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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über Lichtonbcrgs Skeptizismus

ihm die Distanz zu den Dingen und damit die leichte Ausdrucksfähigkeit, er
schützte ihn vor Einseitigkeit und Verbohrung und machte ihn letzten Endes zum
Manne von Welt- und Menschenkenntnis.

Ein solch praktischer, aller theoretischen Haarspalterei und Befangenheit
abholder Geist konnte die Spezialisten der Fachwissenschaften nicht überschätzen,
so sehr er auch gründliche Kenntnisse zu fordern pflegte. Aber die nur Nur-
Fachmänner bedauerte er, weil ihnen so viel in der Welt entgehe. Und von
der Vielwisserei urteilt er scharf: "Die Gelehrsamkeit kann auch im Laub treiben,
ohne Früchte zu tragen. Man findet oft sehr seichte Köpfe, die zum Erstaunen
viel wissen. Was man sich selbst erfinden muß, läßt im Verstände die Bahn
zurück, die auch bei einer anderen Gelegenheit gebraucht werden kann."

Ebenso dachte er über praktische Philosophie (eine andere gab es für ihn
nicht); hier drang er auf brauchbare Anfänge, Hypothesen, und findet das
Suchen von ersten Ursachen schon unphilosophisch. "Die gar subtilen Männer
sind selten große Männer", und weiter: "So wie der Tanzmeister und Fecht¬
meister nicht von der Anatomie der Beine und Hände anfangen, so läßt sich
gesunde, brauchbare Philosophie auch viel höher, als jene Grübeleien, anfangen.
Der Fuß muß so gestellt werden, denn sonst würde man fallen, und, dieses
muß man glauben, denn es wäre absurd, es nicht zu glauben -- sind sehr gute
Fundamente."

Mit großer Achtung spricht er von der Mathematik, weil man bei ihr am
meisten vor dem Jndifferentismus geschützt und ihre Evidenz irr Vergleich zu
der Physik und Biologie größer ist. In einem seiner witzigen Aufsätze, der
heute noch zeitgemäß ist, spricht er voll Laune "von dem Nutzen, den die
Mathematik einem Bel-Esprit bringen kann".

Der geschichtlichen Überlieferung durch das Wort stand er sehr mißtrauisch
und sprachkritisch gegenüber. Er kam hierbei schon zu ähnlichen radikalen
Reflexionen und Thesen über das Wesen der historischen Rekonstruktion see¬
lischer Zusammenhänge, wie sie Georg Simmel in seinen "Grundproblemen der
Geschichtsphilosophie" formuliert hat. "Die Tradition nimmt etwas von jedem
Munde an, durch den sie läuft, und kann endlich eine Sache so verstellen, daß
sie unkenntlich wird. Es ist allemal eine Übersetzung." Lessings Grundmotiv
in seinen theologischen Kämpfen: der Buchstabe ist nicht der Geist, war auch
der Hauptsatz seiner Geschichtsphilosophie.

In der Ethik hat Lichtenberg sich zum "geläuterten Spinozismus" bekannt.
Einmal zog ihn Spinozas Versuch an, eine Gesetzmäßigkeit im Weltall nach¬
zuweisen, und dann war die Ehrfurcht vor einem Größeren, wie sie aus der
Ethik Spinozas so gewaltig spricht, seinem Gemüte sympathisch. Denn, obgleich
er kein Freund der sentimentalen Dichterprodukte seiner Zeit war, z. B. über
Goethes "Werther" ebenso urteilte wie Lessing, auch gegen religiöse Schwärmerei
der Ziehen und Lavater streng genug vorging, so war er religiöser Erhebung
doch wohl fähig. In den "Betrachtungen des Verfassers über sich selbst" erzählt


Über Lichtonbcrgs Skeptizismus

ihm die Distanz zu den Dingen und damit die leichte Ausdrucksfähigkeit, er
schützte ihn vor Einseitigkeit und Verbohrung und machte ihn letzten Endes zum
Manne von Welt- und Menschenkenntnis.

Ein solch praktischer, aller theoretischen Haarspalterei und Befangenheit
abholder Geist konnte die Spezialisten der Fachwissenschaften nicht überschätzen,
so sehr er auch gründliche Kenntnisse zu fordern pflegte. Aber die nur Nur-
Fachmänner bedauerte er, weil ihnen so viel in der Welt entgehe. Und von
der Vielwisserei urteilt er scharf: „Die Gelehrsamkeit kann auch im Laub treiben,
ohne Früchte zu tragen. Man findet oft sehr seichte Köpfe, die zum Erstaunen
viel wissen. Was man sich selbst erfinden muß, läßt im Verstände die Bahn
zurück, die auch bei einer anderen Gelegenheit gebraucht werden kann."

Ebenso dachte er über praktische Philosophie (eine andere gab es für ihn
nicht); hier drang er auf brauchbare Anfänge, Hypothesen, und findet das
Suchen von ersten Ursachen schon unphilosophisch. „Die gar subtilen Männer
sind selten große Männer", und weiter: „So wie der Tanzmeister und Fecht¬
meister nicht von der Anatomie der Beine und Hände anfangen, so läßt sich
gesunde, brauchbare Philosophie auch viel höher, als jene Grübeleien, anfangen.
Der Fuß muß so gestellt werden, denn sonst würde man fallen, und, dieses
muß man glauben, denn es wäre absurd, es nicht zu glauben — sind sehr gute
Fundamente."

Mit großer Achtung spricht er von der Mathematik, weil man bei ihr am
meisten vor dem Jndifferentismus geschützt und ihre Evidenz irr Vergleich zu
der Physik und Biologie größer ist. In einem seiner witzigen Aufsätze, der
heute noch zeitgemäß ist, spricht er voll Laune „von dem Nutzen, den die
Mathematik einem Bel-Esprit bringen kann".

Der geschichtlichen Überlieferung durch das Wort stand er sehr mißtrauisch
und sprachkritisch gegenüber. Er kam hierbei schon zu ähnlichen radikalen
Reflexionen und Thesen über das Wesen der historischen Rekonstruktion see¬
lischer Zusammenhänge, wie sie Georg Simmel in seinen „Grundproblemen der
Geschichtsphilosophie" formuliert hat. „Die Tradition nimmt etwas von jedem
Munde an, durch den sie läuft, und kann endlich eine Sache so verstellen, daß
sie unkenntlich wird. Es ist allemal eine Übersetzung." Lessings Grundmotiv
in seinen theologischen Kämpfen: der Buchstabe ist nicht der Geist, war auch
der Hauptsatz seiner Geschichtsphilosophie.

In der Ethik hat Lichtenberg sich zum „geläuterten Spinozismus" bekannt.
Einmal zog ihn Spinozas Versuch an, eine Gesetzmäßigkeit im Weltall nach¬
zuweisen, und dann war die Ehrfurcht vor einem Größeren, wie sie aus der
Ethik Spinozas so gewaltig spricht, seinem Gemüte sympathisch. Denn, obgleich
er kein Freund der sentimentalen Dichterprodukte seiner Zeit war, z. B. über
Goethes „Werther" ebenso urteilte wie Lessing, auch gegen religiöse Schwärmerei
der Ziehen und Lavater streng genug vorging, so war er religiöser Erhebung
doch wohl fähig. In den „Betrachtungen des Verfassers über sich selbst" erzählt


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[0562] Über Lichtonbcrgs Skeptizismus ihm die Distanz zu den Dingen und damit die leichte Ausdrucksfähigkeit, er schützte ihn vor Einseitigkeit und Verbohrung und machte ihn letzten Endes zum Manne von Welt- und Menschenkenntnis. Ein solch praktischer, aller theoretischen Haarspalterei und Befangenheit abholder Geist konnte die Spezialisten der Fachwissenschaften nicht überschätzen, so sehr er auch gründliche Kenntnisse zu fordern pflegte. Aber die nur Nur- Fachmänner bedauerte er, weil ihnen so viel in der Welt entgehe. Und von der Vielwisserei urteilt er scharf: „Die Gelehrsamkeit kann auch im Laub treiben, ohne Früchte zu tragen. Man findet oft sehr seichte Köpfe, die zum Erstaunen viel wissen. Was man sich selbst erfinden muß, läßt im Verstände die Bahn zurück, die auch bei einer anderen Gelegenheit gebraucht werden kann." Ebenso dachte er über praktische Philosophie (eine andere gab es für ihn nicht); hier drang er auf brauchbare Anfänge, Hypothesen, und findet das Suchen von ersten Ursachen schon unphilosophisch. „Die gar subtilen Männer sind selten große Männer", und weiter: „So wie der Tanzmeister und Fecht¬ meister nicht von der Anatomie der Beine und Hände anfangen, so läßt sich gesunde, brauchbare Philosophie auch viel höher, als jene Grübeleien, anfangen. Der Fuß muß so gestellt werden, denn sonst würde man fallen, und, dieses muß man glauben, denn es wäre absurd, es nicht zu glauben — sind sehr gute Fundamente." Mit großer Achtung spricht er von der Mathematik, weil man bei ihr am meisten vor dem Jndifferentismus geschützt und ihre Evidenz irr Vergleich zu der Physik und Biologie größer ist. In einem seiner witzigen Aufsätze, der heute noch zeitgemäß ist, spricht er voll Laune „von dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel-Esprit bringen kann". Der geschichtlichen Überlieferung durch das Wort stand er sehr mißtrauisch und sprachkritisch gegenüber. Er kam hierbei schon zu ähnlichen radikalen Reflexionen und Thesen über das Wesen der historischen Rekonstruktion see¬ lischer Zusammenhänge, wie sie Georg Simmel in seinen „Grundproblemen der Geschichtsphilosophie" formuliert hat. „Die Tradition nimmt etwas von jedem Munde an, durch den sie läuft, und kann endlich eine Sache so verstellen, daß sie unkenntlich wird. Es ist allemal eine Übersetzung." Lessings Grundmotiv in seinen theologischen Kämpfen: der Buchstabe ist nicht der Geist, war auch der Hauptsatz seiner Geschichtsphilosophie. In der Ethik hat Lichtenberg sich zum „geläuterten Spinozismus" bekannt. Einmal zog ihn Spinozas Versuch an, eine Gesetzmäßigkeit im Weltall nach¬ zuweisen, und dann war die Ehrfurcht vor einem Größeren, wie sie aus der Ethik Spinozas so gewaltig spricht, seinem Gemüte sympathisch. Denn, obgleich er kein Freund der sentimentalen Dichterprodukte seiner Zeit war, z. B. über Goethes „Werther" ebenso urteilte wie Lessing, auch gegen religiöse Schwärmerei der Ziehen und Lavater streng genug vorging, so war er religiöser Erhebung doch wohl fähig. In den „Betrachtungen des Verfassers über sich selbst" erzählt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/562>, abgerufen am 01.07.2024.