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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Sozialstndentische Bewegung

um von ihm zu lernen. Die Jugend fühlte, daß der, welcher durch freien
Zugang zu den Wissenschaften so viel von seinem Volke empfangen hat, auch
dem Volke viel schuldet und sich zum Dank eins mit seinem Volke fühlen und
ihm zurückerstatten muß, soviel er kann."

Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt die Bewegung in Deutschland
ziemlich spät ein. So beteiligten sich z. B. in England unter dem Einflüsse
Arnold Tonnbees, schon Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts,
Oxforder Studenten an der sozialen Bewegung, und viel Tränen und Not sind
grade durch sie im Osten Londons gestillt worden. In Schweden wie in
Dänemark bestehen ebenfalls schon seit über zwei Jahrzehnten Studentenvereine,
die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, durch Agitation für Volksbüchereien, durch
Abhaltung von Vorträgen, durch Errichtung von Lesezimmern für Arbeiter die
Gegensätze zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen auszugleichen.

Bedeutend später entwickelt sich eine zielbewußte sozialstudentische Bewegung
in Deutschland. Denn die "Vereine deutscher Studenten", die sich seit
1880 an allen Universitäten ausbreiteten, können mit einer solchen nicht
identifiziert werden, obwohl sie von Anbeginn an sozialen Fragen ihre
Aufmerksamkeit schenkten. Sie behandelten diese aber unter dem Einflüsse
der von ihnen politisch vertretenen Richtung mit einer solchen Einseitigkeit,
daß sie Begründer einer fruchtbaren sozialstudentischen Arbeit nicht wurden.
Eine solche setzt vielmehr erst mit der Begründung akademischer Arbeiter¬
kurse ein. Der erste dieser Kurse wurde im Jahre 1901 von der Wildenschaft
der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ins Leben gerufen. Seitdem haben
sich diese Kurse an allen Universitätsstädten eingebürgert und sind überall mit
großem Interesse und großer Anteilnahme begrüßt worden. Seit einer Anzahl
Semester sind diese Kurse in der "Zentralstelle der Akademischen Arbeiter¬
unterrichtskurse Deutschlands" zusammengeschlossen. In ihr sind zweiundzwanzig
Hochschulstädte vertreten.

Den Umfang und die Bedeutung dieser Kurse kann man daraus ermessen,
daß im Wintersemester 1908/09 sieben- bis achttausend Arbeiter von fünfhundert
Studenten und Studentinnen unterrichtet wurden.

Gelehrt werden nur Elementarfächer, wie ja auch die Kurse vor allem der
Vervollständigung des Wissens der Arbeiter dienen sollen. Z. B. wurden in Berlin
in: Sommersemester 1909 gelehrt: Deutsch (1. Rechtschreibung; 2. Wortlehre;
3. Satzbau und Interpunktion; 4. Stillehre; 5. Literatur und Aufsatz).
Rechnen (1. die vier Grundrechnungsarten; 2. Dezimalbrüche; 3. Regeldetri,
Prozent- und Zinsrechnung, einfache Buchführung; 4. Arbeiterversicherung).
Geometrie und Algebra (1. Flächenberechnung; 2. Körperberechnung). Geographie
(1. allgemeine Erdkunde; 2. spezielle Länderkunde). Schönschreiben (1. deutsche,
2. lateinische Schrift).

Die Unkosten für den Besuch eines Kursus betragen unter Einschluß der
erforderlichen Lehrbücher ca. 75 Pfennig für den einzelnen, so daß auch


Sozialstndentische Bewegung

um von ihm zu lernen. Die Jugend fühlte, daß der, welcher durch freien
Zugang zu den Wissenschaften so viel von seinem Volke empfangen hat, auch
dem Volke viel schuldet und sich zum Dank eins mit seinem Volke fühlen und
ihm zurückerstatten muß, soviel er kann."

Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt die Bewegung in Deutschland
ziemlich spät ein. So beteiligten sich z. B. in England unter dem Einflüsse
Arnold Tonnbees, schon Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts,
Oxforder Studenten an der sozialen Bewegung, und viel Tränen und Not sind
grade durch sie im Osten Londons gestillt worden. In Schweden wie in
Dänemark bestehen ebenfalls schon seit über zwei Jahrzehnten Studentenvereine,
die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, durch Agitation für Volksbüchereien, durch
Abhaltung von Vorträgen, durch Errichtung von Lesezimmern für Arbeiter die
Gegensätze zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen auszugleichen.

Bedeutend später entwickelt sich eine zielbewußte sozialstudentische Bewegung
in Deutschland. Denn die „Vereine deutscher Studenten", die sich seit
1880 an allen Universitäten ausbreiteten, können mit einer solchen nicht
identifiziert werden, obwohl sie von Anbeginn an sozialen Fragen ihre
Aufmerksamkeit schenkten. Sie behandelten diese aber unter dem Einflüsse
der von ihnen politisch vertretenen Richtung mit einer solchen Einseitigkeit,
daß sie Begründer einer fruchtbaren sozialstudentischen Arbeit nicht wurden.
Eine solche setzt vielmehr erst mit der Begründung akademischer Arbeiter¬
kurse ein. Der erste dieser Kurse wurde im Jahre 1901 von der Wildenschaft
der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ins Leben gerufen. Seitdem haben
sich diese Kurse an allen Universitätsstädten eingebürgert und sind überall mit
großem Interesse und großer Anteilnahme begrüßt worden. Seit einer Anzahl
Semester sind diese Kurse in der „Zentralstelle der Akademischen Arbeiter¬
unterrichtskurse Deutschlands" zusammengeschlossen. In ihr sind zweiundzwanzig
Hochschulstädte vertreten.

Den Umfang und die Bedeutung dieser Kurse kann man daraus ermessen,
daß im Wintersemester 1908/09 sieben- bis achttausend Arbeiter von fünfhundert
Studenten und Studentinnen unterrichtet wurden.

Gelehrt werden nur Elementarfächer, wie ja auch die Kurse vor allem der
Vervollständigung des Wissens der Arbeiter dienen sollen. Z. B. wurden in Berlin
in: Sommersemester 1909 gelehrt: Deutsch (1. Rechtschreibung; 2. Wortlehre;
3. Satzbau und Interpunktion; 4. Stillehre; 5. Literatur und Aufsatz).
Rechnen (1. die vier Grundrechnungsarten; 2. Dezimalbrüche; 3. Regeldetri,
Prozent- und Zinsrechnung, einfache Buchführung; 4. Arbeiterversicherung).
Geometrie und Algebra (1. Flächenberechnung; 2. Körperberechnung). Geographie
(1. allgemeine Erdkunde; 2. spezielle Länderkunde). Schönschreiben (1. deutsche,
2. lateinische Schrift).

Die Unkosten für den Besuch eines Kursus betragen unter Einschluß der
erforderlichen Lehrbücher ca. 75 Pfennig für den einzelnen, so daß auch


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[0014] Sozialstndentische Bewegung um von ihm zu lernen. Die Jugend fühlte, daß der, welcher durch freien Zugang zu den Wissenschaften so viel von seinem Volke empfangen hat, auch dem Volke viel schuldet und sich zum Dank eins mit seinem Volke fühlen und ihm zurückerstatten muß, soviel er kann." Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt die Bewegung in Deutschland ziemlich spät ein. So beteiligten sich z. B. in England unter dem Einflüsse Arnold Tonnbees, schon Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, Oxforder Studenten an der sozialen Bewegung, und viel Tränen und Not sind grade durch sie im Osten Londons gestillt worden. In Schweden wie in Dänemark bestehen ebenfalls schon seit über zwei Jahrzehnten Studentenvereine, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, durch Agitation für Volksbüchereien, durch Abhaltung von Vorträgen, durch Errichtung von Lesezimmern für Arbeiter die Gegensätze zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen auszugleichen. Bedeutend später entwickelt sich eine zielbewußte sozialstudentische Bewegung in Deutschland. Denn die „Vereine deutscher Studenten", die sich seit 1880 an allen Universitäten ausbreiteten, können mit einer solchen nicht identifiziert werden, obwohl sie von Anbeginn an sozialen Fragen ihre Aufmerksamkeit schenkten. Sie behandelten diese aber unter dem Einflüsse der von ihnen politisch vertretenen Richtung mit einer solchen Einseitigkeit, daß sie Begründer einer fruchtbaren sozialstudentischen Arbeit nicht wurden. Eine solche setzt vielmehr erst mit der Begründung akademischer Arbeiter¬ kurse ein. Der erste dieser Kurse wurde im Jahre 1901 von der Wildenschaft der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ins Leben gerufen. Seitdem haben sich diese Kurse an allen Universitätsstädten eingebürgert und sind überall mit großem Interesse und großer Anteilnahme begrüßt worden. Seit einer Anzahl Semester sind diese Kurse in der „Zentralstelle der Akademischen Arbeiter¬ unterrichtskurse Deutschlands" zusammengeschlossen. In ihr sind zweiundzwanzig Hochschulstädte vertreten. Den Umfang und die Bedeutung dieser Kurse kann man daraus ermessen, daß im Wintersemester 1908/09 sieben- bis achttausend Arbeiter von fünfhundert Studenten und Studentinnen unterrichtet wurden. Gelehrt werden nur Elementarfächer, wie ja auch die Kurse vor allem der Vervollständigung des Wissens der Arbeiter dienen sollen. Z. B. wurden in Berlin in: Sommersemester 1909 gelehrt: Deutsch (1. Rechtschreibung; 2. Wortlehre; 3. Satzbau und Interpunktion; 4. Stillehre; 5. Literatur und Aufsatz). Rechnen (1. die vier Grundrechnungsarten; 2. Dezimalbrüche; 3. Regeldetri, Prozent- und Zinsrechnung, einfache Buchführung; 4. Arbeiterversicherung). Geometrie und Algebra (1. Flächenberechnung; 2. Körperberechnung). Geographie (1. allgemeine Erdkunde; 2. spezielle Länderkunde). Schönschreiben (1. deutsche, 2. lateinische Schrift). Die Unkosten für den Besuch eines Kursus betragen unter Einschluß der erforderlichen Lehrbücher ca. 75 Pfennig für den einzelnen, so daß auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/14>, abgerufen am 01.07.2024.