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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Lavour

Livree" wieder ablegen zu können. Als Leutnant hegte und äußerte er Gedanken
über Freiheit und Vaterland, die so wenig zu den von der Obrigkeit genehmigten
und mit der Disziplin verträglichen paßten, daß sie ihm einen unerwünschten
Aufenthalt auf der Festung Bart eintrugen und ihn veranlaßten, den Militärdienst
gänzlich aufzugeben. Dieses namentlich darum, weil seine von der Juli-Revolution
entflammten Hoffnungen (aus einem Briefe Cavours an seinenOheim de Sellon, aus
Turin vom 5. Februar 1831) keinerlei Aussicht auf Erfüllung hatten, da Frankreich
nicht das Schwert zog und Piemont, "auf der einen Seite eingezwängt durch
die österreichischen Bajonette, auf der anderen durch die päpstlichen Exkommuni¬
kationen", sich selbst zu helfen außerstande war. "Frei" geworden, suchte er,
da ihm nicht bloß die Geschichte und die Elemente der sozialen und politischen
Verfassung, sondern auch die Sprache "Italiens" unzulänglich bekannt geblieben
waren -- die Umgangssprache war Französisch --, sich zu "italienisteren".
Tatenfreudig und voll politischen Eifers, so daß es ihm, wie er am 2. Oktober 1832
schrieb, ganz natürlich erschienen mare, eines schönen Morgens als leitender
Minister des Königreichs Italien aufzuwachen, bevorzugte er das Studium der
Volkswirtschaft als des besten Mittels, die Durchführbarkeit fortschrittlicher, ja
radikaler Staats- und Gesellschaftsreformen zu erkennen. Als er auf Verwenden
seines Vaters, der den heißen Kopf seines Sohnes abzukühlen trachtete, zum
Bürgermeister von Brinzane im Kreise Novara gemacht wurde, da "höhnte er
nur ein wenig sich selber und die anderen", wie er an die von ihm sehr verehrte
Marchesa ti Bagnolo schrieb: "Ich verzichte nicht auf das. was ich denke und
was der Zweck meines Lebens und jedes anderen Jtalieners sein müßte, dessen
Leben einen Wert hat." Landwirtschaftliche Betätigung brachte ihn so wenig
von diesen Gedanken und Stimmungen ab. daß ihm die österreichische Regierung
in Anbetracht seiner vermeintlich großen Gefährlichkeit die Grenze der Lombardei
versperren zu müssen glaubte. Reisen nach Frankreich. Belgien -- hier sah er
den verbannten Gioberti -- und England brachten ihm noch die Überzeugung,
daß der Triumph der Demokratie die unvermeidliche Zukunft der Menschheit
sei, auf den man sich freiwillig oder unfreiwillig vorbereiten müsse, und daß die
politische Erneuerung eine industrielle und kommerzielle zur Voraussetzung habe.

Camillo Cavour war der erste in Italien, der nachdrücklich betonte, daß
die verschiedenen Formen der nationalen Betätigung solidarisch miteinander seien,
so daß es dort, wo das völkische Bewußtsein matt, auch keinen mächtigen Wirt¬
schaftsbetrieb gebe, und dort, wo keine Wirtschafts- und Handelsfreiheit sei,
auch politische Freiheit übel gedeihe. Seine patriotischen Pläne waren dem¬
gemäß umfassender und begründeter als die eines Gioberti, Balbo, d'Azeglio
und Mazzini. Ein Freund der extremen Parteien war er nicht. Er hielt sich
an die "Mittelstraße" als "staatsmännischen Takt des Möglichen" und wollte
die Erfahrung zur Grundlage der Politik genommen sehen, ohne daß die
treibende Kraft der Idee dadurch ausgeschaltet würde. "Je mehr ich den Verlauf
der Tatsachen und das Verhalten der Menschen beobachte," schreibt er an den


Lavour

Livree" wieder ablegen zu können. Als Leutnant hegte und äußerte er Gedanken
über Freiheit und Vaterland, die so wenig zu den von der Obrigkeit genehmigten
und mit der Disziplin verträglichen paßten, daß sie ihm einen unerwünschten
Aufenthalt auf der Festung Bart eintrugen und ihn veranlaßten, den Militärdienst
gänzlich aufzugeben. Dieses namentlich darum, weil seine von der Juli-Revolution
entflammten Hoffnungen (aus einem Briefe Cavours an seinenOheim de Sellon, aus
Turin vom 5. Februar 1831) keinerlei Aussicht auf Erfüllung hatten, da Frankreich
nicht das Schwert zog und Piemont, „auf der einen Seite eingezwängt durch
die österreichischen Bajonette, auf der anderen durch die päpstlichen Exkommuni¬
kationen", sich selbst zu helfen außerstande war. „Frei" geworden, suchte er,
da ihm nicht bloß die Geschichte und die Elemente der sozialen und politischen
Verfassung, sondern auch die Sprache „Italiens" unzulänglich bekannt geblieben
waren — die Umgangssprache war Französisch —, sich zu „italienisteren".
Tatenfreudig und voll politischen Eifers, so daß es ihm, wie er am 2. Oktober 1832
schrieb, ganz natürlich erschienen mare, eines schönen Morgens als leitender
Minister des Königreichs Italien aufzuwachen, bevorzugte er das Studium der
Volkswirtschaft als des besten Mittels, die Durchführbarkeit fortschrittlicher, ja
radikaler Staats- und Gesellschaftsreformen zu erkennen. Als er auf Verwenden
seines Vaters, der den heißen Kopf seines Sohnes abzukühlen trachtete, zum
Bürgermeister von Brinzane im Kreise Novara gemacht wurde, da „höhnte er
nur ein wenig sich selber und die anderen", wie er an die von ihm sehr verehrte
Marchesa ti Bagnolo schrieb: „Ich verzichte nicht auf das. was ich denke und
was der Zweck meines Lebens und jedes anderen Jtalieners sein müßte, dessen
Leben einen Wert hat." Landwirtschaftliche Betätigung brachte ihn so wenig
von diesen Gedanken und Stimmungen ab. daß ihm die österreichische Regierung
in Anbetracht seiner vermeintlich großen Gefährlichkeit die Grenze der Lombardei
versperren zu müssen glaubte. Reisen nach Frankreich. Belgien — hier sah er
den verbannten Gioberti — und England brachten ihm noch die Überzeugung,
daß der Triumph der Demokratie die unvermeidliche Zukunft der Menschheit
sei, auf den man sich freiwillig oder unfreiwillig vorbereiten müsse, und daß die
politische Erneuerung eine industrielle und kommerzielle zur Voraussetzung habe.

Camillo Cavour war der erste in Italien, der nachdrücklich betonte, daß
die verschiedenen Formen der nationalen Betätigung solidarisch miteinander seien,
so daß es dort, wo das völkische Bewußtsein matt, auch keinen mächtigen Wirt¬
schaftsbetrieb gebe, und dort, wo keine Wirtschafts- und Handelsfreiheit sei,
auch politische Freiheit übel gedeihe. Seine patriotischen Pläne waren dem¬
gemäß umfassender und begründeter als die eines Gioberti, Balbo, d'Azeglio
und Mazzini. Ein Freund der extremen Parteien war er nicht. Er hielt sich
an die „Mittelstraße" als „staatsmännischen Takt des Möglichen" und wollte
die Erfahrung zur Grundlage der Politik genommen sehen, ohne daß die
treibende Kraft der Idee dadurch ausgeschaltet würde. „Je mehr ich den Verlauf
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/262>, abgerufen am 01.07.2024.