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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Subjekt zu kultivieren und zu disziplinieren, ohne es aus seinen Grenzen zu
treiben. "Eine genaue Betrachtung der äußeren Dinge führt leicht auf den
betrachtenden Punkt, uns selbst, zurück und umgekehrt, wer sich einmal erst recht
gewahr wird, gerät leicht auf die Betrachtung der Dinge um ihn. Sei auf¬
merksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche -- das ist das ganze
Gesetz der Philosophie."

Weil ihn diese Einsicht, daß wir mit unseren Scheinen die Welt nicht
umspannen können, daß bei einer noch so tiefsinnig scheinenden Äußerung eines
Philosophieprofessors sich bei gründlicher Prüfung allemal beschränkt menschliche
Maße Heransstellen, die eine schöne Metapher vielleicht verdeckt, -- weil Lichten-
berg das bekümmerte, nennt man ihn einen Skeptiker und seine Anschauung
Skeptizismus.

Es gibt anarchischen und rationellen Skeptizismus; dieser verhält sich nur
mißtrauisch und abwartend gegenüber allen "absoluten", positiven Behauptungen,
glaubt aber doch an die Möglichkeit aufbauenden Denkens, jener hat diesen
Glauben nicht, er führt mit Notwendigkeit zum Nihilismus, der, wenn er kon¬
sequent gedacht und ausgesprochen ist, im letzten Grunde das peinliche Bekenntnis
enthält, daß der von ihm Besessene nicht fähig sei, seine innere Welt so zu
ordnen, daß er selbst Vertrauen dazu haben könnte. Diese Skeptiker sind mit
Mephisto den "Söhnen des Chaos" zuzurechnen. Kant nennt sie unwillig
"Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen". Bei ihnen
ist der Zweifel eine Krankheit der Milz, er wirkt wie eine Säure, die allen
Grund und Boden zerfrißt, bis der Mensch in sich zusammenfällt.

Anders bei Lichtenberg: er besaß jenen Skeptizismus, von dem Jakob
Burckhardt in seinen "weltgeschichtlichen Betrachtungen" sagt, man könne nicht
genug davon haben. Ihm war wie Descartes der Zweifel nur eine Methode
und ein Gegengift gegen Überhebung und Unduldsamkeit und das "<)ne 8g,l8-je?"
des Montaigne keine müde, sondern eine lebendige Frage.

Das Fragen war Lichtenbergs ganze Lust; mit der Neugierde und gespannten
Aufmerksamkeit eines Chemikers, der die Wirkung seiner Reagenzien erwartet,
horcht er in sich hinein, wie sein Geist auf die voraussetzungslosen, von ein¬
fachsten Dingen und Worten anhebenden Fragen antwortet, um ihn dann aufs
neue in Bewegung zu bringen. Er wußte mit Sokrates, daß das Fragenkönnen
die unerläßliche Voraussetzung alles geistigen Bittens ist und daß ebenso eine
einmal gegebene Antwort oft für lange Jahre das Auffinden eines doch zugrunde
liegenden Irrtums verhindern kann. Deshalb stellt er gern alles wieder in
Frage und meint: "Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für aus¬
gemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden"; und eine andere
Stelle heißt: "Dem großen Genie füllt überall ein: könnte dieses nicht auch
falsch sein?"

Lichtenbergs Skeptizismus war im besten Sinne germanisch, er machte ihn
hart und tätig (wie es z. B. Friedrich der Große durch ihn wurde), er gab


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Subjekt zu kultivieren und zu disziplinieren, ohne es aus seinen Grenzen zu
treiben. „Eine genaue Betrachtung der äußeren Dinge führt leicht auf den
betrachtenden Punkt, uns selbst, zurück und umgekehrt, wer sich einmal erst recht
gewahr wird, gerät leicht auf die Betrachtung der Dinge um ihn. Sei auf¬
merksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche — das ist das ganze
Gesetz der Philosophie."

Weil ihn diese Einsicht, daß wir mit unseren Scheinen die Welt nicht
umspannen können, daß bei einer noch so tiefsinnig scheinenden Äußerung eines
Philosophieprofessors sich bei gründlicher Prüfung allemal beschränkt menschliche
Maße Heransstellen, die eine schöne Metapher vielleicht verdeckt, — weil Lichten-
berg das bekümmerte, nennt man ihn einen Skeptiker und seine Anschauung
Skeptizismus.

Es gibt anarchischen und rationellen Skeptizismus; dieser verhält sich nur
mißtrauisch und abwartend gegenüber allen „absoluten", positiven Behauptungen,
glaubt aber doch an die Möglichkeit aufbauenden Denkens, jener hat diesen
Glauben nicht, er führt mit Notwendigkeit zum Nihilismus, der, wenn er kon¬
sequent gedacht und ausgesprochen ist, im letzten Grunde das peinliche Bekenntnis
enthält, daß der von ihm Besessene nicht fähig sei, seine innere Welt so zu
ordnen, daß er selbst Vertrauen dazu haben könnte. Diese Skeptiker sind mit
Mephisto den „Söhnen des Chaos" zuzurechnen. Kant nennt sie unwillig
„Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen". Bei ihnen
ist der Zweifel eine Krankheit der Milz, er wirkt wie eine Säure, die allen
Grund und Boden zerfrißt, bis der Mensch in sich zusammenfällt.

Anders bei Lichtenberg: er besaß jenen Skeptizismus, von dem Jakob
Burckhardt in seinen „weltgeschichtlichen Betrachtungen" sagt, man könne nicht
genug davon haben. Ihm war wie Descartes der Zweifel nur eine Methode
und ein Gegengift gegen Überhebung und Unduldsamkeit und das „<)ne 8g,l8-je?"
des Montaigne keine müde, sondern eine lebendige Frage.

Das Fragen war Lichtenbergs ganze Lust; mit der Neugierde und gespannten
Aufmerksamkeit eines Chemikers, der die Wirkung seiner Reagenzien erwartet,
horcht er in sich hinein, wie sein Geist auf die voraussetzungslosen, von ein¬
fachsten Dingen und Worten anhebenden Fragen antwortet, um ihn dann aufs
neue in Bewegung zu bringen. Er wußte mit Sokrates, daß das Fragenkönnen
die unerläßliche Voraussetzung alles geistigen Bittens ist und daß ebenso eine
einmal gegebene Antwort oft für lange Jahre das Auffinden eines doch zugrunde
liegenden Irrtums verhindern kann. Deshalb stellt er gern alles wieder in
Frage und meint: „Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für aus¬
gemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu werden"; und eine andere
Stelle heißt: „Dem großen Genie füllt überall ein: könnte dieses nicht auch
falsch sein?"

Lichtenbergs Skeptizismus war im besten Sinne germanisch, er machte ihn
hart und tätig (wie es z. B. Friedrich der Große durch ihn wurde), er gab


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/561>, abgerufen am 01.07.2024.