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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Ubbo Frözet am 14. Januar 1836, "um so mehr überzeuge ich mich, daß das
"juste milisu" dasjenige politische System ist, welches den Umständen am
besten entspricht und am geeignetsten ist, die Gesellschaft von den beiden sie
bedrohenden Übertreibungen, von der Anarchie und dem Despotismus, zu
befreien. Ich verstehe unter "justs milisu" ... die Politik, welche darin
besteht, der Notwendigkeit der Zeiten all das zuzugestehen, was die Vernunft
als gerecht erweisen kann, und das abzulehnen, was keine andere Grundlage
hat als den Lärm der Parteien oder die Heftigkeit der anarchischen Leiden¬
schaften." Ähnliche Worte hat er fünfzehn Jahre später in seinem ministeriellen
Programm ausgesprochen. In Sachen der individuellen und sozialen Erziehung
hielt er sich an I. I. Rousseaus Grundsätze und betonte, daß sich keine große
Erneuerung und kein beständiger Fortschritt vollziehen könnte, ohne daß sich die
moralischen und intellektuellen Kräfte, gehärtet und geleitet durch die Erfahrung
und das induktive Verfahren, nach hohen sittlichen Grundsätzen entfalteten.
Auch einen weisen, vielleicht nicht durchaus seinen eigenen psychologischen
Beobachtungen entstammenden, wohl aber seinem geistigen und sittlichen Charakter
vorzüglich entsprechenden Satz über das Verhältnis von Denken und Handeln
findet man schon in seinem Tagebuch aus jungen Jahren: "das Denken muß
ein Gegengewicht haben im Handeln, und das Handeln im Denken; das
Handeln verhindert, daß das Denken sich selbst überlassen irrt, und das Denken
erlaubt nicht, daß das Handeln allein mechanisch und empirisch abläuft." Hierzu
kam ein fester Mut der Überzeugung und der Tat und ein alle Opportunisten
überwindendes stetes Streben zu dem Ideal, der Freiheit und Größe des
Vaterlandes.

Allerdings bedürfte er eines großen Maßes von Geduld und Selbst¬
bescheidung, ehe er in die Lage kam, von seinen guten Eigenschaften und Vor¬
sätzen einen staatsmännischen Gebrauch zu machen. Denn noch als reifer,
seiner Würde und seines Wertes bewußter Mann lebte er zurückgezogen auf
dem väterlichen Gute Leri bei Vercelli, dessen Bewirtschaftung er sich seit 1835
ernstlich und unter ausschließlich eigener Verantwortung angelegen sein ließ, um
nicht in abstrakten Erwägungen aufzugehen. In den Jahren 1837 bis 183!)
befaßte er sich mit der Begründung von Asylen und Schulen für Kinder in
Turin. Im Jahre 1840, uach der Rückkehr aus Frankreich und der Schweiz,
nahm er an industriellen Unternehmungen, an: Bau von Straßen. Kanälen usw.
teil. In den Jahren 1841 bis 1843 widmete er sich wiederum in der Schweiz,
in Frankreich und in England, wo es ihm hauptsächlich auf die politischen und
kommerziellen Probleme ankam, vielseitigen Studien. An der Gründung einer
über ganz Piemont systematisch verbreiteten "Associazione agraria" im Jahre
1842 nahm er besonderen Anteil und trug nicht wenig dazu bei, daß sie über
"grar-technische und -wirtschaftliche Interessen hinausging und ein Zentrum
"und politischer Beendigung wurde. Hiermit war ein erheblicher Fortschritt in
den öffentlich-rechtlichen Verhältnissen verwirklicht, obwohl die Staatsregierung


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Ubbo Frözet am 14. Januar 1836, „um so mehr überzeuge ich mich, daß das
„juste milisu" dasjenige politische System ist, welches den Umständen am
besten entspricht und am geeignetsten ist, die Gesellschaft von den beiden sie
bedrohenden Übertreibungen, von der Anarchie und dem Despotismus, zu
befreien. Ich verstehe unter „justs milisu" ... die Politik, welche darin
besteht, der Notwendigkeit der Zeiten all das zuzugestehen, was die Vernunft
als gerecht erweisen kann, und das abzulehnen, was keine andere Grundlage
hat als den Lärm der Parteien oder die Heftigkeit der anarchischen Leiden¬
schaften." Ähnliche Worte hat er fünfzehn Jahre später in seinem ministeriellen
Programm ausgesprochen. In Sachen der individuellen und sozialen Erziehung
hielt er sich an I. I. Rousseaus Grundsätze und betonte, daß sich keine große
Erneuerung und kein beständiger Fortschritt vollziehen könnte, ohne daß sich die
moralischen und intellektuellen Kräfte, gehärtet und geleitet durch die Erfahrung
und das induktive Verfahren, nach hohen sittlichen Grundsätzen entfalteten.
Auch einen weisen, vielleicht nicht durchaus seinen eigenen psychologischen
Beobachtungen entstammenden, wohl aber seinem geistigen und sittlichen Charakter
vorzüglich entsprechenden Satz über das Verhältnis von Denken und Handeln
findet man schon in seinem Tagebuch aus jungen Jahren: „das Denken muß
ein Gegengewicht haben im Handeln, und das Handeln im Denken; das
Handeln verhindert, daß das Denken sich selbst überlassen irrt, und das Denken
erlaubt nicht, daß das Handeln allein mechanisch und empirisch abläuft." Hierzu
kam ein fester Mut der Überzeugung und der Tat und ein alle Opportunisten
überwindendes stetes Streben zu dem Ideal, der Freiheit und Größe des
Vaterlandes.

Allerdings bedürfte er eines großen Maßes von Geduld und Selbst¬
bescheidung, ehe er in die Lage kam, von seinen guten Eigenschaften und Vor¬
sätzen einen staatsmännischen Gebrauch zu machen. Denn noch als reifer,
seiner Würde und seines Wertes bewußter Mann lebte er zurückgezogen auf
dem väterlichen Gute Leri bei Vercelli, dessen Bewirtschaftung er sich seit 1835
ernstlich und unter ausschließlich eigener Verantwortung angelegen sein ließ, um
nicht in abstrakten Erwägungen aufzugehen. In den Jahren 1837 bis 183!)
befaßte er sich mit der Begründung von Asylen und Schulen für Kinder in
Turin. Im Jahre 1840, uach der Rückkehr aus Frankreich und der Schweiz,
nahm er an industriellen Unternehmungen, an: Bau von Straßen. Kanälen usw.
teil. In den Jahren 1841 bis 1843 widmete er sich wiederum in der Schweiz,
in Frankreich und in England, wo es ihm hauptsächlich auf die politischen und
kommerziellen Probleme ankam, vielseitigen Studien. An der Gründung einer
über ganz Piemont systematisch verbreiteten „Associazione agraria" im Jahre
1842 nahm er besonderen Anteil und trug nicht wenig dazu bei, daß sie über
"grar-technische und -wirtschaftliche Interessen hinausging und ein Zentrum
"und politischer Beendigung wurde. Hiermit war ein erheblicher Fortschritt in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/263>, abgerufen am 03.07.2024.