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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über Lichtenbergs Skeptizismus

verwöhnten Menschen heute fesseln, manches darin ist für unsere Art zu denken
und zu urteilen noch so zutreffend und fördernd, daß es in dem Feuilleton
einer Tageszeitung wieder abgedruckt werden könnte, soweit es sich über
allgemeine Gegenstände verbreitet. Man könnte bedauern, daß es Lichtenberg
nicht mehr möglich ist, unsere Parlamentsverhandlungen mit seiner scharfen
Feder zu glossieren.

Lichtenberg war seiner Zeit weit voraus und deshalb steht er uns noch so
nahe. Was ihn dein modernen Menschen so sympathisch macht, ist seine Sach¬
lichkeit und Resignation, seine Unerschrockenheit in der Untersuchung irgendeines
Problems und seine Distanz zu den Dingen. Mit einer unvergleichlichen Aus¬
drucksfähigkeit begabt, steht er auch Nietzsche an Kühnheit der Fragestellung
nicht nach, ja, er geht oft weiter und verfolgt einen Gedanken hartnäckiger.
Aber eines ist hierbei wichtig und unterscheidend: er überschätzt sein Räsonnement
selbst nicht und flößt dadurch ganz besonderes Vertrauen ein.

Historisch gehört Lichtenberg noch zu der Epoche der Aufklärung, der Ver¬
standeskultur, und vieles war in seinem Wesen, was dieser entgegenkam (er
starb 1799). Die großen dogmatischen Denk- und Weltdeutungs-Systeme von
Descartes, Spinoza und Leibniz haben auf ihn gewirkt, wie auch besonders die
Lehren Newtons. Aber schon die optimistische Weltformel Leibnizens durch¬
schaute er in ihrer Schwäche und seine Schriften beweisen klar, daß er jene
Tyrannei des Verstandes nicht anerkannt hat, welche endgültig zu stürzen Kants
große Aufgabe war. Wohl schätzte er "gesunden Menschenverstand" und nahm
ihn oft genug gegen die "Propheten des achtzehnten Jahrhunderts" und gegen
die Schriftsteller und Odendichter "mit Engelzungen" in Schutz. Allein er war
weit davon entfernt, in ihm einen göttlichen, alles umfassenden Beherrscher zu
sehen, dem er das Ganze seiner Weltanschauung zu unterstellen habe und brauche.
Sein Geist sah im Weltprozeß neben dem Rationellen das Irrationelle, und es
war ihm nicht damit gedient, wenn man diese Lücken mit Sätzen verstopfte, die
sich später als Phrasen herausstellen mußten. Ju der Beurteilung des Leibnizschen
Satzes, die Welt sei "die beste der möglichen Welten", möchte er Voltaire näher
gestanden haben, als dein Verfasser der "Theodicee" lieb gewesen wäre. In
dem Kampf gegen die Anmaßungen wissenschaftlicher und religiöser Orthodoxie
war er Lessings Nebenmann.

Daß er die "Aufklärung" für sich überwunden hatte, beweist nichts deutlicher
als die Tatsache, daß er Kants revolutionäre Lehren erstaunlich rein und vollständig
aufnahm; seine Schriften enthalten bereits alle Keime einer "kritischen Philosophie"
in seinem Gehirn fanden sich für die grundlegenden Gedanken Kants schon Auf¬
nahmeformen vor. Herder z. B. hat sich in die Umkehrung der Methode alles
Philosophierens weit schwerer hineingewöhnen können und auf seine "Metakritik der
reinen Vernunft" hätte schon Lichtenberg für Kant gewiß manches zu erwidern gehabt.

Für die Kantsche "Kritik der reinen Vernunft" muß man wohl geboren
sein, oder sie verfehlt ihre Wirkung auf einen. Lichtenberg war für sie geboren,


Über Lichtenbergs Skeptizismus

verwöhnten Menschen heute fesseln, manches darin ist für unsere Art zu denken
und zu urteilen noch so zutreffend und fördernd, daß es in dem Feuilleton
einer Tageszeitung wieder abgedruckt werden könnte, soweit es sich über
allgemeine Gegenstände verbreitet. Man könnte bedauern, daß es Lichtenberg
nicht mehr möglich ist, unsere Parlamentsverhandlungen mit seiner scharfen
Feder zu glossieren.

Lichtenberg war seiner Zeit weit voraus und deshalb steht er uns noch so
nahe. Was ihn dein modernen Menschen so sympathisch macht, ist seine Sach¬
lichkeit und Resignation, seine Unerschrockenheit in der Untersuchung irgendeines
Problems und seine Distanz zu den Dingen. Mit einer unvergleichlichen Aus¬
drucksfähigkeit begabt, steht er auch Nietzsche an Kühnheit der Fragestellung
nicht nach, ja, er geht oft weiter und verfolgt einen Gedanken hartnäckiger.
Aber eines ist hierbei wichtig und unterscheidend: er überschätzt sein Räsonnement
selbst nicht und flößt dadurch ganz besonderes Vertrauen ein.

Historisch gehört Lichtenberg noch zu der Epoche der Aufklärung, der Ver¬
standeskultur, und vieles war in seinem Wesen, was dieser entgegenkam (er
starb 1799). Die großen dogmatischen Denk- und Weltdeutungs-Systeme von
Descartes, Spinoza und Leibniz haben auf ihn gewirkt, wie auch besonders die
Lehren Newtons. Aber schon die optimistische Weltformel Leibnizens durch¬
schaute er in ihrer Schwäche und seine Schriften beweisen klar, daß er jene
Tyrannei des Verstandes nicht anerkannt hat, welche endgültig zu stürzen Kants
große Aufgabe war. Wohl schätzte er „gesunden Menschenverstand" und nahm
ihn oft genug gegen die „Propheten des achtzehnten Jahrhunderts" und gegen
die Schriftsteller und Odendichter „mit Engelzungen" in Schutz. Allein er war
weit davon entfernt, in ihm einen göttlichen, alles umfassenden Beherrscher zu
sehen, dem er das Ganze seiner Weltanschauung zu unterstellen habe und brauche.
Sein Geist sah im Weltprozeß neben dem Rationellen das Irrationelle, und es
war ihm nicht damit gedient, wenn man diese Lücken mit Sätzen verstopfte, die
sich später als Phrasen herausstellen mußten. Ju der Beurteilung des Leibnizschen
Satzes, die Welt sei „die beste der möglichen Welten", möchte er Voltaire näher
gestanden haben, als dein Verfasser der „Theodicee" lieb gewesen wäre. In
dem Kampf gegen die Anmaßungen wissenschaftlicher und religiöser Orthodoxie
war er Lessings Nebenmann.

Daß er die „Aufklärung" für sich überwunden hatte, beweist nichts deutlicher
als die Tatsache, daß er Kants revolutionäre Lehren erstaunlich rein und vollständig
aufnahm; seine Schriften enthalten bereits alle Keime einer „kritischen Philosophie"
in seinem Gehirn fanden sich für die grundlegenden Gedanken Kants schon Auf¬
nahmeformen vor. Herder z. B. hat sich in die Umkehrung der Methode alles
Philosophierens weit schwerer hineingewöhnen können und auf seine „Metakritik der
reinen Vernunft" hätte schon Lichtenberg für Kant gewiß manches zu erwidern gehabt.

Für die Kantsche „Kritik der reinen Vernunft" muß man wohl geboren
sein, oder sie verfehlt ihre Wirkung auf einen. Lichtenberg war für sie geboren,


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[0559] Über Lichtenbergs Skeptizismus verwöhnten Menschen heute fesseln, manches darin ist für unsere Art zu denken und zu urteilen noch so zutreffend und fördernd, daß es in dem Feuilleton einer Tageszeitung wieder abgedruckt werden könnte, soweit es sich über allgemeine Gegenstände verbreitet. Man könnte bedauern, daß es Lichtenberg nicht mehr möglich ist, unsere Parlamentsverhandlungen mit seiner scharfen Feder zu glossieren. Lichtenberg war seiner Zeit weit voraus und deshalb steht er uns noch so nahe. Was ihn dein modernen Menschen so sympathisch macht, ist seine Sach¬ lichkeit und Resignation, seine Unerschrockenheit in der Untersuchung irgendeines Problems und seine Distanz zu den Dingen. Mit einer unvergleichlichen Aus¬ drucksfähigkeit begabt, steht er auch Nietzsche an Kühnheit der Fragestellung nicht nach, ja, er geht oft weiter und verfolgt einen Gedanken hartnäckiger. Aber eines ist hierbei wichtig und unterscheidend: er überschätzt sein Räsonnement selbst nicht und flößt dadurch ganz besonderes Vertrauen ein. Historisch gehört Lichtenberg noch zu der Epoche der Aufklärung, der Ver¬ standeskultur, und vieles war in seinem Wesen, was dieser entgegenkam (er starb 1799). Die großen dogmatischen Denk- und Weltdeutungs-Systeme von Descartes, Spinoza und Leibniz haben auf ihn gewirkt, wie auch besonders die Lehren Newtons. Aber schon die optimistische Weltformel Leibnizens durch¬ schaute er in ihrer Schwäche und seine Schriften beweisen klar, daß er jene Tyrannei des Verstandes nicht anerkannt hat, welche endgültig zu stürzen Kants große Aufgabe war. Wohl schätzte er „gesunden Menschenverstand" und nahm ihn oft genug gegen die „Propheten des achtzehnten Jahrhunderts" und gegen die Schriftsteller und Odendichter „mit Engelzungen" in Schutz. Allein er war weit davon entfernt, in ihm einen göttlichen, alles umfassenden Beherrscher zu sehen, dem er das Ganze seiner Weltanschauung zu unterstellen habe und brauche. Sein Geist sah im Weltprozeß neben dem Rationellen das Irrationelle, und es war ihm nicht damit gedient, wenn man diese Lücken mit Sätzen verstopfte, die sich später als Phrasen herausstellen mußten. Ju der Beurteilung des Leibnizschen Satzes, die Welt sei „die beste der möglichen Welten", möchte er Voltaire näher gestanden haben, als dein Verfasser der „Theodicee" lieb gewesen wäre. In dem Kampf gegen die Anmaßungen wissenschaftlicher und religiöser Orthodoxie war er Lessings Nebenmann. Daß er die „Aufklärung" für sich überwunden hatte, beweist nichts deutlicher als die Tatsache, daß er Kants revolutionäre Lehren erstaunlich rein und vollständig aufnahm; seine Schriften enthalten bereits alle Keime einer „kritischen Philosophie" in seinem Gehirn fanden sich für die grundlegenden Gedanken Kants schon Auf¬ nahmeformen vor. Herder z. B. hat sich in die Umkehrung der Methode alles Philosophierens weit schwerer hineingewöhnen können und auf seine „Metakritik der reinen Vernunft" hätte schon Lichtenberg für Kant gewiß manches zu erwidern gehabt. Für die Kantsche „Kritik der reinen Vernunft" muß man wohl geboren sein, oder sie verfehlt ihre Wirkung auf einen. Lichtenberg war für sie geboren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/559>, abgerufen am 01.07.2024.