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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über Lichtenbergs Skeptizismus

ohne mich zu stärken. -- Laß dich deine Lektüre nicht beherrschen, sondern
herrsche über sie."

Die Sprache hat er mit hoher Meisterschaft gehandhabt und fortgebildet;
selbst Schopenhauer hat auf die philosophische Ausdrucksweise nicht den Einfluß
wie er gehabt. Er bemühte sich immer, möglichst anschaulich zu schreiben, denn
er wußte zu gut, daß es ein Entwicklungsgesetz der Sprache ist, durch Aufnahme
immer neuer Abstrakt" an Kraft und augenblicklicher Wirkung zu verlieren. Der
Kunstform des Aphorismus, die er besonders bei Rochefoucauld bewundert zu haben
scheint, gab er neue Reize, ohne sie jedoch, wie oft Nietzsche, lediglich ihres
Klanges wegen zu bilden.

Der Aphorismus ist die beliebte Form intuitiver Denkens. Auch bei
Lichtenberg tritt das intuitive Denken in den Vordergrund, aber sein Denken als
Ganzes ist keineswegs aphoristisch geblieben. Seine einzelnen Gedanken kommen
alle aus einem fühlbaren Zusammenhang. Jedes Aper?u steigt ohne Frage dem
Denker einzeln ins Bewußtsein, aber es steht doch mit einem Zusammen geistiger
Elemente (in der anderen Sphäre, kann man sagen) in Verbindung, das sich
der Analyse entzieht. Jede Analyse setzt eine Synthese voraus. Hier ist für
uns alles dunkel. Lichtenberg deutet wohl auf diese Stelle hin, wenn er einmal
sagt: "Ich glaube, daß der Instinkt dem geschlossenen Urteil vorgreift." Er
wußte aber wohl, daß es bewußter synthetischer Vorarbeiten bedarf, wenn jenes
innere Gerüst sich bilden soll, das Erfahrungen in sich aufnehmen kann.
Lichtenbergs Denken war konstruktiv im strengsten Sinne, und wenn er an einer
anderen Stelle rät, immer so zu lernen, daß man das Gelernte irgendwo
anhängen könne, da es sich sonst bald wieder verliere, so beweist das, wie sehr
es ihn: auf den Zusammenhang ankam. Wie unser Denken jenen Zusammen¬
hang erhält, auf dessen Vorhandensein das, was wir im genauen Sinne Stil
nennen, beruht, wird kaum jemals erklärt werden können, ebensowenig, wie es
kommt, daß alltäglich Worte im Munde starker Denker und Dichter wieder neue
Kraft gewinnen. Allein es läßt sich nicht bestreiten, daß all das Wirkungen
von bewußt-unbewußten Tätigkeiten des betreffenden Denkers sind; Lichtenberg
hat sie wohl im Auge, wenn er sagt, er wisse von: Besten nicht, wie es ihm
zukomme.

Seine Apercus bringt er meistens in fein geschliffene Satzgebilde, aber der
Aphorismus war ihm nicht Selbstzweck. Jeder einzelne Gedanke deutet auf
einen übergeordneten, umfassenderen, und er kommt erst zur vollen Wirkung,
wenn man die Grundthesen seiner Weltanschauung gewahr wird, die die Einzel¬
äußerungen stützen, ihnen zugrunde liegen. Wie Lichtenberg über die geistreichen
Aphoristen dachte, zeigt seine folgende Bemerkung: "In den Schriften berühmter
Schriftsteller, aber mittelmäßiger Köpfe findet man immer höchstens das, was
sie einem zeigen wollen, hingegen sieht man in den Schriften des systematischen
Denkers, der alles mit seinem Geiste umfaßt, immer das Ganze und wie jedes
zusammenhängt." Nur ein Denker, der einen so reichen, gut verarbeiteten und


Über Lichtenbergs Skeptizismus

ohne mich zu stärken. — Laß dich deine Lektüre nicht beherrschen, sondern
herrsche über sie."

Die Sprache hat er mit hoher Meisterschaft gehandhabt und fortgebildet;
selbst Schopenhauer hat auf die philosophische Ausdrucksweise nicht den Einfluß
wie er gehabt. Er bemühte sich immer, möglichst anschaulich zu schreiben, denn
er wußte zu gut, daß es ein Entwicklungsgesetz der Sprache ist, durch Aufnahme
immer neuer Abstrakt« an Kraft und augenblicklicher Wirkung zu verlieren. Der
Kunstform des Aphorismus, die er besonders bei Rochefoucauld bewundert zu haben
scheint, gab er neue Reize, ohne sie jedoch, wie oft Nietzsche, lediglich ihres
Klanges wegen zu bilden.

Der Aphorismus ist die beliebte Form intuitiver Denkens. Auch bei
Lichtenberg tritt das intuitive Denken in den Vordergrund, aber sein Denken als
Ganzes ist keineswegs aphoristisch geblieben. Seine einzelnen Gedanken kommen
alle aus einem fühlbaren Zusammenhang. Jedes Aper?u steigt ohne Frage dem
Denker einzeln ins Bewußtsein, aber es steht doch mit einem Zusammen geistiger
Elemente (in der anderen Sphäre, kann man sagen) in Verbindung, das sich
der Analyse entzieht. Jede Analyse setzt eine Synthese voraus. Hier ist für
uns alles dunkel. Lichtenberg deutet wohl auf diese Stelle hin, wenn er einmal
sagt: „Ich glaube, daß der Instinkt dem geschlossenen Urteil vorgreift." Er
wußte aber wohl, daß es bewußter synthetischer Vorarbeiten bedarf, wenn jenes
innere Gerüst sich bilden soll, das Erfahrungen in sich aufnehmen kann.
Lichtenbergs Denken war konstruktiv im strengsten Sinne, und wenn er an einer
anderen Stelle rät, immer so zu lernen, daß man das Gelernte irgendwo
anhängen könne, da es sich sonst bald wieder verliere, so beweist das, wie sehr
es ihn: auf den Zusammenhang ankam. Wie unser Denken jenen Zusammen¬
hang erhält, auf dessen Vorhandensein das, was wir im genauen Sinne Stil
nennen, beruht, wird kaum jemals erklärt werden können, ebensowenig, wie es
kommt, daß alltäglich Worte im Munde starker Denker und Dichter wieder neue
Kraft gewinnen. Allein es läßt sich nicht bestreiten, daß all das Wirkungen
von bewußt-unbewußten Tätigkeiten des betreffenden Denkers sind; Lichtenberg
hat sie wohl im Auge, wenn er sagt, er wisse von: Besten nicht, wie es ihm
zukomme.

Seine Apercus bringt er meistens in fein geschliffene Satzgebilde, aber der
Aphorismus war ihm nicht Selbstzweck. Jeder einzelne Gedanke deutet auf
einen übergeordneten, umfassenderen, und er kommt erst zur vollen Wirkung,
wenn man die Grundthesen seiner Weltanschauung gewahr wird, die die Einzel¬
äußerungen stützen, ihnen zugrunde liegen. Wie Lichtenberg über die geistreichen
Aphoristen dachte, zeigt seine folgende Bemerkung: „In den Schriften berühmter
Schriftsteller, aber mittelmäßiger Köpfe findet man immer höchstens das, was
sie einem zeigen wollen, hingegen sieht man in den Schriften des systematischen
Denkers, der alles mit seinem Geiste umfaßt, immer das Ganze und wie jedes
zusammenhängt." Nur ein Denker, der einen so reichen, gut verarbeiteten und


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[0564] Über Lichtenbergs Skeptizismus ohne mich zu stärken. — Laß dich deine Lektüre nicht beherrschen, sondern herrsche über sie." Die Sprache hat er mit hoher Meisterschaft gehandhabt und fortgebildet; selbst Schopenhauer hat auf die philosophische Ausdrucksweise nicht den Einfluß wie er gehabt. Er bemühte sich immer, möglichst anschaulich zu schreiben, denn er wußte zu gut, daß es ein Entwicklungsgesetz der Sprache ist, durch Aufnahme immer neuer Abstrakt« an Kraft und augenblicklicher Wirkung zu verlieren. Der Kunstform des Aphorismus, die er besonders bei Rochefoucauld bewundert zu haben scheint, gab er neue Reize, ohne sie jedoch, wie oft Nietzsche, lediglich ihres Klanges wegen zu bilden. Der Aphorismus ist die beliebte Form intuitiver Denkens. Auch bei Lichtenberg tritt das intuitive Denken in den Vordergrund, aber sein Denken als Ganzes ist keineswegs aphoristisch geblieben. Seine einzelnen Gedanken kommen alle aus einem fühlbaren Zusammenhang. Jedes Aper?u steigt ohne Frage dem Denker einzeln ins Bewußtsein, aber es steht doch mit einem Zusammen geistiger Elemente (in der anderen Sphäre, kann man sagen) in Verbindung, das sich der Analyse entzieht. Jede Analyse setzt eine Synthese voraus. Hier ist für uns alles dunkel. Lichtenberg deutet wohl auf diese Stelle hin, wenn er einmal sagt: „Ich glaube, daß der Instinkt dem geschlossenen Urteil vorgreift." Er wußte aber wohl, daß es bewußter synthetischer Vorarbeiten bedarf, wenn jenes innere Gerüst sich bilden soll, das Erfahrungen in sich aufnehmen kann. Lichtenbergs Denken war konstruktiv im strengsten Sinne, und wenn er an einer anderen Stelle rät, immer so zu lernen, daß man das Gelernte irgendwo anhängen könne, da es sich sonst bald wieder verliere, so beweist das, wie sehr es ihn: auf den Zusammenhang ankam. Wie unser Denken jenen Zusammen¬ hang erhält, auf dessen Vorhandensein das, was wir im genauen Sinne Stil nennen, beruht, wird kaum jemals erklärt werden können, ebensowenig, wie es kommt, daß alltäglich Worte im Munde starker Denker und Dichter wieder neue Kraft gewinnen. Allein es läßt sich nicht bestreiten, daß all das Wirkungen von bewußt-unbewußten Tätigkeiten des betreffenden Denkers sind; Lichtenberg hat sie wohl im Auge, wenn er sagt, er wisse von: Besten nicht, wie es ihm zukomme. Seine Apercus bringt er meistens in fein geschliffene Satzgebilde, aber der Aphorismus war ihm nicht Selbstzweck. Jeder einzelne Gedanke deutet auf einen übergeordneten, umfassenderen, und er kommt erst zur vollen Wirkung, wenn man die Grundthesen seiner Weltanschauung gewahr wird, die die Einzel¬ äußerungen stützen, ihnen zugrunde liegen. Wie Lichtenberg über die geistreichen Aphoristen dachte, zeigt seine folgende Bemerkung: „In den Schriften berühmter Schriftsteller, aber mittelmäßiger Köpfe findet man immer höchstens das, was sie einem zeigen wollen, hingegen sieht man in den Schriften des systematischen Denkers, der alles mit seinem Geiste umfaßt, immer das Ganze und wie jedes zusammenhängt." Nur ein Denker, der einen so reichen, gut verarbeiteten und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/564>, abgerufen am 01.07.2024.