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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Lcnatorcnrcvisicm in Turkestan

in denen sie unter dem Schutz der schneebedeckten Bergriesen die Sonunermonate
verbringen, wenn die wahnsinnige Hitze Turkestan in einen riesigen Glutofen
verwandelt. Eine zweistündige Wagenfahrt brachte uns auf einer uralten
Karawanenstraße, die schon Alexander der Große nach Samarkand benutzt hatte,
an unser Ziel. Ungefähr halbwegs durchschneidet ein viele Jahrtausende alter
Kanal die weite Steppe. Das Wasser hat sich tief in den Lößboden hinein¬
gegraben und so ist hier im Laufe der Zeit eine mächtige, höhlenreiche Schlucht
entstanden, über die eine alte Brücke, die "Teufelsbrücke", hinüberführt. Als
wir uns ihr bei unserer Rückkehr im Dämmerlicht näherten, wurden unsere
Gastfreunde unruhig, sie ließen die Wagen halten und nun warteten wir, bis
sich noch eine Reihe anderer Gefährte eingefunden hatte. Voll Spannung
passierten wir dann gemeinsam die Teufelsschlucht. Den Grund für diese auf¬
regende Behutsamkeit erfuhren wir erst, als wir die furchteinflößende Schlucht
im Rücken hatten. In ihr halten sich nämlich zuweilen Räuber auf, die vom
sicheren Versteck aus die Vorüberkommenden überfallen und berauben. Diese
Wegelagerer sind nun nicht etwa einheimische Verbrecher, sondern -- Herren
der besten Samarkander Gesellschaft, uniformierte Stützen von Thron und Altar,
die hier mit Masken vor den Gesichtern den Reisenden auflauern. Besonders
haben sie es auf die wohlgefüllten Börsen der Führer von Kamelkarawanen
abgesehen, die nach Verkauf ihrer Waren in der Stadt zu ihrer Heimat, Buchara,
Afghanistan oder Indien, zurückkehren. Dies habe ich von hochangesehenen
Russen gehört, die seit fast zwanzig Jahren in Samarkand wohnen und
daher mit allen Verhältnisieu der Stadt aufs genaueste vertraut sind. Man
erlebt hier also das beschämende Schauspiel, daß russische Beamte als ganz
gemeine Straßenräuber die Eingeborenen überfallen, und das dicht vor den
Toren einer der größten und blühendsten Städte des ganzen Landes, deren mächtiges
Beamtenheer und deren starke Garnison die "Kulturträger im Barbarenlande"
spielen und als Hüter der staatlichen Ordnung berufen wären, das Prestige des
russischen Imperiums aufrecht zu erhalten.

Hat man von diesen Beispielen einer verrotteten Beamtenwirtschaft noch
nicht genug, so lese man den offiziellen Bericht des Grafen Pahlen über seine
Revision in Turkestan, der vor kurzen, veröffentlicht worden ist. Aus ihm ergibt
sich, wie die "Se. Peterburger Zeitung" schrieb, "die wahrhaft erschütternde
Charakteristik eines unter brutaler Beamtenwillkür seufzenden großen Landesteils".
Sehen wir von allen anderen Behörden ab und greifen wir nur den Bericht
über die Tätigkeit der Polizeimeister heraus, so bringt uns die Menge der
Fälle von unrechtmäßigen Erwerb, Bestechlichkeit, Unterschlagung, Kompetenz¬
überschreitung und Ignorierung amtlicher Pflichten und ministerieller Anordnungen
zu der Überzeugung, daß dem gesamten Polizeiorganismus des Landes der
Hang zum Verbreche,: vollständig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wie
sich die Beamten Turkestans den Verfügungen aus Se. Petersburg gegenüber
An verhalten pflegen, zeigt sehr deutlich ein Beispiel aus Ashabat: den Befehl


Lcnatorcnrcvisicm in Turkestan

in denen sie unter dem Schutz der schneebedeckten Bergriesen die Sonunermonate
verbringen, wenn die wahnsinnige Hitze Turkestan in einen riesigen Glutofen
verwandelt. Eine zweistündige Wagenfahrt brachte uns auf einer uralten
Karawanenstraße, die schon Alexander der Große nach Samarkand benutzt hatte,
an unser Ziel. Ungefähr halbwegs durchschneidet ein viele Jahrtausende alter
Kanal die weite Steppe. Das Wasser hat sich tief in den Lößboden hinein¬
gegraben und so ist hier im Laufe der Zeit eine mächtige, höhlenreiche Schlucht
entstanden, über die eine alte Brücke, die „Teufelsbrücke", hinüberführt. Als
wir uns ihr bei unserer Rückkehr im Dämmerlicht näherten, wurden unsere
Gastfreunde unruhig, sie ließen die Wagen halten und nun warteten wir, bis
sich noch eine Reihe anderer Gefährte eingefunden hatte. Voll Spannung
passierten wir dann gemeinsam die Teufelsschlucht. Den Grund für diese auf¬
regende Behutsamkeit erfuhren wir erst, als wir die furchteinflößende Schlucht
im Rücken hatten. In ihr halten sich nämlich zuweilen Räuber auf, die vom
sicheren Versteck aus die Vorüberkommenden überfallen und berauben. Diese
Wegelagerer sind nun nicht etwa einheimische Verbrecher, sondern — Herren
der besten Samarkander Gesellschaft, uniformierte Stützen von Thron und Altar,
die hier mit Masken vor den Gesichtern den Reisenden auflauern. Besonders
haben sie es auf die wohlgefüllten Börsen der Führer von Kamelkarawanen
abgesehen, die nach Verkauf ihrer Waren in der Stadt zu ihrer Heimat, Buchara,
Afghanistan oder Indien, zurückkehren. Dies habe ich von hochangesehenen
Russen gehört, die seit fast zwanzig Jahren in Samarkand wohnen und
daher mit allen Verhältnisieu der Stadt aufs genaueste vertraut sind. Man
erlebt hier also das beschämende Schauspiel, daß russische Beamte als ganz
gemeine Straßenräuber die Eingeborenen überfallen, und das dicht vor den
Toren einer der größten und blühendsten Städte des ganzen Landes, deren mächtiges
Beamtenheer und deren starke Garnison die „Kulturträger im Barbarenlande"
spielen und als Hüter der staatlichen Ordnung berufen wären, das Prestige des
russischen Imperiums aufrecht zu erhalten.

Hat man von diesen Beispielen einer verrotteten Beamtenwirtschaft noch
nicht genug, so lese man den offiziellen Bericht des Grafen Pahlen über seine
Revision in Turkestan, der vor kurzen, veröffentlicht worden ist. Aus ihm ergibt
sich, wie die „Se. Peterburger Zeitung" schrieb, „die wahrhaft erschütternde
Charakteristik eines unter brutaler Beamtenwillkür seufzenden großen Landesteils".
Sehen wir von allen anderen Behörden ab und greifen wir nur den Bericht
über die Tätigkeit der Polizeimeister heraus, so bringt uns die Menge der
Fälle von unrechtmäßigen Erwerb, Bestechlichkeit, Unterschlagung, Kompetenz¬
überschreitung und Ignorierung amtlicher Pflichten und ministerieller Anordnungen
zu der Überzeugung, daß dem gesamten Polizeiorganismus des Landes der
Hang zum Verbreche,: vollständig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wie
sich die Beamten Turkestans den Verfügungen aus Se. Petersburg gegenüber
An verhalten pflegen, zeigt sehr deutlich ein Beispiel aus Ashabat: den Befehl


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[0571] Lcnatorcnrcvisicm in Turkestan in denen sie unter dem Schutz der schneebedeckten Bergriesen die Sonunermonate verbringen, wenn die wahnsinnige Hitze Turkestan in einen riesigen Glutofen verwandelt. Eine zweistündige Wagenfahrt brachte uns auf einer uralten Karawanenstraße, die schon Alexander der Große nach Samarkand benutzt hatte, an unser Ziel. Ungefähr halbwegs durchschneidet ein viele Jahrtausende alter Kanal die weite Steppe. Das Wasser hat sich tief in den Lößboden hinein¬ gegraben und so ist hier im Laufe der Zeit eine mächtige, höhlenreiche Schlucht entstanden, über die eine alte Brücke, die „Teufelsbrücke", hinüberführt. Als wir uns ihr bei unserer Rückkehr im Dämmerlicht näherten, wurden unsere Gastfreunde unruhig, sie ließen die Wagen halten und nun warteten wir, bis sich noch eine Reihe anderer Gefährte eingefunden hatte. Voll Spannung passierten wir dann gemeinsam die Teufelsschlucht. Den Grund für diese auf¬ regende Behutsamkeit erfuhren wir erst, als wir die furchteinflößende Schlucht im Rücken hatten. In ihr halten sich nämlich zuweilen Räuber auf, die vom sicheren Versteck aus die Vorüberkommenden überfallen und berauben. Diese Wegelagerer sind nun nicht etwa einheimische Verbrecher, sondern — Herren der besten Samarkander Gesellschaft, uniformierte Stützen von Thron und Altar, die hier mit Masken vor den Gesichtern den Reisenden auflauern. Besonders haben sie es auf die wohlgefüllten Börsen der Führer von Kamelkarawanen abgesehen, die nach Verkauf ihrer Waren in der Stadt zu ihrer Heimat, Buchara, Afghanistan oder Indien, zurückkehren. Dies habe ich von hochangesehenen Russen gehört, die seit fast zwanzig Jahren in Samarkand wohnen und daher mit allen Verhältnisieu der Stadt aufs genaueste vertraut sind. Man erlebt hier also das beschämende Schauspiel, daß russische Beamte als ganz gemeine Straßenräuber die Eingeborenen überfallen, und das dicht vor den Toren einer der größten und blühendsten Städte des ganzen Landes, deren mächtiges Beamtenheer und deren starke Garnison die „Kulturträger im Barbarenlande" spielen und als Hüter der staatlichen Ordnung berufen wären, das Prestige des russischen Imperiums aufrecht zu erhalten. Hat man von diesen Beispielen einer verrotteten Beamtenwirtschaft noch nicht genug, so lese man den offiziellen Bericht des Grafen Pahlen über seine Revision in Turkestan, der vor kurzen, veröffentlicht worden ist. Aus ihm ergibt sich, wie die „Se. Peterburger Zeitung" schrieb, „die wahrhaft erschütternde Charakteristik eines unter brutaler Beamtenwillkür seufzenden großen Landesteils". Sehen wir von allen anderen Behörden ab und greifen wir nur den Bericht über die Tätigkeit der Polizeimeister heraus, so bringt uns die Menge der Fälle von unrechtmäßigen Erwerb, Bestechlichkeit, Unterschlagung, Kompetenz¬ überschreitung und Ignorierung amtlicher Pflichten und ministerieller Anordnungen zu der Überzeugung, daß dem gesamten Polizeiorganismus des Landes der Hang zum Verbreche,: vollständig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wie sich die Beamten Turkestans den Verfügungen aus Se. Petersburg gegenüber An verhalten pflegen, zeigt sehr deutlich ein Beispiel aus Ashabat: den Befehl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/571>, abgerufen am 01.07.2024.