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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Z^ans Meinung

seinen Gegenstand und geleitet von so viel Grazie, daß ihm keiner darin gleich¬
kommt, und daß man an die eben damals fern in Mailand und Venedig
wirkenden Luini und Bellini gemahnt wird. Die heraufziehende große klassische
Zeit hat nicht ihren Schatten, sie hat ihr Licht bereits in die flämischen Fabrik-
nnd Handelsstädte geworfen.

Für Brügge selbst war freilich, was damals wohl erst wenige ahnten, der
Beginn des todesähnlichen Schlafes hereingebrochen, in dem wir es heute noch
kennen. Vor Jahrhunderten war es an einem der Seeschiffahrt zugänglichen
Scheldearm gegründet. Seine Lage war besser als die aller Konkurrenten.
Aber der Strom versandete. Im dreizehnten Jahrhundert baute Brügge einen
Kanal nach dem Städtchen Damme und sicherte sich damit seinen Verkehr bis
in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Dann war auch Damme der
Versandung zum Opfer gefallen. Mit Riesenanstrengung baute Brügge einen
andern Kanal, und zwar nach Sluis. Es schien das Schicksal bezwungen zu
haben. Doch nach fünfzig Jahren war das Fahrwasser auch von Sluis nach
der See so schlecht geworden, daß man den Kampf aufgab. Um 1480 siedelten
die Gilden fremder Kaufleute nach Antwerpen über; unter ihnen die geachtetste
von allen, die der deutschen Hansa. Die Schiffe blieben nnn aus, es wurde
still in den sonst von blühendem Leben erfüllten Straßen. Doch behielt der
Reichtum noch lange seinen Wohnsitz hier. Die alten Familien wollten die
Stätte ihrer Väter nicht verlassen, und deren Wohnhäuser und Kirchen bereicherten
sich noch später um manches herrliche Werk, um das gedeihende Gemeinwesen
sie beneiden, darunter ein unschätzbares Unikum, die marmorne Madonna mit
dem Kinde von Michelangelo.

In diese Zeit fällt die Verbindung Memlings mit dein Johannes-Hospital,
die zu der erwähnten Legende den Anlaß gegeben hat, über deren nähere Natur
wir jedoch nichts wissen. Das Johannes-Hospital ist so recht ein Punkt, wo
wir Alt-Brügge noch heute vor uns haben. Die heute freilich verödete Straße
führt über einen der vielen Kanäle, die die Stadt durchziehen. Auf dem
schweigenden, von blühendem Hollunder überragten Wasser ziehen Schwäne leise
dahin. Am Ufer liegt ein kirchenähnlicher Bau in gotischen Formen. Es dient
jedoch einem andern frommen Zweck, denn es ist der Krankenpflege gewidmet,
und zwar schon seit Memlings Zeit. Nur hat sich, dem Hospitalwesen unserer
Zeit entsprechend, ein Saal an den andern, eine Baracke an die andre geschlossen,
so daß die ärztliche Kunst völlig zu ihrem Rechte kommt. Man schreitet durch
mehrere Gänge und macht endlich in einem kleinen, unscheinbaren Raume Halt,
einem stillen, aber hohen Heiligtum der Kunst, dem ehemaligen Kapitelsaal des
Johannes-Hospitals. Hier sind außer einigen ältern und jüngern Bildern der
beiden belgischen Schulen sechs Werke Memlings, von denen wenigstens fünf
als echt gelten. Und unter ihnen ist eins wohl das holdeste von allen, mit
denen der liebenswürdige Meister die Welt beschenkt hat, das aus acht einzelnen
Gemälden besteht, die im Zierat sitzenden Engel und sonstigen Bildchen


Z^ans Meinung

seinen Gegenstand und geleitet von so viel Grazie, daß ihm keiner darin gleich¬
kommt, und daß man an die eben damals fern in Mailand und Venedig
wirkenden Luini und Bellini gemahnt wird. Die heraufziehende große klassische
Zeit hat nicht ihren Schatten, sie hat ihr Licht bereits in die flämischen Fabrik-
nnd Handelsstädte geworfen.

Für Brügge selbst war freilich, was damals wohl erst wenige ahnten, der
Beginn des todesähnlichen Schlafes hereingebrochen, in dem wir es heute noch
kennen. Vor Jahrhunderten war es an einem der Seeschiffahrt zugänglichen
Scheldearm gegründet. Seine Lage war besser als die aller Konkurrenten.
Aber der Strom versandete. Im dreizehnten Jahrhundert baute Brügge einen
Kanal nach dem Städtchen Damme und sicherte sich damit seinen Verkehr bis
in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Dann war auch Damme der
Versandung zum Opfer gefallen. Mit Riesenanstrengung baute Brügge einen
andern Kanal, und zwar nach Sluis. Es schien das Schicksal bezwungen zu
haben. Doch nach fünfzig Jahren war das Fahrwasser auch von Sluis nach
der See so schlecht geworden, daß man den Kampf aufgab. Um 1480 siedelten
die Gilden fremder Kaufleute nach Antwerpen über; unter ihnen die geachtetste
von allen, die der deutschen Hansa. Die Schiffe blieben nnn aus, es wurde
still in den sonst von blühendem Leben erfüllten Straßen. Doch behielt der
Reichtum noch lange seinen Wohnsitz hier. Die alten Familien wollten die
Stätte ihrer Väter nicht verlassen, und deren Wohnhäuser und Kirchen bereicherten
sich noch später um manches herrliche Werk, um das gedeihende Gemeinwesen
sie beneiden, darunter ein unschätzbares Unikum, die marmorne Madonna mit
dem Kinde von Michelangelo.

In diese Zeit fällt die Verbindung Memlings mit dein Johannes-Hospital,
die zu der erwähnten Legende den Anlaß gegeben hat, über deren nähere Natur
wir jedoch nichts wissen. Das Johannes-Hospital ist so recht ein Punkt, wo
wir Alt-Brügge noch heute vor uns haben. Die heute freilich verödete Straße
führt über einen der vielen Kanäle, die die Stadt durchziehen. Auf dem
schweigenden, von blühendem Hollunder überragten Wasser ziehen Schwäne leise
dahin. Am Ufer liegt ein kirchenähnlicher Bau in gotischen Formen. Es dient
jedoch einem andern frommen Zweck, denn es ist der Krankenpflege gewidmet,
und zwar schon seit Memlings Zeit. Nur hat sich, dem Hospitalwesen unserer
Zeit entsprechend, ein Saal an den andern, eine Baracke an die andre geschlossen,
so daß die ärztliche Kunst völlig zu ihrem Rechte kommt. Man schreitet durch
mehrere Gänge und macht endlich in einem kleinen, unscheinbaren Raume Halt,
einem stillen, aber hohen Heiligtum der Kunst, dem ehemaligen Kapitelsaal des
Johannes-Hospitals. Hier sind außer einigen ältern und jüngern Bildern der
beiden belgischen Schulen sechs Werke Memlings, von denen wenigstens fünf
als echt gelten. Und unter ihnen ist eins wohl das holdeste von allen, mit
denen der liebenswürdige Meister die Welt beschenkt hat, das aus acht einzelnen
Gemälden besteht, die im Zierat sitzenden Engel und sonstigen Bildchen


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[0142] Z^ans Meinung seinen Gegenstand und geleitet von so viel Grazie, daß ihm keiner darin gleich¬ kommt, und daß man an die eben damals fern in Mailand und Venedig wirkenden Luini und Bellini gemahnt wird. Die heraufziehende große klassische Zeit hat nicht ihren Schatten, sie hat ihr Licht bereits in die flämischen Fabrik- nnd Handelsstädte geworfen. Für Brügge selbst war freilich, was damals wohl erst wenige ahnten, der Beginn des todesähnlichen Schlafes hereingebrochen, in dem wir es heute noch kennen. Vor Jahrhunderten war es an einem der Seeschiffahrt zugänglichen Scheldearm gegründet. Seine Lage war besser als die aller Konkurrenten. Aber der Strom versandete. Im dreizehnten Jahrhundert baute Brügge einen Kanal nach dem Städtchen Damme und sicherte sich damit seinen Verkehr bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Dann war auch Damme der Versandung zum Opfer gefallen. Mit Riesenanstrengung baute Brügge einen andern Kanal, und zwar nach Sluis. Es schien das Schicksal bezwungen zu haben. Doch nach fünfzig Jahren war das Fahrwasser auch von Sluis nach der See so schlecht geworden, daß man den Kampf aufgab. Um 1480 siedelten die Gilden fremder Kaufleute nach Antwerpen über; unter ihnen die geachtetste von allen, die der deutschen Hansa. Die Schiffe blieben nnn aus, es wurde still in den sonst von blühendem Leben erfüllten Straßen. Doch behielt der Reichtum noch lange seinen Wohnsitz hier. Die alten Familien wollten die Stätte ihrer Väter nicht verlassen, und deren Wohnhäuser und Kirchen bereicherten sich noch später um manches herrliche Werk, um das gedeihende Gemeinwesen sie beneiden, darunter ein unschätzbares Unikum, die marmorne Madonna mit dem Kinde von Michelangelo. In diese Zeit fällt die Verbindung Memlings mit dein Johannes-Hospital, die zu der erwähnten Legende den Anlaß gegeben hat, über deren nähere Natur wir jedoch nichts wissen. Das Johannes-Hospital ist so recht ein Punkt, wo wir Alt-Brügge noch heute vor uns haben. Die heute freilich verödete Straße führt über einen der vielen Kanäle, die die Stadt durchziehen. Auf dem schweigenden, von blühendem Hollunder überragten Wasser ziehen Schwäne leise dahin. Am Ufer liegt ein kirchenähnlicher Bau in gotischen Formen. Es dient jedoch einem andern frommen Zweck, denn es ist der Krankenpflege gewidmet, und zwar schon seit Memlings Zeit. Nur hat sich, dem Hospitalwesen unserer Zeit entsprechend, ein Saal an den andern, eine Baracke an die andre geschlossen, so daß die ärztliche Kunst völlig zu ihrem Rechte kommt. Man schreitet durch mehrere Gänge und macht endlich in einem kleinen, unscheinbaren Raume Halt, einem stillen, aber hohen Heiligtum der Kunst, dem ehemaligen Kapitelsaal des Johannes-Hospitals. Hier sind außer einigen ältern und jüngern Bildern der beiden belgischen Schulen sechs Werke Memlings, von denen wenigstens fünf als echt gelten. Und unter ihnen ist eins wohl das holdeste von allen, mit denen der liebenswürdige Meister die Welt beschenkt hat, das aus acht einzelnen Gemälden besteht, die im Zierat sitzenden Engel und sonstigen Bildchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/142>, abgerufen am 23.07.2024.