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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über Lichtenbergs Skeptizismus

er, daß er das "Ehe dem: die Berge worden" nie ohne ein "erhabenes,
unbeschreibliches Gefühl" lesen könne, und mit komischem Akzent sagt er: "Ich
würde es vergeblich versuchen, mit Worten auszudrücken, was ich empfinde,
wenn ich an einem stillen Abend "In allen meinen Taten usw." recht gut pfeife
und mir den Text dazu denke."

Von der Freiheit sagt er kantisch, sie sei ein "großer Gedanke" und die
"bequemste Form", sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu
denken, fügt aber vom spinozistischen Gesichtspunkt aus hinzu: obgleich der
Mensch gewiß nicht frei sei; denn: vor Gott gebe es eigentlich nur eine Regel.
Ein Aphorismus von ihm heißt: "Das Ja mit dem Kopfschütteln und das
Nein mit dein Kopfnicken wird einem sehr schwer, bekommt aber doch nachher
eine eigene Bedeutung, wenn man es kann." Man könnte diese Worte auf sein
Verhältnis zum Probleni der Willensfreiheit anwenden.

Er hatte den Glauben an eine Vernunft im Weltall und an eine feine,
uns Menschen nur lückenhaft erkennbare Ökonomie in allen Wirkungen der Natur,
ohne daß er jedoch, wie Hegel, gewagt hätte, sie in jedem Einzelnen als nach¬
weisbar zu behaupten. Und ebensowenig würde er Darwins Teleologie in ihrem
ganzen Umfange zugestimmt haben.

Die Zweckmäßigkeit war ihm wie Kant eine notwendige, praktische, regulative
Idee, deren der Mensch bedarf, wenn er Zusammenhänge in sein Denken über
die Natur bringen und planmäßig, d. h. vernünftig handeln will. Oft macht
er sich über die Verstocktheit und Voreingenommenheit der Menschen lustig, die
auch die erkennbaren "Absichten" der Natur zu ihrem Schaden verkehrten und
plump ausbeuteten. Er meinte, man müsse geduldig schauen und beobachten, wenn
man der Natur etwas abgewinnen wolle, und mit feiner Ironie verzeichnet
er die Fälle, wo die Natur sich gleichsam über die Torheit und den Aberwitz
der Menschen lustig macht. Lieber die glänzendste Theorie fallen lassen, so dachte
er, als sich von ihrer Tyrannei an der reinen Aufnahme des -- im letzten
Grunde für den Verstand ja immer unfaßbarer -- wirklichen Einzelfalles
beeinträchtigen zu lassen.

Das Einzelne war so recht die Liebe Lichtenbergs; er sah das Besondere,
das Wunderbare auch im Alltäglichen und nächstliegenden. "Je näher wir
einem Gegenstand in der Natur kommen, desto unbegreiflicher wird er." Er
bemerkt Beziehungen, Zusammenhänge, die man täglich vor Augen hat, die man
vielleicht sogar benützt, über die man aber so wenig nachgedacht hat, daß einem
etwas der Reflexion und Bewunderung Wertes daran gar nicht aufgefallen ist.
So kommt es z. B., daß er die Tatsache, daß sich in der deutschen Sprache
"Geld" auf "Welt" reimt -- scheinbar mit einer gewissen Vernunft --, der
Aufzeichnung für wert hält.

Bekannt ist auch sein Mißtrauen gegen das zu viele Lesen. "Man kann
nicht leicht über zuvielerlei denken, aber wohl über zuvielerlei lesen", meint er,
-- mit dein Lesen sei es umgekehrt wie mit den: Denken: "Ich breite mich aus,


Über Lichtenbergs Skeptizismus

er, daß er das „Ehe dem: die Berge worden" nie ohne ein „erhabenes,
unbeschreibliches Gefühl" lesen könne, und mit komischem Akzent sagt er: „Ich
würde es vergeblich versuchen, mit Worten auszudrücken, was ich empfinde,
wenn ich an einem stillen Abend „In allen meinen Taten usw." recht gut pfeife
und mir den Text dazu denke."

Von der Freiheit sagt er kantisch, sie sei ein „großer Gedanke" und die
„bequemste Form", sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu
denken, fügt aber vom spinozistischen Gesichtspunkt aus hinzu: obgleich der
Mensch gewiß nicht frei sei; denn: vor Gott gebe es eigentlich nur eine Regel.
Ein Aphorismus von ihm heißt: „Das Ja mit dem Kopfschütteln und das
Nein mit dein Kopfnicken wird einem sehr schwer, bekommt aber doch nachher
eine eigene Bedeutung, wenn man es kann." Man könnte diese Worte auf sein
Verhältnis zum Probleni der Willensfreiheit anwenden.

Er hatte den Glauben an eine Vernunft im Weltall und an eine feine,
uns Menschen nur lückenhaft erkennbare Ökonomie in allen Wirkungen der Natur,
ohne daß er jedoch, wie Hegel, gewagt hätte, sie in jedem Einzelnen als nach¬
weisbar zu behaupten. Und ebensowenig würde er Darwins Teleologie in ihrem
ganzen Umfange zugestimmt haben.

Die Zweckmäßigkeit war ihm wie Kant eine notwendige, praktische, regulative
Idee, deren der Mensch bedarf, wenn er Zusammenhänge in sein Denken über
die Natur bringen und planmäßig, d. h. vernünftig handeln will. Oft macht
er sich über die Verstocktheit und Voreingenommenheit der Menschen lustig, die
auch die erkennbaren „Absichten" der Natur zu ihrem Schaden verkehrten und
plump ausbeuteten. Er meinte, man müsse geduldig schauen und beobachten, wenn
man der Natur etwas abgewinnen wolle, und mit feiner Ironie verzeichnet
er die Fälle, wo die Natur sich gleichsam über die Torheit und den Aberwitz
der Menschen lustig macht. Lieber die glänzendste Theorie fallen lassen, so dachte
er, als sich von ihrer Tyrannei an der reinen Aufnahme des — im letzten
Grunde für den Verstand ja immer unfaßbarer — wirklichen Einzelfalles
beeinträchtigen zu lassen.

Das Einzelne war so recht die Liebe Lichtenbergs; er sah das Besondere,
das Wunderbare auch im Alltäglichen und nächstliegenden. „Je näher wir
einem Gegenstand in der Natur kommen, desto unbegreiflicher wird er." Er
bemerkt Beziehungen, Zusammenhänge, die man täglich vor Augen hat, die man
vielleicht sogar benützt, über die man aber so wenig nachgedacht hat, daß einem
etwas der Reflexion und Bewunderung Wertes daran gar nicht aufgefallen ist.
So kommt es z. B., daß er die Tatsache, daß sich in der deutschen Sprache
„Geld" auf „Welt" reimt — scheinbar mit einer gewissen Vernunft —, der
Aufzeichnung für wert hält.

Bekannt ist auch sein Mißtrauen gegen das zu viele Lesen. „Man kann
nicht leicht über zuvielerlei denken, aber wohl über zuvielerlei lesen", meint er,
— mit dein Lesen sei es umgekehrt wie mit den: Denken: „Ich breite mich aus,


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[0563] Über Lichtenbergs Skeptizismus er, daß er das „Ehe dem: die Berge worden" nie ohne ein „erhabenes, unbeschreibliches Gefühl" lesen könne, und mit komischem Akzent sagt er: „Ich würde es vergeblich versuchen, mit Worten auszudrücken, was ich empfinde, wenn ich an einem stillen Abend „In allen meinen Taten usw." recht gut pfeife und mir den Text dazu denke." Von der Freiheit sagt er kantisch, sie sei ein „großer Gedanke" und die „bequemste Form", sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu denken, fügt aber vom spinozistischen Gesichtspunkt aus hinzu: obgleich der Mensch gewiß nicht frei sei; denn: vor Gott gebe es eigentlich nur eine Regel. Ein Aphorismus von ihm heißt: „Das Ja mit dem Kopfschütteln und das Nein mit dein Kopfnicken wird einem sehr schwer, bekommt aber doch nachher eine eigene Bedeutung, wenn man es kann." Man könnte diese Worte auf sein Verhältnis zum Probleni der Willensfreiheit anwenden. Er hatte den Glauben an eine Vernunft im Weltall und an eine feine, uns Menschen nur lückenhaft erkennbare Ökonomie in allen Wirkungen der Natur, ohne daß er jedoch, wie Hegel, gewagt hätte, sie in jedem Einzelnen als nach¬ weisbar zu behaupten. Und ebensowenig würde er Darwins Teleologie in ihrem ganzen Umfange zugestimmt haben. Die Zweckmäßigkeit war ihm wie Kant eine notwendige, praktische, regulative Idee, deren der Mensch bedarf, wenn er Zusammenhänge in sein Denken über die Natur bringen und planmäßig, d. h. vernünftig handeln will. Oft macht er sich über die Verstocktheit und Voreingenommenheit der Menschen lustig, die auch die erkennbaren „Absichten" der Natur zu ihrem Schaden verkehrten und plump ausbeuteten. Er meinte, man müsse geduldig schauen und beobachten, wenn man der Natur etwas abgewinnen wolle, und mit feiner Ironie verzeichnet er die Fälle, wo die Natur sich gleichsam über die Torheit und den Aberwitz der Menschen lustig macht. Lieber die glänzendste Theorie fallen lassen, so dachte er, als sich von ihrer Tyrannei an der reinen Aufnahme des — im letzten Grunde für den Verstand ja immer unfaßbarer — wirklichen Einzelfalles beeinträchtigen zu lassen. Das Einzelne war so recht die Liebe Lichtenbergs; er sah das Besondere, das Wunderbare auch im Alltäglichen und nächstliegenden. „Je näher wir einem Gegenstand in der Natur kommen, desto unbegreiflicher wird er." Er bemerkt Beziehungen, Zusammenhänge, die man täglich vor Augen hat, die man vielleicht sogar benützt, über die man aber so wenig nachgedacht hat, daß einem etwas der Reflexion und Bewunderung Wertes daran gar nicht aufgefallen ist. So kommt es z. B., daß er die Tatsache, daß sich in der deutschen Sprache „Geld" auf „Welt" reimt — scheinbar mit einer gewissen Vernunft —, der Aufzeichnung für wert hält. Bekannt ist auch sein Mißtrauen gegen das zu viele Lesen. „Man kann nicht leicht über zuvielerlei denken, aber wohl über zuvielerlei lesen", meint er, — mit dein Lesen sei es umgekehrt wie mit den: Denken: „Ich breite mich aus,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/563>, abgerufen am 01.07.2024.