" trat Cavour 1844 in das Feld der allgemeinen Politik. Man
sieht hier in jeder Zeile nächst einer Liebe zu der irländischen Bevölkerung ein
aufrichtiges Vertrauen in die Wirksamkeit weit ausgreifender wirtschaftlicher
Maßnahmen, in die Reform der bürgerlichen Gesetze und der Erziehung. 1845
veröffentlichte er eine Schrift über die staatliche Regulierung des englischen
Getreidehandels, in der die Vorteile des Freihandels für Zerealien außer für
England auch auf der Grundlage Smithscher Theorie allgemein hervorgehoben
werden. In einer zweiten, denselben Gegenstand mehr unter praktischem Gesichts¬
punkte behandelnden Schrift forderte Cavour auch für Italien den Freihandel.
1846 behandelte er aus Anlaß eines Buches des Grafen Petitti in einem viel
beachteten Aufsatze die moralischen Wirkungen der Eisenbahnen in Italien, die
ihm bei weitem bedeutsamer als die materiellen erschienen; er befürwortete ihren
Ausbau (auch mit Hilfe eines Durchstichs der Alpen) zum Vorteil der wirt¬
schaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Nation. Im Jahre 1846 boten
ein Zwist Piemonts mit Österreich und eine mit der Wahl Pius' des Neunten
zum Papst einsetzende Volksbewegung in Rom Cavour Gelegenheit, sich ma߬
gebend an der Politik zu beteiligen. Er gründete mit Balbo und anderen die
Zeitung „Il Risorgimento" und übernahm deren verantwortliche Redaktion.
Am 30. Oktober 1847 hatte Cavour die Genugtuung, daß Karl Albert nach
langem Widerstreben Reformen im Sinne einer Einschränkung der Regierungs¬
gewalt zugestand. Gegen Ende 1847 vertrat er im „Risorgimento" die Parole:
„freie Kirche im freien Staate", jene Parole, die 1861 im Zusammenhang mit
dem Anspruch auf Rom als Hauptstadt des geeinten Italiens zu einer bedeut¬
samen Rolle gelangte und die Cavour hier vorerst auf verschiedene Interessen
des öffentlichen Lebens in Piemont anzuwenden trachtete. Was ihn hierbei
bestimmte, war keineswegs antireligiöser oder auch nur antikatholischer Sinn;
im Gegenteil: „das religiöse Problem," so schrieb er einmal seinem Bruder, „wird
nie von den autoritären, empirischen, unvernünftigen Katholiken gelöst werden,
sondern von den Katholiken, welche Glauben und Vernunft, Glauben und Fort¬
schritt miteinander in Einklang zu bringen wissen, d. h. von den liberalen
Katholiken." Die Freiheit der Kirche bei Freiheit des Staates ihr gegenüber
war für Cavour, wie aus seinen parlamentarischen Reden vom 25. und
27. März 1861 erhellt, ein Bestandteil seines Systems der Freiheiten: wirt¬
schaftliche, administrative, volle und absolute Gewissensfreiheit, alle mit der


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[0264] Lavour das Recht der Kontrolle und der Vorstandsernennung der Associazimie behielt. In dem der Associazione zugehörigen „Giornale" veröffentlichte Cavour mehrere agrarpolitische und agronomische Aufsätze, übrigens seine publizistischen Erstlinge in italienischer Sprache, und gelangte dadurch zu Ansehen als Wirtschafts¬ politiker. Nebenbei war er einer der ersten, die in Italien eine planmäßige, wissenschaftliche Untersuchung volks- und staatswirtschaftlicher Probleme forderten. Mit einer Monographie „Lonsiciörations 8ur l'etat als 1'Irwncls et 8ur son avenir" trat Cavour 1844 in das Feld der allgemeinen Politik. Man sieht hier in jeder Zeile nächst einer Liebe zu der irländischen Bevölkerung ein aufrichtiges Vertrauen in die Wirksamkeit weit ausgreifender wirtschaftlicher Maßnahmen, in die Reform der bürgerlichen Gesetze und der Erziehung. 1845 veröffentlichte er eine Schrift über die staatliche Regulierung des englischen Getreidehandels, in der die Vorteile des Freihandels für Zerealien außer für England auch auf der Grundlage Smithscher Theorie allgemein hervorgehoben werden. In einer zweiten, denselben Gegenstand mehr unter praktischem Gesichts¬ punkte behandelnden Schrift forderte Cavour auch für Italien den Freihandel. 1846 behandelte er aus Anlaß eines Buches des Grafen Petitti in einem viel beachteten Aufsatze die moralischen Wirkungen der Eisenbahnen in Italien, die ihm bei weitem bedeutsamer als die materiellen erschienen; er befürwortete ihren Ausbau (auch mit Hilfe eines Durchstichs der Alpen) zum Vorteil der wirt¬ schaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Nation. Im Jahre 1846 boten ein Zwist Piemonts mit Österreich und eine mit der Wahl Pius' des Neunten zum Papst einsetzende Volksbewegung in Rom Cavour Gelegenheit, sich ma߬ gebend an der Politik zu beteiligen. Er gründete mit Balbo und anderen die Zeitung „Il Risorgimento" und übernahm deren verantwortliche Redaktion. Am 30. Oktober 1847 hatte Cavour die Genugtuung, daß Karl Albert nach langem Widerstreben Reformen im Sinne einer Einschränkung der Regierungs¬ gewalt zugestand. Gegen Ende 1847 vertrat er im „Risorgimento" die Parole: „freie Kirche im freien Staate", jene Parole, die 1861 im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Rom als Hauptstadt des geeinten Italiens zu einer bedeut¬ samen Rolle gelangte und die Cavour hier vorerst auf verschiedene Interessen des öffentlichen Lebens in Piemont anzuwenden trachtete. Was ihn hierbei bestimmte, war keineswegs antireligiöser oder auch nur antikatholischer Sinn; im Gegenteil: „das religiöse Problem," so schrieb er einmal seinem Bruder, „wird nie von den autoritären, empirischen, unvernünftigen Katholiken gelöst werden, sondern von den Katholiken, welche Glauben und Vernunft, Glauben und Fort¬ schritt miteinander in Einklang zu bringen wissen, d. h. von den liberalen Katholiken." Die Freiheit der Kirche bei Freiheit des Staates ihr gegenüber war für Cavour, wie aus seinen parlamentarischen Reden vom 25. und 27. März 1861 erhellt, ein Bestandteil seines Systems der Freiheiten: wirt¬ schaftliche, administrative, volle und absolute Gewissensfreiheit, alle mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/264>, abgerufen am 23.07.2024.