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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Sozialstudentischc Bewegung

ein gering gelohnter Arbeiter den Besuch dieser Kurse ermöglichen kann.
Tatsache ist jedoch, daß diese Kurse grade von den hochentlohnten, qualifi¬
zierten Arbeiter": aufgesucht werden; besonders stark sind z. B. nach allen Berichten
in diesen Kursen die Metallarbeiter vertreten. Es ist das ein gewisser Mangel
der Kurse; denn grade die tiefstehendsten Schichten der Arbeitermassen gilt es
zu erfassen.

Die Wirkung dieser Unterrichtskurse kann man am besten aus den Berichten
der Arbeiter selbst ermessen. In diesem Zusammenhange ist ein Artikel der
"Frankfurter Zeitung" vom 22. Januar 1909 interessant. Er handelt über
eine von der freien Studentenschaft der Akademie für Sozial- und Handels¬
wissenschaften in Frankfurt a. M. gestellte Preisaufgabe, die lautete: "Warum
besuche ich diesen Unterrichtskursus?" Mit innerer Anteilnahme liest man
hier, wie selbst in dem einfachsten Arbeiter sich ein Bildungshunger bemerkbar
macht, eine Sehnsucht nach Kenntnissen, die nach Erfüllung schreit. In der
Befriedigung dieser Sehnsucht, in der Aufnahme neuer Kenntnisse und Vertiefung
der alten liegt mithin der Nutzen der Kurse für den Arbeiter. Den Nutzen
dieser Kurse für den Studenten meißelt mit merkwürdiger Schärfe ein Hörer
heraus, der schreibt: "Es kann den Herren Studenten nichts schaden, wenn sie
näher in das Herz des Proletariers hineinschauen. Sie können sich dann in
späteren Jahren eher ein Urteil über Arbeiterfragen bilden und bleiben vor
einseitigen Ansichten bewahrt."

Derjenige, der die Verhältnisse an unseren Universitäten kennt, wird ihm
sicherlich beipflichten. Es liegt daher im Interesse beider Teile, sowohl der
Arbeiter als auch der Studenten, diese Einrichtungen rege zu benutzen, um so
einen immer breiteren Ausbau zu ermöglichen.

Freilich erscheint ein Ausbau in der Richtung nicht besonders erwünscht,
wie er neuerdings betrieben wird. Unter dem Einflüsse des "Sekretariats sozialer
Studentenarbeit", das seinen Sitz in München-Gladbach hat und als eine
Unterabteilung des "Volksvereins für das katholische Deutschland" von
Dr. Sonnenschein geleitet wird, haben sich nämlich, namentlich in den großen
Industriestädten des Rheinlandes und Westfalens, sogenannte heimatliche Arbeiter¬
kurse gebildet, die sich zu einen: "Westdeutschen Verbände" zusammengeschlossen
haben.

So anerkennenswert auch an sich der soziale Gedanke ist, der diese Ein¬
richtungen ins Leben rief, so bedenklich muß es andererseits stimmen, wenn sich
derartige Kurse unter dem Einflüsse des "Volksvereins" bilden.

In der Tat sind wohl die Studenten, die in diesen Kursen unterrichten,
identisch mit den Mitgliedern der von Sonnenschein gegründeten sozial-caritativen
Vereinigungen oder stehen diesen doch sehr nahe.

Diese Vereinigungen könnten wir mit reiner Freude als eine gewichtige
Stütze sozialstudentischer Arbeit begrüßen, wenn nicht neben Sozialpolitik, die
zunächst in diesen Vereinigungen getrieben wird, noch "Weltanschauungsfragen"


Sozialstudentischc Bewegung

ein gering gelohnter Arbeiter den Besuch dieser Kurse ermöglichen kann.
Tatsache ist jedoch, daß diese Kurse grade von den hochentlohnten, qualifi¬
zierten Arbeiter»: aufgesucht werden; besonders stark sind z. B. nach allen Berichten
in diesen Kursen die Metallarbeiter vertreten. Es ist das ein gewisser Mangel
der Kurse; denn grade die tiefstehendsten Schichten der Arbeitermassen gilt es
zu erfassen.

Die Wirkung dieser Unterrichtskurse kann man am besten aus den Berichten
der Arbeiter selbst ermessen. In diesem Zusammenhange ist ein Artikel der
„Frankfurter Zeitung" vom 22. Januar 1909 interessant. Er handelt über
eine von der freien Studentenschaft der Akademie für Sozial- und Handels¬
wissenschaften in Frankfurt a. M. gestellte Preisaufgabe, die lautete: „Warum
besuche ich diesen Unterrichtskursus?" Mit innerer Anteilnahme liest man
hier, wie selbst in dem einfachsten Arbeiter sich ein Bildungshunger bemerkbar
macht, eine Sehnsucht nach Kenntnissen, die nach Erfüllung schreit. In der
Befriedigung dieser Sehnsucht, in der Aufnahme neuer Kenntnisse und Vertiefung
der alten liegt mithin der Nutzen der Kurse für den Arbeiter. Den Nutzen
dieser Kurse für den Studenten meißelt mit merkwürdiger Schärfe ein Hörer
heraus, der schreibt: „Es kann den Herren Studenten nichts schaden, wenn sie
näher in das Herz des Proletariers hineinschauen. Sie können sich dann in
späteren Jahren eher ein Urteil über Arbeiterfragen bilden und bleiben vor
einseitigen Ansichten bewahrt."

Derjenige, der die Verhältnisse an unseren Universitäten kennt, wird ihm
sicherlich beipflichten. Es liegt daher im Interesse beider Teile, sowohl der
Arbeiter als auch der Studenten, diese Einrichtungen rege zu benutzen, um so
einen immer breiteren Ausbau zu ermöglichen.

Freilich erscheint ein Ausbau in der Richtung nicht besonders erwünscht,
wie er neuerdings betrieben wird. Unter dem Einflüsse des „Sekretariats sozialer
Studentenarbeit", das seinen Sitz in München-Gladbach hat und als eine
Unterabteilung des „Volksvereins für das katholische Deutschland" von
Dr. Sonnenschein geleitet wird, haben sich nämlich, namentlich in den großen
Industriestädten des Rheinlandes und Westfalens, sogenannte heimatliche Arbeiter¬
kurse gebildet, die sich zu einen: „Westdeutschen Verbände" zusammengeschlossen
haben.

So anerkennenswert auch an sich der soziale Gedanke ist, der diese Ein¬
richtungen ins Leben rief, so bedenklich muß es andererseits stimmen, wenn sich
derartige Kurse unter dem Einflüsse des „Volksvereins" bilden.

In der Tat sind wohl die Studenten, die in diesen Kursen unterrichten,
identisch mit den Mitgliedern der von Sonnenschein gegründeten sozial-caritativen
Vereinigungen oder stehen diesen doch sehr nahe.

Diese Vereinigungen könnten wir mit reiner Freude als eine gewichtige
Stütze sozialstudentischer Arbeit begrüßen, wenn nicht neben Sozialpolitik, die
zunächst in diesen Vereinigungen getrieben wird, noch „Weltanschauungsfragen"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/15>, abgerufen am 03.07.2024.